Materialien 1962
Schwabinger Nächte ‘62
Über einen vergessenen Aufbruch in die Revolte
Was aus der eigenen Geschichte ist wichtig genug erinnert, an andere weitergereicht zu werden? Kann ein derartiger Versuch mehr sein als die Weitergabe von Anekdoten, die andere gelangweilt, belustigt, selten nur interessiert zur Kenntnis nehmen? An deren Ende aber schließlich doch alle weitermachen, wie sie’s sowieso vorhatten? Haben wir denn selbst aus der Geschichte anderer zu lernen versucht oder nicht störrisch darauf beharrt, unsere eigene Geschichte zu machen? Welchen Sinn hat es, die Vorgeschichte der Revolte von ‘68 anzugehen, wenn nicht einmal klar ist, was uns jenes schillernde Jahr ‘68 bedeutet? Dieser Beitrag geht den entgegengesetzten Weg: er versucht — unter Hintanstellung all jener Fragen — direkt in ein Stück vergessener Geschichte einzudringen. Was dabei für uns heute herauskommt? Wer neugierig ist, der lese weiter.
Auf der Leopoldstraße zwischen Siegestor und Münchner Freiheit drängen sich in dieser warmen Sommernacht die Menschen. Die Autos fahren im Schrittempo. Vor wenigen Tagen erst hat sich die Isar-Metropole mit dem Werbe-Slogan „Weltstadt mit Herz“ geschmückt. Es ist der 21. Juni 1962. Fronleichnam — ein bayrischer Feiertag. Vor dem „Schwabinger Nest“ ist das Gedränge besonders dicht. Es geht auf 23 Uhr zu.
Ich bleibe stehen wie viele andere — immer auf der Suche nach dem Außergewöhnlichen, dem Aufregenden. Allzu aufregend aber ist das Studentenleben in der sich mästenden Republik zumeist nicht. Nicht einmal in Schwabing. Auch meines nicht — bestimmt von einem mich anödenden Lehrerstudium, das ich nur deshalb noch nicht abgebrochen habe, weil ich nicht weiß, was ich stattdessen machen soll. Ruhelos bin ich auf der Suche nach einem erfüllten Leben und werde doch immer wieder zurückgeworfen auf die eigenen Unzulänglichkeit und die Borniertheiten dieser Gesellschaft.
So satt, so fest, so unaufbrechbar präsentiert sich dieses System, dass mir selten etwas anderes als die Flucht in die Ferne einfällt. Wahrscheinlich geht es vielen ähnlich — doch gesprochen wird darüber nicht. Wir tragen undurchdringliche Masken, halten auf Distanz — Studenten siezen sich. Die eigene Person ist noch kein Thema, nur verstecktes, privatisiertes Leiden.
Ich will eure Sicherheit nicht
Ich bin 22. Meinen 23. Geburtstag werde ich in wenigen Tagen mit einem künftigen Spurt vor den Gummiknüppeln erreichen — doch davon ahne ich jetzt noch nichts.
Ich bin aus einer norddeutschen Kleinstadt nach München gekommen, in einer Beamtenfamilie aufgewachsen, habe 13 Jahre Schule und ein Jahr Bundeswehr hinter mir und ein Studium begonnen, um in die Fußstapfen meines Vaters zu treten. Beamter zu werden, das sei eine sichere Sache, wird mir auf den Weg mitgegeben. So viel Sicherheit gebe es nirgendwo — nur beim Staat.
Aber immer deutlicher wird mir: ich will diese Sicherheit nicht. Ich will die Verunsicherung, möchte Neuland betreten, suche das Abenteuer, das Unbekannte, das Wagnis. Mein Leben soll nicht von meinen Eltern vorherbestimmt sein.
Doch der Ausbruch fällt schwer in jenen Jahren: es gibt keine gelebten Erfahrungen, keine praktischen Beispiele, keine den Suchenden aufnehmenden Diskussions- und Lebenszusammenhänge, wie sie wenige Jahre später alltäglich sein werden — zumindest kenne ich keine.
Ein Student lebt noch zur Untermiete bei einer älteren Dame, nicht in WGs. Von sexueller Emanzipation ist noch nicht die Rede — die Freundinnen, die man hat, möchten heiraten, zumindest eine feste Zusage auf die Zukunft. Daran scheitert so manche Beziehung: ich will mich nicht festlegen — „fesseln“ lassen, wie ich das nenne.
