Materialien 1986
Erntedank
Überarbeitetes Manuskript einer Ansprache von Dr. Franz Zite-Ferenczy, Schwabinger Eltern gegen Kernkraftnutzung, gehalten anlässlich einer Erntedankveranstaltung der Mütter gegen Atomkraft e.V. am 5.10.1986 auf der Münchener Freiheit
Liebe Mütter, Väter und Kinder, liebe Mitbürger!
Ich möchte Ihnen ein paar Worte sagen in Ergänzung zu unserer kleinen Plakatausstellung, die Sie dort drüben sehen können. Ich tue das auf die Gefahr hin, künftig auch unter die „selbsternannten Experten“ gerechnet zu werden. Aber ich will nicht als Physiker zu Ihnen reden, sondern als be-
sorgter Mitbürger und Mitmensch, und ich will einfache Gedanken aussprechen, die Sie sofort überprüfen können. Denn wenn einer sagt: Das ist für einen Laien zu kompliziert, als dass er dies verstehen könnte, und wenn er dann zur Untermauerung dieser Behauptung gleichsam anfängt, wissenschaftlichen Nebel zu werfen, und fachchinesisch redet, dann hat das mit Wissenschaftlich-
keit gar nichts zu tun, und ich halte von einem solchen Mann nichts, selbst wenn es sich dabei um einen wirklichen Experten handeln sollte.
Erntedank — die Menschen danken da seit Jahrhunderten, seit Jahrtausenden wohl dafür, dass die Saat, die sie dem Boden übergeben haben, aufgegangen ist und reiche und gute Frucht gebracht hat. Auch Wissenschaft und Technik haben ihre Saat ausgestreut, und wir leben in einer Zeit, wo wir damit beginnen, die Ernte einzubringen. Aber wie es bei den Früchten des Feldes gute Früchte gibt, die man genießen kann, aber auch Unkraut, das man ausreißen und in das Feuer schmeißen muss, so auch bei den Früchten des menschlichen Verstandes. Die Frage, was ist Unkraut, was gute Frucht, ist hier freilich nicht so einfach zu beantworten und dem Meinungsstreit der Experten, der Politiker, der Medienmacher und anderer Macher unterworfen. Ist die Kernkraft ein Unkraut?
Um das zu entscheiden, muss man ihren Nutzen gegen ihren Schaden aufwiegen. Als ich Gymnasi-
ast war, wurde mir von den damaligen, von mir bewunderten Experten das goldene Atomzeitalter verheißen, das spätestens im Jahre 2000 Wirklichkeit sein sollte: Da sollten die Wüsten blühen und in der Antarktis Zitronen geerntet werden und die Menschen machten Urlaub auf dem Grund des Stillen Ozeans und auf der Rückseite des Mondes, wohin man zweimal täglich mit einem öf-
fentlichen Pendeldienst kommen konnte. Der Hunger auf der Welt war abgeschafft ebenso wie der Krieg – alles dank des Atoms. Wie sieht dagegen die Wirklichkeit aus? Wir kochen mit dem Atom Wasser, und mit dem Wasserdampf erzeugen wir Strom. Den Strom – genauer: den Atom-Über-
schußstrom — brauchen wir entweder zum Vergeuden oder dafür, dass unsere Industrie tausend unnötige Dinge mehr produziert. Um einen Überschuss an Strom zu erzeugen — wenn wir diesen denn benötigten! — bedürfte es nicht der Kernkraft. Auf dem Aufkleber einer Bürgerinitiative habe ich einmal dafür folgende griffige Formel gesehen: ICH BIN DER STROM. MICH GIBT’S AUCH OHNE ATOM.
