Materialien 1986
Der Bauernaufstand
Am gleichen Morgen, als die Strahlenschutzkommission der Bundesregierung eine Teilentwarnung bekannt gibt und Kanzleramtsminister Schäuble behauptet, es „hat zu keiner Zeit eine Gefährdung der Bevölkerung bestanden und auch jetzt besteht keine“, herrscht vor der bayerischen Staatskanz-
lei in der Prinzregentenstraße Alarmstimmung, Biologische Gärtner und Gemüsebauern aus dem Raum Schwandorf, die sich in der Genossenschaft Tagwerk zusammengeschlossen haben, schütten kiloweise Salatköpfe, Rettichstauden, Milch und frisch geschnittenes Gras vor die Einfahrt des Re-
gierungssitzes. Das Geschenk aufgebrachter Bauern an ihre Staatsregierung. „Wir können unsere Produkte nicht mehr guten Gewissens verkaufen“, sagt der Sprecher der Genossenschaft, Franz Leutner.
Wenn es keine sofortige Hilfe von Seiten der Staatsregierung gibt, stehen viele Betriebe vor dem Ruin. „Die Ernteverluste machen für uns schon jetzt über 10.000 Mark aus“, so der Gemüsegärtner Florian Zebhauser aus Buchbach, Doch das ist noch ein zweitrangiges Problem im Vergleich zu den Zukunftsperspektiven.
Die Bauern, die hier ihren wütenden Protest über Megaphon herausschreien, wissen nicht, wie es weitergehen soll. Sie fühlen sich durch eine verschleiernde Desinformationspolitik hinters Licht geführt. Was ist mit dem sich erst langsam abbauenden, das Knochenmark schädigenden Stronti-
um und Caesium? Es hat sich in dem Boden abgelagert und strahlt auf Jahre weiter. Die Bauern haben Ängste und Bedenken. Dietrich Pax, Bauer aus der Gegend von Augsburg: „Keine staatliche Stelle hat es für nötig befunden, bei uns Strahlenmessungen durchzuführen.“ Von sich aus hat er Salatköpfe zur Messung in das Kernkraftwerk Gundremmingen und zum Umweltministerium nach München geschickt. 531 Bequerel kamen in Gundremmingen heraus, lediglich 167 Bequerel bei der Messung des Umweltministeriums. Dietrich Pax: „Wem soll ich glauben?“
Sepp Bichler von der Bayerischen Agraropposition ergänzt: „Als ich am Montag beim Landratsamt in Aichach angerufen habe, hatten die noch nichts gemessen. Dafür hieß es, man wolle in den nächsten Tagen einen Beamten nach Augsburg schicken, der sich das Meßgerät erklären lassen soll.“ Unabhängig voneinander sind bei den Landwirtschaftsämtern Fernschreiben des Umwelt- und Innenministeriums eingegangen. Zwar sei das Gemüse in Südbayern nicht mit mehr als den erlaubten 250 Bequerel/kg belastet, doch genüge es, das Gemüse nur ordentlich zu waschen, und alles sei in Butter.
Das Innenministerium wiederum sprach von „nicht verkehrsfähigen Produkten“. Was das bedeu-
tet, wussten auf Rückfragen die zuständigen Beamten auch nicht zu erklären. Ein eindeutiges Verkaufsverbot war es jedenfalls nicht Als Angelika Schubert von der Initiative der selbstorgani-
sierten Kindertagesstätten in München an das Mikrophon geht, bekommt der Protest eine neue, dramatische Dimension: „Seit einer Woche sind unsere Kinder verändert. Ich versuche seit einer Woche, in München nichtverseuchtes Getreide aufzutreiben. Es gibt keines mehr.“ Schon nach wenigen Sätzen gibt sie auf. „Ich kann nicht mehr“, Tränen schießen ihr in die Augen. Zusammen mit ihrem Mann bereitet die Dokumentarfilmerin einen Film zum biologisch-dynamischen Land-
bau vor. Während sie mit besorgten Müttern spricht, dreht ihr Mann die Szenerie am Demonstra-
tionsort.
Ihre Tochter Julia (3) sieht Angelika Schubert jetzt mit anderen Augen an: „Was immer du jetzt an den Kindern beobachtest, kann ganz harmlos sein, es kann aber auch etwas ganz anderes sein …“
Ihr Mann und sie wollen jetzt ihre ganze Kraft in ihre Arbeit stecken. Diesen Film noch fertig ma-
chen und dann nichts wie weg, auf einen längeren Urlaub …. Ich beneide jene Leute, die gar nicht wissen, was passiert ist.“ –
Ejo Eckerle
Münchner Stadtzeitung vom 16. Mai 1986, 13.