Materialien 1985
Schwierige Heimat: Bayern
Die Regierungen von Bayern und Baden-Württemberg versuchen mit großem Aufwand, ein kon-
servatives Heimatverständnis zu verankern. Aber auch die demokratische Aneignung von Hei-
mat macht dort Fortschritte.
Seit Mitte der 70er Jahre gibt es gerade in Süddeutschland deutlich sichtbare Versuche, über die Verkündung eines Uralt-Geschichtsbildes aktuell konservative Politik ideologisch abzusichern. Schon in der Staufer-Ausstellung im damals noch Filbingerschen „Musterländle“ Baden-Württem-
berg sollte der Besucher den logischen Schluss ziehen, dass die Herrschaft der CDU die gottgewoll-
te Konsequenz der Geschichte sei. Noch deutlicher wurde dies bei den Ausstellungen in München 1976 zu Kurfürst Max Emanuel und 1980 zu den Wittelsbachern, wo mit einem enormen Geldauf-
wand, mit gegenüber den Voranschlägen um das Vierfache überzogenen Kosten, Geschichtsfäl-
schung im ganz großen Stil versucht wurde.
Und doch, die enormen Besucherzahlen bedeuten keineswegs, dass das Konzept aufging. Die „Ge-
genführungen“ des DGB-Bildungswerkes München in diesen Ausstellungen fanden eine enorme Resonanz, denn obwohl die meisten Besucher kaum in der Lage gewesen wären, genau zu sagen, was nicht stimmte, das Gefühl des Unbehagens und des Misstrauens gegen derlei Geschichtsklit-
terung ist weit verbreitet.
„Hauptstadt der Bewegung …“
Die alternative Stadtrundfahrt „Das andere München“, die vom DGB-Bildungswerk seit nunmehr zwei Jahren regelmäßig angeboten wird, findet ebenfalls großen Anklang. Sie versteht sich als bewusste und selbstbewusste Ergänzung der üblichen Stadtrundfahrten. Für Münchner wie für Besucher der Stadt ist natürlich der erste Eindruck das glänzende München, das München der prächtigen Gebäude, der berühmten Museen, der Zeugnisse der Wittelsbacher-Herrschaft. Und doch weiß jeder auch nur durchschnittlich Gebildete, dass mit dem Namen München auch anderes verbunden ist: Etwa, dass die Stadt in der Nazizeit den zweifelhaften Ehrennamen „Hauptstadt der Bewegung“ hatte.
Heimat? Natürlich! Und bei dieser Rundfahrt wird durchaus nicht nur Negatives aufgezählt: Mün-
chen war eben nicht nur „Hauptstadt der Bewegung“ der Nazis, sie war auch eine der Haupt-Städte der Gegenbewegung: in kaum einer deutschen Stadt gab es so vielfältigen Widerstand gegen das Naziregime, von den Kommunisten bis zu katholischen Geistlichen, von den Arbeitern in den Be-
trieben bis hin zu bayerischen Monarchisten. Aber bis heute gibt es kein Buch über den antifaschi-
stischen Widerstand in München! Auch den meisten Münchnern ist nicht bekannt, dass ihre Stadt die einzige war, in der alle Brücken heil über das Kriegsende gerettet wurden, und zwar nicht etwa, weil die SS plötzlich Einsicht gezeigt hätte, dass auch Brückensprengungen den Krieg nicht mehr gewinnbar machten, sondern weil Münchner Bürgerinnen und Bürger ihre Brücken gegen die SS verteidigten. Die Reichenbachbrücke z.B. wurde durch bewaffnete Arbeiter aus Münchner Betrie-
ben gerettet, die Corneliusbrücke durch Anwohner, darunter viele Hausfrauen, die die meist sehr jungen SS-Bürschchen vertrieben. Bis heute erinnert keine Gedenktafel an diese mutigen Frauen und Männer, obwohl man wahrhaftig stolz darauf sein könnte und obwohl man in München an-
sonsten mit Gedenktafeln recht großzügig ist.
