Materialien 1986
Verwirren – vernebeln – verschweigen
München nach der Wolke
Ein seltsamer Arbeits-Nichtbeginn für die Beschäftigten im Garchinger Versuchsreaktor: Die Si-
cherheitssperre, die verhindern soll, dass verstrahlte Personen den Reaktorbereich verlassen, schaltete auf stur – schon am frühen Morgen beschloss der Geigerzähler, die Strahlenschranke zu schließen. Zu stark war die radioaktive Belastung derer, die von zu Hause kamen und eigentlich an ihren Arbeitsplatz wollten. Erst nachdem das Sicherheitssystem von Hand abgeschaltet war, konn-
ten sie passieren.
Wenn diese Zeilen erscheinen, kann – verfügt man über einen gewissen Rest von Optimismus – die radioaktive Belastung der Luft schon wieder deutlich abgenommen haben. Zwar glüht die Re-
aktorruine in Tschernobyl noch immer mit 3.000 bis 4.000 Grad vor sich hin, zwar werden die verzweifelten Maßnahmen der hilflosen sowjetischen Regierung, den Katastrophenort mit nassem Sand, Blei und Bor zu überhäufen, nichts daran ändern, dass dort in der Ukraine weiterhin radio-
aktive Strahlung freigesetzt wird – dennoch wird, seit das Feuer in dem Reaktor weitgehend ge-
löscht ist, höchstens noch sehr wenig radioaktiver Staub bis Deutschland getragen werden.
Dann wird sich herausstellen müssen, ob dem Nachlassen der Luftbelastung auch ein Nachlassen der Bodenbelastung folgt. Denn daran wird man ablesen können, zu welchen Bestandteilen der atomare Niederschlag aus dem vergleichsweise „harmloseren“ Jod 131 bestand, dessen Strahlungs-
aktivität sich bereits nach acht Tagen halbiert. Viel gefährlicher werden dann die anderen, auf alle Fälle beteiligten Isotope: Caesium 137 und 134 mit einer Halbwertzeit von 30 bzw. zwei Jahren, Strontium 90 mit einer Halbwertzeit von 28,5 Jahren und Plutonium mit einer Halbwertzeit von 24.900 Jahren (!). In ersten Messungen stellte die Gesellschaft für Strahlen und Um-
weltforschung (GFS) laut einer sogar von der Stadt München veröffentlichten Mes-
sung lediglich einen Jod-131-Anteil von 7 Prozent fest. Sollte dieser Wert stimmen, steht uns das Schlimmste erst noch bevor: Es hilft wenig, wenn wir in den nächsten Wochen die Nah-
rungsmittel, Kleidung und uns selbst gründlich waschen – die radioaktiven Teilchen sind in den Boden eingedrungen und verseuchen von dort aus jahrzehntelang Pflanzen, damit Tiere und ver-
mutlich auch irgendwann unser Trinkwasser. Da hilft es auch nichts, 1986 einen Großteil der Ernte zu vernichten (wie vernichten die Behörden eigentlich den radioaktiven Staub auf kontaminiertem Spinat?) — irgendwann werden wir gezwungen sein, das verseuchte Zeug zu fressen — oder gleich freiwillig zu verhungern.
Auch dann werden, wie uns ja jederzeit die Behörden unermüdlich (und ausnahmsweise wahr-
heitsgemäß versichern) keine „akuten“ Schäden sichtbar werden. Keiner wird nach dem Genuss eines „Radio“-Radis maustot umfallen; Krankheit und Tod kommen leise und beharrlich. Schnel-
lere Alterung von Haut und Haaren, von Augen und anderen Organen werden die harmloseren Folgen sein, ein gehäuftes Auftreten von Tumoren, Leukämien und genetischen Störungen wird die Gesundheit von Generationen beeinflussen.