Ich fühle mich allein unterwegs, doch Ereignisse wie die an jenem 21. Juni einsetzenden lassen mich ahnen, dass ich vielleicht doch so allein nicht bin.
Die Ordnung stören
Ich schiebe mich in die erregte Menschenmenge vor dem „Schwabinger Nest“. Bruchstückhaft erfahre ich, was passiert ist: drei Gitarrenspieler seien von der Straße weg verhaftet worden, das sei eine Sauerei, eines Polizeistaats würdig.
Ich treibe mit der anwachsenden Menge zurück auf die Straße. Der Autoverkehr kommt ins Stocken, die Trambahnen — damals fährt noch keine U-Bahn unter der Leopoldstraße — bleiben stecken. Plötzlich gehört die Straße uns — zum Spaziergehen und zum Stehenbleiben, zum Reden und zum Sitzen, zum Essen und zum Trinken, zum Lachen und zum Knutschen.
Spontan und unorganisiert ergreift das, was sich die Presse am nächsten Tag als Rowdies, Rabauken, Gröler, Krawallmacher, Verbrecher und Halbstarkenblase vornehmen wird, von der Straße Besitz. Kaum einer hat so etwas schon einmal getan. Es ist eine erregend neue Erfahrung: Verbotenes zu tun, die Ordnung zu stören, das Alltägliche einmal nicht zur Alltäglichkeit werden zu lassen — und sich dazu sogar moralisch legitimiert zu fühlen.
Da ist die Lust, die Staatsmacht herauszufordern — denen endlich zu zeigen, dass da noch was ganz anderes in einem steckt, als das gebügelte Hosen, Krawatten über weißem Hemd, glattrasierter Bart und kurzes Haar vermuten lassen. Es ist nicht nur Empörung, die die Menschen auf die Straße treibt. Es ist auch die Lust, sich selbst einmal jenseits der so eng gesteckten Normen und Schranken dieser Gesellschaft zu erfahren — und sei es auch nur für einen Moment und mag die Strafe für viele auch schmerzhaft werden: einmal in Schwabing nicht nur sein Eis im „Rialto“ schlecken oder sein Bier im „Leopold“ in sich reinschütten, sondern mitmischen, wenn die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden.
Und schon damals kommt es, wie es kommen muss. Irgendwann sind sie da, wenn auch weniger hochgerüstet als heute: in Ausgehuniform und kurzen Gummiknüppeln und mit Mütze auf dem Kopf statt mit Helm, Schild, Kampfanzug, langen Totschlägern, Tränengasgranaten und riesigen Wasserwerfern. Doch krankenhausreif werden die Leute auch schon mit kurzen Gummiknüppeln geschlagen — Beteiligte wie Unbeteiligte. Nur dass sich über Letzteres die Öffentlichkeit noch empört und heute jeder weiß, ob beteiligt oder nicht, wann die Zeit zum Abtauchen gekommen ist — zumindest in Städten wie Frankfurt.
Auch schon damals erreicht die Polizei durch ihr Vorgehen, was sie angeblich zu verhindern versucht: dass die Empörung um sich greift, Tausende sich zu solidarisieren und mitzumischen beginnen — auf dem Höhepunkt werden es mehr als Zehntausend sein (eine erstaunliche Zahl für damalige Verhältnisse), bis nach fast einer Woche nächtlicher Straßenkämpfe der Widerstand sich zersplittert, Hunderte verletzt oder verhaftet sind, Angst und Resignation um sich greifen, die Straße den Polizeitruppen gehört und schließlich die Schwabinger Normalität wieder hergestellt ist.
Dennoch — damals herrscht Aufbruchstimmung, keine Endzeitstimmung wie heute. Die Leute beginnen zu lernen — und zu hoffen. Inzwischen haben sie ihre Lektion gelernt — und allzu oft das Hoffen verlernt. Dass dennoch auch heute so viele dabei sind, ist das eigentlich Erstaunliche. Doch vielleicht mobilisiert auch die Hoffnungslosigkeit. „No future“ als Motor der Bewegung?
Der Tanz der Gummiknüppel
Gelernt hat damals aber auch die Gegenseite. Am ersten Abend überließ sie — unvorbereitet und überrascht — die Straße den Demonstranten, bis sie — spät erst und chaotisch – dazwischenschlug. Am zweiten Abend kam sie bereits hoch zu Ross daher und drosch auf die Leute ein wie einst des Zaren Kosaken — furchterregend und lächerlich zugleich. Aber auch das gab es: durch brennende Zeitungen erschreckte Polizeirösser ergriffen die Flucht.