Geschichte wird erfahrungsgemäß dann für die Menschen besonders interessant, wenn sie an den eigenen Erfahrungen anknüpft, wenn sie den eigenen Lebensraum, die Umgebung, eben die „Hei-
mat“ betrifft. Das zeigt sich gerade auch bei den Seminaren, die die Münchner Volkshochschule in ihren Filialen in den Stadtteilen zur Geschichte und Gegenwart dieser Stadtviertel veranstaltet. Auch hier wird so etwas vermittelt wie Identifikation – im Endergebnis eben Heimatgefühl. Dass diese Aneignung der Geschichte des eigenen Stadtviertels, wirklich der eigenen Geschichte, sehr schnell etwas zu tun hat mit „Geschichte von Unten“, mit dem Aufdecken der Lücken in unserem herkömmlichen Geschichtsbild, wird spätestens dann deutlich, wenn die Teilnehmer eines solchen Seminars erleben müssen, wie mühsam es ist, in Archiven und Bibliotheken Informationen zu er-
arbeiten: der wahren Inflation an vielfarbigen Bildbänden über die schöne Fassade der Stadt ste-
hen nur wenige Bücher gegenüber, die zeigen, wie die einfachen Leute wirklich gelebt, gearbeitet und gedacht haben. Für manche Teilnehmer an solchen Seminaren ist diese Erfahrung der Lücken unseres herkömmlichen Geschichtsbetriebes eine richtungweisende politische Grunderfahrung.
Alternative Stadtrundfahrten als Lehrerfortbildung
Selbstbewusstsein ist allerdings doch nötig, sich solch ein alternatives, eigenes Heimatbewusstsein zu erarbeiten, sich z.B. kritisch mit dem Wust an Geschichtsfälschungen zur Novemberrevolution 1918, zur Münchner Räterepublik 1919 oder zur Geschichte nach 1945 auseinanderzusetzen. Die scheinbare Macht des gedruckten Wortes steht häufig noch dem eigenen Denken entgegen. Um so erfreulicher ist, dass das Pädagogische Institut der Stadt München für die Lehrerfortbildung auch die alternativen Stadtrundfahrten des DGB-Bildungswerkes ins Programm genommen hat: die bisher vier Fortbildungsrundfahrten stießen auf reges Interesse. Neben den Inhalten wurden me-
thodische und didaktische Hinweise für Lehrer und Erzieher gegeben, wie sie für unterschiedli-
che Alters- und Zielgruppen selbst solche Rundgänge oder Rundfahrten durchführen könnten.
Während der inhaltliche Ansatz bei solchen Stadtführungen verhältnismäßig klar ist, hat anfangs ein anderes Gebiet alternativer Heimataneignung mehr Verwunderung und Neugier ausgelöst: dass man als Nicht-Konservativer auch bayerische Wallfahrtskirchen und Klöster besichtigen kann, schien nicht so selbstverständlich. Die Wieskirche im bayerischen Voralpenland wäre solch ein Beispiel. Mitten im Wahlkreis eines Franz Josef Strauß gelegen ist es so recht der Inbegriff für das konservative Bayern. Bilder solcher Kirchen zieren die CSU-Wahlkampfbroschüren; suggeriert wird, dass, wenn „die Roten“ drankommen, alle die schönen bayerischen Zwiebelkirchtürme ge-
köpft würden, dass die schönen bayerischen Berge wohl abgetragen würden, damit die schönen bayerischen Seen aufgefüllt würden, dass vielleicht gar das bayerische Bier sauer würde. Im Grun-
de ist es also durchaus verständlich, dass so mancher wackere Gewerkschaftler, Sozialdemokrat oder Kommunist aus all dem CSU-Unfug die Konsequenz zieht und um jede Kirche, jedes Schloss einen weiten Bogen macht.
Wieskirche oder Tiefflieger?
Auch Konservative wissen meist, dass sie lügen, wenn sie behaupten, man könne eine Kirche wie die Wieskirche nur dann verstehen, wenn man sie mit den gleichen naiv-gläubigen Augen an-
schaue wie die Menschen zur Zeit ihrer Erbauung um 1740. Zur Wieskirche gehört eben auch, dass man sich darüber informiert, wie der Bau finanziert wurde, wie das finanziell in höchste Not gera-
tene Kloster Steingaden in der Hoffnung auf märchenhafte Einnahmen durch den Wallfahrtsbe-
trieb einen schwindelhaften Spekulationsbau errichten ließ — und es gehört auch dazu, dass diese Einkünfte ausblieben und das Kloster über dem Bau bankrott ging: erst heute ist die Wieskirche das massenhafte Ziel der modernen Touristenwallfahrten.