Und während sich die Politiker gegenseitig in rechenakrobatischen Bravourstückchen mit Becque-
rel und Rem überbieten, erleiden Säuglinge, Kleinkinder und Ungeborene schon jetzt möglicher-
weise ernste Schäden. Wenn bei Säuglingen Schilddrüsenerkrankungen, die aufgrund der Einlage-
rung von radioaktivem Jod entstehen können, nicht rechtzeitig erkannt werden (und das kann re-
lativ leicht passieren), können diese Erkrankungen zum Schwachsinn führen. Doch: Der Jugend-
wohlfahrtsausschuss des Stadtrats befürwortete zwar am 7. Mai die Dringlichkeit eines Antrags der Grünen, sofort ein Faltblatt mit Aufklärung über die erhöhten Risiken für Kleinkinder und Schwangere herauszugeben. Absurderweise wurde dann aber der gesamte Antrag ins Plenum ver-
wiesen — und das tagte erst in der folgenden Woche.
Stadtrat Ködelpeter musste sich mit dem Grünen-Antrag, die Stadt solle kostenlos Busse zur Ver-
fügung stellen, die Mütter mit Kleinkindern bis zur Normalisierung der Lage in schwach belastete Gebiete nach Portugal oder Spanien bringen, nur auslachen lassen — Gutbetuchte haben sich auf den Rat ihrer Ärzte hin schon längst abgesetzt. Die CSU witterte sofort eine Gelegenheit, angesichts der Strahlenkatastrophe ihr Bunkerbaukonzept wieder auf die Tagesordnung zu bringen, und der Oberbürgermeister wirkte schlicht und überzeugend hilflos. Lediglich Saubermann Gauweiler sah Grund, sich auf die Schulter zu klopfen: Immerhin hatte von Anfang an eine Stabsgruppe getagt, deren größtes Verdienst wohl war, dass sie die Münchner Bevölkerung weitgehend verunsichert ließ und unbequeme Messwerte unterdrückte oder beschönigte.
So lässt sich wohl kaum plausibel erklären, dass das Schyrenbad wieder geschlossen wurde, weil auf den Liegewiesen eine Strahlenbelastung von 13.000 Becquerel/kg wurde, andererseits auf einem Spielplatz an der Fraunhoferstraße (Entfernung: maximal 800 Meter) „keine nennenswerte Belastung festgestellt werden konnte“. Nach internen Informationen aus der Stadtverwaltung wur-
den um den 7. Mai im gesamten Stadtgebiet Bodenwerte von 10.000 und 20.000 Becquerel/kg gemessen. Ob die radioaktiven Staubteilchen und Regentropfen wohl extra einen Bo-
gen um manche Meßstellen machten?
Auch bei der Festsetzung des Höchstwertes für die Strahlenbelastung für Milch zeigten sich die Bayern lasch: Während die hessische Landesregierung eine Höchstbelastung von 20 Becquerel festsetzte, schluckte die Staatskanzlei die von Bonn verordnete Grenze von 500 Becquerel/l, was dazu führte, dass zumindest am 7. Mai Physiker in Münchner Geschäften Vorzugsmilch kauften, die mit 591 Bq/l belastet war. (Das Ökoinstitut in Darmstadt empfahl sogar eine Höchstgrenze von 7 Bq/l!)
Ein Rechenbeispiel: Ein Säugling, der fünf Tage lang jeweils einen Liter Milch mit der in Bayern zulässigen Strahlen-Höchstdosis trinkt, wird — wohlgemerkt allein durch Jod 131 — mit 1 Rem belastet. Zum Vergleich: Selbst für Erwachsene, die beruflich ständig mit Radioaktivität belastet werden, gilt — ein von Fachleuten scharf kritisierter — Höchstwert von 5 Rem.
Ein anderes Beispiel: Wolfgang Bruder, Arzt im Harlachinger Krankenhaus, errechnete, dass ein Sonnenbad am 2. Mai alles andere als gesund war: Wer einen Nachmittag lang nackt und ohne Decke auf dem Rasen im Englischen Garten lag, bekam dort soviel Strahlen ab, wie sonst in einem ganzen Jahr. Trotzdem: Keine Absperrungen, keine Warntafeln, nichts … Und 7.000 Marathonläufer hecheln nichtsahnend quer durch München!