Auf spektakuläre Weise eskalierte so die Polizei — unter Verantwortung des damaligen Münchner Oberbürgermeisters und heutigen SPD-Fraktionsvorsitzenden Jochen Vogel — die Geschehnisse. Dass es dabei Unbeteiligte erwischte — Diplomaten im Cafe, Fotografen und Reporter, von der Weltstadt mit Herz angezogene Touristen, den um Vermittlung bemühten Jugendamtsdirektor, alte Omas, die mal neugierig um die Ecke peilen wollten — das verwunderte nur damals: wo die Polizei hobelt, das weiß inzwischen jedes Kind, fallen Späne. Gegen Ende der Ereignisse bestand die Polizeistrategie dann darin, frühzeitig die gesamte Leopoldstraße abzuriegeln: die Demonstranten fanden sich zersplittert in den Nebenstraßen wieder, wurden getrennt gejagt und bekamen aus Schwabinger Nobel-Appartements auch mal einen Blumentopf oder einen Eimer Wasser oder einen Topf voll Pisse als Zugabe von oben drauf.
Da ich bereits einige Demonstrationserfahrungen hatte, mich umsichtig bewegte und auch ein wenig Glück dabei war, kam ich in jenen Tagen glimpflich davon, wenn ich auch beim Sprung über Mauern und Hecken oder beim Sprint die Straßen hinab ins Schwitzen und Schnaufen kam. Doch die Angst von heute war da noch nicht, auch wenn das, was später — von Benno Ohnesorg bis Günter Sare — geschah, als Möglichkeit schon damals angelegt war.
Für die Münchner Linke hatten diese Ereignisse bis weit in die siebziger Jahre hinein eine besondere Bedeutung. Um Ereignissen dieser Art zukünftig vorzubeugen, wurde die „Münchner Linie“ der sanften Konfliktlösung verkündet: ein Polizeipsychologe wurde angeheuert (der sich pikanterweise sogar offiziell um Aufnahme in den SDS bemühte); allzu harte Zusammenstöße wurden durch geschicktes polizeiliches Taktieren zumeist vermieden; die Münchner Linke lief mit ihren Aktionen oft ins Leere — und die Militanten setzten sich zumeist früher oder später ab und kamen im Berliner oder Frankfurter Untergrund wieder zum Vorschein.
Es war nicht der Hunger, der uns trieb
Ereignisse wie die „Schwabinger Krawalle“ waren alles andere als isolierte Ereignisse: sie waren — wie bereits die „Halbstarkenkrawalle“ der fünfziger Jahre — Ausdruck der Krisenhaftigkeit des so satt und behäbig daherstolzierenden westdeutschen Systems. Mochten sie oberflächlich auch als unpolitische Jugendrevolte erscheinen, so sollten die nächsten Jahre unübersehbar zeigen, welch politischer Sprengsatz sich dahinter verbarg.
Es war nicht der Hunger, der uns in die Revolte trieb, und auch nicht nur die Empörung. Es war die Lust auf ein anderes als ein verspießertes, vernormtes und allseitig reglementiertes Leben. Das System hat die Krise überlebt — es hat sogar überlebt, obwohl es inzwischen Millionen von Menschen selbst die Perspektive eines verspießerten, doch materiell abgesicherten Lebens genommen hat.
Damals dominierte die Hoffnung: da sind wir, schockierend und provozierend, und spielen diesem satten Land, das sein Nazi-Erbe unverarbeitet und unbewältigt, zum Teil sogar mit nicht einmal klammheimlichem Stolz, in die bürgerliche Demokratie mitgenommen hat, seine eigene Melodie vor. Und was in Schwabing geschehen war, so waren viele überzeugt, das war erst der Anfang. Beim nächsten Mal würde es um mehr als um ein paar Gitarrespieler gehen — mit diesem Gefühl verließen viele, nach fast einer Woche von Polizei und einsetzendem Regen vertrieben, die Schwabinger Szene …
Wankende Dogmen
Dabei kam das alles — zumindest für mich — nicht einmal so unerwartet und unvorbereitet: mein Lernprozess hatte bereits begonnen.