Und trotzdem, die Kirche ist eines der großartigsten Beispiele für die volkstümlichen Qualitäten des bayerischen Rokoko, von Künstlern aus der Gegend für die Menschen der Gegend erbaut, als Summe des Könnens und der Erfahrungen von Jahrhunderten einheimischer Handwerkstradi-
tionen. Auch dann, wenn wir von der schwindelhaften Organisation sogenannter „Wunder“ vor 200 Jahren wissen, bleibt die Kirche von höchster künstlerischer Qualität, und die Einbettung der Wieskirche in die bayerische Voralpenlandschaft, die eigenartige Korrespondenz von Dachlinie und Bergrücken dahinter, bleibt unvergesslich – auch wenn die CSU solche Kunst für sich zu ver-
einnahmen versucht! Pointiert ausgedrückt: sogar unser Empfinden müssen wir vor der Beein-
trächtigung durch konservative Ideologie schützen, und manchmal muss man als fortschrittlicher Mensch sogar solche Kunstwerke vor reaktionärer Machtdemonstration verteidigen: Obwohl im Wahlkreis des Herrn Strauß gelegen, obwohl so sehr zum Aushängeschild konservativer Wertsy-
steme missbraucht, beunruhigte es konservative Kräfte wenig, dass die Kirche in ihrer Bausubstanz durch ständige Tiefflieger extrem gefährdet ist. Erst als sie vor etwa einem Jahr für die Besucher geschlossen werden musste, schreckten einige der konservativen Politiker auf — von Strauß gab es allerdings keine Äußerung dazu.
Heimatliebe oder Imponiergehabe?
Wie sehr „Heimat“ gerade von konservativer Seite missbraucht, gefährdet, ja zerstört wird, gerade von denen, die ständig mit ihrem Heimatbegriff politisch hausieren gehen, kann man zur Zeit in München studieren: an städtebaulich sensibelster Stelle, in der Nähe der Residenz und am Rande des stillen und vornehmen Hofgartens soll ein gigantischer Neubau der Staatskanzlei entstehen, der die gesamte Umgebung erdrücken würde. Als Amtssitz des bayerischen Ministerpräsidenten würde das Gebäude um ein Mehrfaches größer ausfallen als das Weiße Haus in Washington! Auch wird deutlich, von welcher Seite „Heimat“ missbraucht wird und welche Aufgabe fortschrittliche und sensibel gebliebene Menschen hier haben.
Bei Beispielen wie den Angeführten zeigt sich immer wieder, dass konservative Positionen nur so lange übermächtig, überwältigend wirken, wie sie sich als im Einklang mit heutiger Machtvertei-
lung befindlich darstellen können, solange sie sich nicht weiter begründen müssen. In dem Mo-
ment, in dem progressive Geschichts- und Kulturarbeit fachlich abgesichert und selbstsicher auf-
tretend die Gegenseite dazu zwingt, inhaltlich zu werden, entlarvt sich häufig konservative Ge-
schichtssicht als leeres Imponiergehabe. Ein Beispiel: neuerlich ist in München die Diskussion aus-
gebrochen, ob man dem ersten Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern, dem in der November-
revolution gewählten Kurt Eisner, nicht endlich doch ein Denkmal setzen müsste, und zwar an der Stelle, an der er am 21. Februar 1919 von dem reaktionären und antisemitischen Grafen Arco er-
mordet wurde. Der Antrag des Bezirksausschusses und der SPD-Stadträte wurde von der CSU laut-
hals bekämpft, und selten konnte man konservative Geschichtssicht der CSU so deutlich und so deutlich dumm lesen wie bei dem Versuch, Kurt Eisner im Stil der Nazipropaganda zu einem jü-
disch-kommunistischen Gewaltpolitiker umzufälschen. Eine Flut von protestierenden Leserbriefen erschien in den Münchner Zeitungen, in denen die Verfälschung der Geschichte durch die CSU an-
geprangert wurde. Wie es jetzt aussieht, bestehen reelle Chancen, dass das längst fällige Denkmal trotz des Widerstandes der CSU errichtet werden kann.