Apropos Rasen: – Während Privatleute aufgerufen wurden, ihr Gras vorerst nicht zu mähen, schickte das Gartenbauamt munter seine Trupps ins Grüne. Außendienstleiter Brunner: „Wir haben eine Mitteilung vom Bayerischen Landesministerium für Landesentwicklung und Umwelt-
fragen, da wird das genau definiert: ,In ganz Bayern ist der Aufenthalt im Freien auch bei Regen — nicht eingeschränkt. Allerdings sollte man sich ohne vorherigen Grasschnitt nicht unmittelbar auf die Grasnarbe setzen oder legen.’ Und nach dem haben wir uns zu halten. Wenn sich aber etwas Neues ergeben hat, wird sofort umgestellt. Wir haben auch Arbeiter ins Krankenhaus geschickt, damit untersucht wird, ob sie kontaminiert sind. Wenn da was ist, werden sie sofort feststellen, dass wir das Arbeiten einstellen.“ Wenn für die im aufgewirbelten Staub der Rasenmäher arbeitenden Gärtner ähnliche Höchstwerte gegolten haben wir für Nahrungsmittel, sind diese nicht zu beneiden – Grund genug für einige, sich krank zu melden.
Der GAU, der statistisch betrachtet – angeblich alle 10.000 Jahre passieren sollte, ist da – kein Grund allerdings für die breit auf ihren Stühlen sitzenden konservativen Politiker, sich um die Zukunft ihrer Bürger ernsthafte Sorgen zu machen und ihre bedingungslose Atompolitik zu über-
denken. Eine Kampagne, „um die Atomangst in der Bevölkerung zu bekämpfen“ schwebt dem Oberlächler in Bonn vor, und in Bayern brauchte man ja noch nie ein Blatt vor den Mund nehmen.(Delonge-Zynismus im Stadtrat: „Wissen Sie, Herr Ködelpeter, auch wenn wir die Kernkraftwerke abschalten, sind die doch weiterhin radioaktiv, die strahlen einfach weiter …“) Die CSU-Fraktion am 7. Mai: „Unsere Kernkraftwerke sind die sichersten der Welt. Eine Abschaltung kommt daher nicht in Betracht. Bei Abschaltung der Kernkraftwerke würde unsere wirtschaftliche Konkurrenz-
fähigkeit schwersten Schaden nehmen, und der Lebensstandard der bayerischen Bevölkerung auf ein Niveau der Jahrhundertwende zurückgeworfen.“
Blödsinn im Quadrat. Auch wenn die bundesdeutschen Atommeiler anders gebaut sind als der Unglücksreaktor in Tschernobyl, so sind Katastrophen ähnlicher Größenord-
nung keinesfalls auszuschließen. Jedes zusätzliche vermeintliche „Sicherheits“-System ist für sich wiederum anfällig für Störungen — und wird nicht zuletzt dadurch zum Risiko.
Auch der mit Stolz immer wieder erwähnte Berstschutz aus Beton ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Zwar können die „Betoneier“ bei kleineren Störungen zunächst verhindern, dass radioak-
tive Gase in die Umwelt entweichen. Doch gerade beim Beinahe-GAU in Harrisburg hat sich ge-
zeigt, dass bei schweren Unfällen der Druck im Inneren des Betongehäuses so stark ansteigt, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder das Ei platzt irgendwann, oder man ist – wie in Harris-
burg — gezwungen, Ventile zu öffnen und die radioaktiven Dämpfe abzulassen. Folge dort: Die Zahl der Leukämieerkrankungen bei Kleinkindern verdoppelte sich.