Den Winter 1961/62 hatte ich in Paris verbracht — den letzten Winter des französischen Kolonialkrieges gegen Algerien: Massendemonstrationen gegen den Krieg, Bombenattentate der rechtsextremistischen OAS (Organisation Armé Secreté), Protestaktionen in der Pariser Universität Sorbonne, der alltägliche Rassismus in den Straßen der Hauptstadt, erschütternde Berichte über Folter und Massaker der Kolonialherren — revolutionäres Bewusstsein wurde mir nicht nur über den Kopf, sondern auch auf der Straße eingetrichtert.
Im Frühjahr 1962 war ich im Nahen Osten. In Jordanien wurde ich in palästinensische Flüchtlingslager geführt und lernte dort kennen, was man uns damals hierzulande verschwieg: die andere Seite der Gründung des Staates Israel — die von zahllosen Grausamkeiten begleitete Vertreibung der Palästinenser aus ihren Territorien.
Ich kam nach Israel und begegnete — tief schockiert — Hochmut und Rassismus unter Menschen, die selbst oder deren Familien und Freunde durch die Hölle der Konzentrationslager gegangen waren und die sich hier dennoch — allen Erfahrungen zum Trotz — als neue Herren niedergelassen hatten. Gewiss, ich traf auch Israelis, die anders dachten und handelten — doch sie waren so in der Minderheit, dass ein weiteres Dogma offiziellen BRD-Denkens in mir ins Wanken geriet — das der moralischen Verpflichtung zur bedingungslosen Unterstützung des Staates Israel.
Zurück in München ging es weiter mit einem Studium, das mich langweilte und zu dem ich doch noch keine Alternative sah. Ein äußerer Zwang, vom eingeschlagenen Weg abzuweichen, bestand in jenen Jahren kapitalistischer Prosperität nicht: der Arbeitsmarkt setzte den eigenen Wünschen kaum Grenzen; eher waren es die in einem selbst angelegten Schranken. Der Bruch wurde einem nicht aufgezwungen, er musste aus einem selbst kommen.
Materielle Existenzängste kannte ich also nicht, wohl aber die Angst vor einem ungelebten Leben. So hing ich oft unbefriedigt herum, träumte vom Aufbruch, sehnte mich nach dem Außergewöhnlichen, einem anderen Leben, von dem ich nicht einmal hätte sagen können, wie ich es mir vorstellte.
Annäherungen an die Avantgarde
Das erste Mal hatte es mich 1960 zu Beginn meines Studiums zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) gezogen; doch da wurde in Formeln geredet, die mir unverständlich waren; da ging es in Worten um die Befreiung aller, und niemand interessierte sich für die Fesseln, die ich auch in mir und an mir spürte; da war ein „instinktiv“ wahrgenommener, wenn auch unbegriffener Widerspruch zwischen Worten und Taten. So zog ich mich zunächst wieder auf mich selbst zurück.
Nach den „Schwabinger Krawallen“ versuchte ich es erneut, wollte ich doch meinem Leben eine eindeutige politische Wende verpassen: erste Schulungen an Klassikertexten; verlegenes Schweigen angesichts des Erkenntnisstandes und der Formulierungskünste der Altvorderen; wieder die Erfahrung, Befreiungswissen als neues Herrschaftswissen vermittelt zu bekommen … Und doch: im Gegensatz zu 1960 war dort jetzt ein Hauch von Unruhe spürbar. Was ich erst später erfuhr: der eiserne Griff der KPD-Studentenfunktionäre hatte nicht mehr alles unter Kontrolle. Bruch und Aufbruch auch dort. Misstrauen und Ängste schwinden dennoch nur langsam …
Ich probiere es auch mal bei der „Subversiven Aktion“, die aus der Münchner Künstlergruppe Spur nach ihrem Rausschmiss aus der Situationistischen Internationale entsteht. Die „Subversive Aktion“, ein buntes Potpourri surrealistisch-anarchistischer Ideen und Provokationen, proklamiert neue Lebensformen in Kommunen, sucht bewusst den Zusammenstoß mit der bundesdeutschen Wirklichkeit und erklärt den verhassten Autoritäten des Systems den offenen Kampf.
Das alles ist voller Faszination für mich, doch der jede befreiende Eigeninitiative erdrückende revolutionäre Leistungsanspruch ist dort eher noch stärker als im SDS.