Nicht immer also siegt konservatives Imponiergehabe, und es ist durchaus nicht ausgemacht, dass das in den letzten Jahren deutlich gewachsene Geschichtsinteresse und Heimatbewusstsein allein den konservativen Kräften dient. Gerade die Beschäftigung mit Kultur, mit dem, was man „kultu-
relles Erbe“ nennt, kann zu einem neuen, einem aus gewachsenem politischen Bewusstsein ent-
standenen Heimatgefühl verhelfen. Und wenn es die Einsicht ist, wer in diesem unserem Lande wirklich es ist, der Überkommenes zerstört, wer ständig im Dienste des Profits verändert, und dass es gerade diejenigen Politiker und ihre Kumpanen in der Wirtschaft sind, die am lautesten nach Bewahren rufen und „Heimat“ im Munde führen!
Auf der Suche nach Identität
Wenn heute in der Bundesrepublik mehr Menschen in Museen und Ausstellungen gehen als auf die Fußballplätze, dann zeigt sich hier ein immens großes Feld für aufklärerische Kulturarbeit. Die Suche vieler Menschen nach kultureller und geschichtlich begründbarer Identität, durchaus nach dem, was man mit dem Heimatbegriff einschließen kann, ist eine große Chance. Für Pessimismus ist hier überhaupt kein Anlass. Allerhöchstens in der Richtung, dass es noch immer viel zu wenige sind, die in diesem Sinne als Referenten und Pädagogen, als Multiplikatoren tätig sind.
Wenn unter „Linken“ und nicht nur bei ihnen, „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiß zu-
recht zu einem Kultbuch geworden ist, wenn z.B. die dringliche Interpretation des Pergamon-Al-
tars im ersten Band so tiefen Eindruck macht, dann ist es doch unverständlich, dass immer noch so wenig konkrete Umsetzung zu sehen ist. Die Denkansätze des Pergamonaltars auf die gotische Ki-
rche am eigenen Ort anzuwenden, die Ausführungen zu Piero della Francesca in der nächstliegen-
den Gemäldegalerie umzusetzen, das wäre schöpferische Anwendung der Leseerfahrungen der Ästhetik des Widerstands!
Und warum ist es in unseren Kreisen noch immer häufig so, dass wir uns in der Romanik der Tos-
kana besser auskennen als in der eigenen näheren Umgebung? Warum wird die Bestsellerbegeiste-
rung über Umberto Ecos „Der Name der Rose“ nicht häufiger dazu benützt, unser unsinniges Bild vom angeblich so finsteren Mittelalter zu korrigieren, indem man auch die gotischen und romani-
schen Bauwerke der eigenen Umgebung neu begreift?
Aus den Erfahrungen der Kulturarbeit in München kann z.B. auch die Behauptung widerlegt wer-
den, dafür gebe es kein Interesse. Die Führungen durch Münchner Museen, die als Winterzyklus seit vielen Jahren angeboten werden und bei denen im Sinne materialistischer Geschichts- und Kunsttheorie Interpretationen erarbeitet werden, sind seit langem die bestbesuchten Veranstal-
tungen des DGB-Bildungsprogramms, und zwar unabhängig davon, ob die Alte Pinakothek, die Glyptothek, die Staatsgalerie moderner Kunst oder das Bayerische Nationalmuseum besucht werden.
Grundsatz bei all diesen Veranstaltungen ist, dass man von den konkreten Bedürfnissen der Kol-
legen ausgeht: sie wollen sich durchaus einfach „etwas Schönes“ ansehen, auch eine erholsame Fahrt per Bus ins Alpenvorland machen — und dass sie inhaltlich etwas anderes zu hören bekom-men als im durchschnittlichen Reiseführer steht, nehmen vielleicht manche anfänglich eher in Kauf. Doch auf die Dauer macht es Spaß, denn je mehr man weiß, desto mehr sieht man. Der bürgerliche Kulturbegriff, für den Kultur Erholung vom Berufsstress ist, Abschalten, Freizeit, oft auch Denkverzicht, muss dabei freilich weiterentwickelt werden!
Friedrich Köllmayr
Friedrich Köllmayr, Jahrgang 1944, ist Oberstudienrat und neben seiner Tätigkeit als Lehrer für Deutsch/Geschichte/Sozialkunde seit ca. 10 Jahren engagiert beim gewerkschaftlichen Bildungs-
werk, beim Deutschen Freidenker-Verband, beim Verein für alternative Kultur im Freistaat „Das andere Bayern“ und in ähnlichen Organisationen.
Demokratische Erziehung 12 vom Dezember 1985, 23 ff.