Der nächste GAU kommt bestimmt — egal ob in der UdSSR, in der Bundesrepublik oder im benachbarten Frankreich, wo diverse recht windig gebaute Anlagen nahe am Rhein stehen. Die Zahl der Beinahe-GAUs hat immer wieder gewarnt, schwere Störfälle gab es auch in den angeblich so sicheren bundesdeutschen AKWs.
Allerdings: Weder im Bayerischen Umweltministerium, noch bei der DWK, die die WAA in Wak-
kersdorf baut, scheint sich ein Meinungsumschwung anzukündigen. Zwar weist man in München darauf hin, dass man nach der ersten Teilerrichtungsgenehmigung für die Plutoniumfabrik aus der Anlage „genausogut eine Tiefgarage oder einen Supermarkt“ machen könne. Da sich allerdings sämtliche Genehmigungen streng an die gesetzlichen Bestimmungen hielten, werde man wohl auch daran festhalten.
Die DWK in Hannover rechnet für Anfang 87 fest mit der zweiten Teilerrichtungsgenehmigung: „Den Widerstand in der Bevölkerung muss man relativ sehen … Sicherlich, da stehen jeden Sonntag einige hundert Demonstranten … Die Atmosphäre für die friedliche Nut-
zung der Kernenergie ist durch den Reaktorunfall bestimmt nicht erleichtert worden. Aber nichts-
destotrotz wird an der Anlage, wie wir hoffen, auch von politischer Seite, keinerlei Grundkorrektur vorgenommen werden. Wir als Unternehmen sind von unserer Arbeit in der Hinsicht überzeugt, dass wir die Anlage ökologisch, ökonomisch und für die Bevölkerung gesichert durchführen kön-
nen.“ Soviel arrogante Selbstherrlichkeit kann nur noch durch die Ignoranz des F.J. Strauß über-
troffen werden, der die WAA in ihrer Gefährlichkeit mit einer Fahrradspeichen-Fabrik verglich. Solange deutsche Politiker lieber das Volk, von dem sie „Schaden abzuwenden“ gelobten, belügen und die Risiken vertuschen, kann höchstens der Blick über die Grenzen ermutigen. Die Österrei-
cher haben von ihrem AKW-Projekt Zwentendorf endgültig Abschied genommen, und auch in den Niederlanden werden zunächst (hoffentlich nicht nur bis nach der bevorstehenden Wahl) die be-
stehenden Projekte auf Eis gelegt.
So etwas wie einen „Nutzen“ kann die Explosion von Tschernobyl logischerweise nicht haben. Aber sie könnte Anstöße geben, Denkprozesse auch bei denen auslösen, die bisher blind den Verspre-
chungen der Atomlobby geglaubt haben und sich jetzt zu Recht betrogen fühlen.
Noch ist Wackersdorf nicht gebaut, noch ist Ohu 2 nicht ans Netz gegangen. Ein GAU reicht — der nächste könnte für uns alle der letzte sein. Deshalb ist (wenn nicht jetzt, wann dann?) der Zeitpunkt gekommen, sich mit allen denkbaren Formen des gewaltfreien Widerstands gegen den weiteren Ausbau der Atomtechnologie zu wehren. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit, und nicht zuletzt im Herbst und im nächsten Frühjahr bei den anstehenden Wahlen. Denn scheinbar ist der Bau von Wahnsinnsanlagen a la Wackersdorf nur dann zu verhindern, wenn Politiker, die ihren eigenen finanziellen Gewinn mit dem Lebensstandard der Bevölkerung verwechseln, nicht mehr viel zu sagen haben. Eine BRD ohne Atomstrom würde mit Sicherheit nicht verelenden — Lebensqualität heißt zuallererst Gesundheit — es geht sogar um die von Zimmermann und Kohl. Und irgendwann wird dieser Globus so verseucht sein, dass es kein Davonlaufen mehr gibt.
Albrecht Heinz
Münchner Stadtzeitung vom 16. Mai 1986, 10 ff.