Da sitzt ein Dieter Kunzelmann, heute Abgeordneter im Berliner Abgeordnetenhaus, im verrauchten Keller und will es mit dem alten Lukacs aufnehmen; da wird von ihm und seinesgleichen mit Begriffen und Gedanken jongliert, die so ein Neuling noch nicht begreift und auf die er doch gekonnt reagieren soll; da werden Rollenspiele eingeübt — man soll im Schnellkurs lernen, mit dem Denken des Klassenfeindes umzugehen, und begreift doch noch nicht einmal, wie man selbst denkt; Autoritäten und Hierarchien bestimmen die Wirklichkeit in dieser Gruppe, die sich so anti-autoritär und anti-hierarchisch gibt; Angst bei mir und anderen ist die Folge.
So bleibe ich auch hier auf Distanz, suche nach mir weniger bedrohlich erscheinenden Wegen, um mich diesen faszinierenden neuen Denk- und Lebensformen zu nähern. Doch das ist eine andere, hier nicht zu schreibende Geschichte.
Frontenwechsel
Im Rückblick erscheinen mir jene Jahre voller Widersprüchlichkeiten und Inkonsequenzen: ich klebe am Alten und lasse mich zugleich in den Bruch treiben.
Da ist eine tiefe, schmerzhafte Sehnsucht, den eigenen Panzerungen zu entkommen, mag das, gerade was die sexuelle Befreiung anbetrifft, auch noch so angstbesetzt sein — es gibt für mich keine gelebten Erfahrungen, keine mir offenstehenden Zusammenhänge, keine kollektiven Entwicklungsversuche. Noch nicht. Sich verändern zu wollen, ist etwas Privates und Heimliches.
Leichter ist es, sich in die Schwabinger Krawallnächte zu stürzen und mitzumischen. So unbekannt ist das Territorium nicht: vom Krieg meiner Kindheit über die Kriegsspiele und Heldenvisionen späterer Jahre bis zu meinem Pfadfinderleben und dem Wehrdienst in der Bundeswehr zieht sich ein Strang männlicher Sozialisation zur Gewalt. Neu ist vor allem der Gegner, der Frontenwechsel — auf die Seite der Verteufelten, der Negation aller Werte der satten Republik.
So ist der Schritt, den ich in diesen Tagen tue, nur ein halber. Dass die Emanzipation nicht nur ein Frontenwechsel ist, sondern den Menschen in einem viel umfassenderen Sinn meint, diese Erkenntnis bleibt der Zukunft überlassen. Auch die heimliche Lust am Aufruhr wird noch nicht hinterfragt, sondern genossen.
Da wird noch nicht gefragt, was es in der eigenen Psyche und Sozialisation ist, das einen in die Konfrontation treibt, wenn es nicht (nur) Empörung und Not sind; wird noch nicht gefragt, ob sich die nicht in manchem auch ähneln, die sich da so unversöhnlich in der Straße gegenüberstehen; wird noch nicht kritisch gefragt, ob und inwieweit derartige Auseinandersetzungen den Weg tatsächlich öffnen oder vielleicht auch behindern. So diffus wie das Ziel, so unklar der Weg.
Was allerdings unübersehbar und allgegenwärtig ist: dieses befreite Aufatmen, dieses Gefühl der Erleichterung beim Durchbrechen der etablierten Normen und Dogmen. Die heute zumeist so verherrlichten, von mir und vielen anderen jedoch als erstickend und lähmend erfahrenen 50er Jahre liegen endgültig hinter uns. Eine neue Zeit beginnt. Erstmals habe ich das Gefühl, auch in diesem Lande atmen zu können. Ich spüre mich ganz am Anfang: ich beginne neu zu sehen, neu zu denken, neu zu leben. Und so stürze ich mich ins Getümmel der folgenden Jahre.
Einstürzende Träume
Es soll noch lange dauern, bis sich die damals in uns festsetzende Überzeugung, dass mit uns ein radikal neuer Anfang gemacht ist und Rückschläge nur momentan sind, nicht aber die Entwicklung grundsätzlich umzukehren vermögen, erschüttert wird. Bis auch wir erkennen müssen, dass es uns nicht anders als Generationen von Sozialisten vor uns ergeht, die die bittere Erfahrung machen mussten, dass der Weg zur „neuen Gesellschaft“ alles andere als geradlinig verläuft und ihre eigene historische Rolle nicht die ist, die sie sich erträumten.
