Materialien 1986
Knatsch bei den Ärzten
Wie politisch darf ein Ärzteverein sein? Die Gretchenfrage stellt sich nun schon zum zweitenmal für den Ärztlichen Kreis- und Bezirksverband München (ÄKVB). Grund: Die Regierung von Oberbayern hat als Rechtsaufsichtsbehörde Beschlüsse, die vom höchsten Organ des Verbandes, der Mitgliederversammlung, gefasst wurden, wie schon im Jahr zuvor, kassiert. Dort, in einer teilweise erregten Diskussion im Pschorr-Keller, konnte sich eine Ärztegruppe durchsetzen, die für sich das Recht herausnimmt, über den Rand der Gebührenverordnung hinauszublicken. Die Rede ist vom Antrag, der da lautet: „Da die medizinischen Auswirkungen radioaktiver Freisetzung nicht vorhersehbar und schon gar nicht beherrschbar sind, fordert die Mitgliederversammlung des ÄKBV von den staatlichen Stellen 1. Sofortiger Rückzug aus der atomaren Energiegewinnung 2. Stop der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf 3. Sofortiger Abzug aller atomarer Waffen aus der BRD.“
Ein Antrag, der nach Willen der Mitglieder auch im Organ des ÄKBV hätte abgedruckt werden sollen. Genau das ist jetzt von der Regierung von Oberbayern verhindert worden. Pressesprecher Schmidt meint dazu; „Ein einzelner Arzt kann und darf seine Meinung sagen, auch eine ärztliche Gruppierung, aber so ein Beschluss geht über die satzungsgemäßen Aufgaben des ÄKBV hinaus.“
Der ÄKBV ist eine Körperschaft öffentlichen Rechts. Jeder der 9.547 in München zugelassenen Ärzte muss ihr angehören. Nun ist es aber nach dem Kammergesetz solchen, quasi halbstaatlichen Organisationen, untersagt, allgemeinpolitische Aussagen zu treffen und kundzutun.
Natürlich stecken hinter den Auseinandersetzungen, die bei der Mitgliederversammlung geführt wurden, handfeste politische Querelen. Dem Vorstand ist die Gesinnung der fortschrittlichen Ärztegruppe nicht ganz geheuer. „Das sind Sozialrevolutionäre marxistischer Prägung. Die kommen aus der Dutschke-Generation, haben den Marsch durch die Institutionen durch und sind jetzt bei den Ärzten angekommen“; Dr. med. Ernst Theodor Mayer, 2. Vorsitzender des ÄKBV, versteht die Welt nicht mehr. Für ihn ist ganz klar, was die Mediziner von der Vereinigung „Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ (IPPNW), betreiben: „Sowjetische Westpolitik“. Immerhin, so halten Herr Doktor zu Gnaden, gäbe es eine große Gruppe darunter, die im guten Glauben handelten, also gar nicht wüssten, welch finstere Macht sich hinter solchen Wortführern wie Dr. Wulf Dietrich verbergen … Die Tschernobyl-Beschlüsse bildeten das Schlusslicht der Mitgliederversammlung, abgehakt unter dem Tagesordnungspunkt „Verschiedenes“. Ein Großteil der Ärzte, meist Kollegen aus dem konservativen Lager, waren bereits gegangen.
Zuvor wurde über die Änderungen der Wahlordnung beraten. Jetzt sollen auch kleinere Ärztekoalitionen wie z.B. die IPPNW die Möglichkeit haben, Mitglieder ihrer Couleur in den Vorstand zu hieven. Im Herbst stehen Neuwahlen zum ÄKBV-Vorstand an.
Vielleicht gelingt es dann Dr. Mayer, die rund 600 Ärzte im gesundheitspolitischen Ausschuss der CSU zu mobilisieren, damit die von ihm befürchtete Palastrevolution verhindert werde.
Ejo Eckerle
Münchner Stadtzeitung vom 30. Mai 1986, 183.