Doch das ist die Geschichte eines anderen Jahrzehnts — der 70er Jahre. Was mit den „Schwabinger Krawallen“ plötzlich an Protest und Widerstand sichtbar wurde, verbreiterte sich zunächst einmal selbstbewusst — und das nicht nur in München — bis hin zu dem berühmten ‘68, wenn auch vermittelt: 1962 — das war noch die spontane, „unpolitische“ Reaktion eines „Milieus“ auf einen Polizeiübergriff; 1968 — das war der politisch begründete Widerstand vor allem von Studenten gegen Notstandsgesetze, US-Intervention in Vietnam und Ausbeutung der „Dritten Welt“.
Dennoch haben die Ereignisse von 1962 und 1968 viel miteinander zu tun: sie weisen daraufhin, wie verbreitet Unruhe und Unzufriedenheit damals vor allem unter Jugendlichen waren und wie leicht ein System zu erschüttern war, das doch so selbstsicher sich gab.
Die seitherigen Erfahrungen haben aber auch gezeigt, dass allzu großer Optimismus fehl am Platze war: das System hat gelernt, mit seiner Krisenanfälligkeit zu leben. Und wo die sozialintegrativen Mittel nicht mehr ausreichen, da steht ein ganz anderes Instrumentarium zur Verfügung — und das in immer furchteinflößenderem Ausmaß. Der Tod Günter Sares unter einem Wasserwerfer der Frankfurter Polizei hat es einmal mehr gezeigt.
Volkhard Brandes
Literatur:
Der Übergang von den 50er zu den 60er Jahren — jener Zeit, in der die ersten Keime der Revolte in der Behäbigkeit der Republik aufgingen — ist bis heute, auch was die „Schwabinger Krawalle“ betrifft, kaum aufgearbeitet worden. Hier einige Literaturhinweise zu ersten Orientierung.
Zwei BilderLeseBücher geben lebendige Einblicke in die 50er und 6Oer Jahre:
Bikini. Kalter Krieg und Capri-Sonne. Die fünfziger Jahre. Elefanten Press: Berlin 1981 (inzw. auch als Rowohlt Taschenbuch Nr. 7754).
CheSchaShit. Die sechziger Jahre zwischen Cocktail und Molotow. Elefanten Press: Berlin 1984.
Einen Vergleich „Jugend in den 50er Jahren und heute“ versucht die Shell-Jugendstudie ‘85: Jugendliche und Erwachsene ‘85: Generationen im Vergleich. Bd. 3: Jugend der fünfziger Jahre — heute. Leske + Budrich: Opladen 1985.
Über die „Schwabinger Krawalle“ ist m.W. — außer in der zeitgenössischen Presse — kaum etwas veröffentlicht worden:
Peter Schult: „Panoptikum der Exoten? Oder heimliche Hauptstadt der Bewegung?“, in: M. Th. Mehr (Hrsg.): Drachen mit tausend Köpfen. Luchterhand (Sammlung Luchterhand Bd. 399): Darmstadt/Neuwied 1982.
„Durchgreifen in Schwabing“, in: Contra, Nr. 17,3. Jg.,2/1962.
Ausführlich dokumentiert ist dagegen — wenn auch in vergriffenen Büchern — die „Subversive Aktion“ und ihr Umfeld:
F. Bökelmann/H. Nagel (Hrsg.): Subversive Aktion. Neue Kritik: Frankfurt 1976.
A. Goeschel (Hrsg.): Richtlinien und Anschläge. Materialien zur Kritik der repressiven Gesellschaft. Hanser Verlag (Reihe Hanser Bd. 9): München 1070 (2. Aufl.)
Über die Unterstützung des algerischen Widerstandes durch die westdeutsche Linke informiert detailliert und kenntnisreich:
Claus Leggewie: Kofferträger. Das Algerien-Projekt der Linken im Adenauer-Deutschland. Rotbuch (Bd. 286): Berlin 1984.
O. Hensel/W. Hippe (Hrsg.): Still crazy after all these years? Nachdenken übers Älterwerden. Verlag Jugend & Politik: Reinheim 1985.
Volkhard Brandes (1939), arbeitete als Lektor in verschiedenen Verlagen, zuletzt im extrabuch Verlag, wo er auch mehrere Bücher (mit)herausbrachte („Wer sind die Instandbesetzer?“, „Den letzten Calypso tanzen die Toten“, „Kinder, Kinder“, „Am Ende der Reise“).
päd. extra. Magazin für Erziehung, Wissenschaft und Politik 1 vom 20. Januar 1986, 36 ff.