Die Wirklichkeit sieht so aus, dass Hunderttausende, nein, Millionen von Menschen in eine tief-
greifende Angst gestürzt sind um ihr Leben und mehr noch um die Zukunft ihrer Kinder und Kin-
deskinder. Und die Wirklichkeit sieht so aus, dass über der Kernkraftfrage der vielbeschworene Konsens der Demokraten zu zerbrechen droht, wenn bedenkenlos so weitergemacht wird wie bisher. Letzterer Gefahr soll durch mehr Polizei und härtere Gesetze, ersterer Besorgnis durch mehr Experten und „Harmonisierung“ der Grenzwerte begegnet werden.
Die Experten haben uns vorgerechnet, dass die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines GAUs in einem Kernkraftwerk bei 1 zu 100.000 oder so liegt. Wenn aber gleichzeitig 500 Kernkraftwerke auf der Welt in Betrieb sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es irgendwo einen GAU gibt, bloß noch 1 zu 200. Zudem weiß niemand, auch kein Experte, wann das Unheil zuschlägt, ob einmal in zweihundert Jahren, oder gar zweihundertmal in einem Jahr. Tatsächlich hatten wir in zwanzig Jahren Kernkraftnutzung bereits drei schwere Unfälle: einen mehr als zehn Jahre perfekt vertusch-
ten in Sibirien, dann Harrisburg, und jetzt Tschernobyl. Und es ist kein Zufall, sondern Statistik, dass diese Unfälle gerade in den Ländern waren, wo die weitaus meisten Kernkraftwerke laufen.
Wie die Gesetze des Unwägbaren arbeiten, hat uns das Beispiel der amerikanischen Weltraumfahrt gezeigt. Dort ist die Sicherheitstechnik gewiss nicht weniger weit entwickelt als bei der Kernkraft, und trotzdem hat es binnen weniger Monate drei ganz verschiedene Raketentypen vor den Augen einer ungläubig-entsetzten Weltöffentlichkeit auf spektakuläre Weise zerrissen. So schlau die Ex-
perten – hinterher – auch immer sein mögen: Es gilt auch hier die alte Weisheit, dass ein Unglück selten alleine kommt. Bemerkenswert an der Challenger-Katastrophe ist, dass jetzt auf mehrere Jahre hinaus keine weitere Space-Shuttle mehr fliegt, und ich behaupte, wenn Tschernobyl in Bi-
blis, Stade oder Gundremmingen stattgefunden hätte, würde jetzt bei uns auf Jahre hinaus kein Kernkraftwerk mehr laufen, und sei es auch nur ob des politischen Druckes unserer Nachbarn, und die ganzen Behauptungen von der wirtschaftlichen Unvertretbarkeit eines sofortigen Ausstieges wären als das entlarvt, was sie sind: dummes Geschwätz.
Nachdem also inzwischen das Argument mit der äußerst geringen, ja verschwindenden Unfall-
wahrscheinlichkeit nicht mehr so recht zieht, hat man sich jetzt auf ein anderes verlegt: Ein Super-
GAU sei, wie man sieht, überhaupt nicht besonders schlimm, oder, um im Originalton von Profes-
sor Heinz Haber in der Apotheken Umschau (AUA !) 10/86 zu sprechen: „… Ich kann jedoch nur immer wieder beruhigen und z.B. sagen, dass, was für den Laien wie ein Großbrand aussah, für den Fachmann nur ein brennendes Streichholz war, das man auspusten konnte.“ Und tatsächlich läuft in Tschernobyl ja schon der erste oder gar auch der zweite Reaktorblock wieder!
Warum, liebe Mitbürger, geht denn ob der Wiederinbetriebnahme von Tschernobyl jetzt nicht ein einziger großer Schrei des Protestes von unserem auswärtigen Amte gen Osten: Was geht in den Köpfen von Politikern vor sich, die, anstatt mit allen politischen und wirtschaftlichen Mitteln dage-
gen zu protestieren, auch noch zulassen, dass dieser frevlerische Übermut der Sovjets, diese be-
wusste Inkaufnahme einer neuerlichen Verseuchung eigenen und fremden Lebens auch noch als Argument gegen die mahnenden Stimmen im eigenen Lande ins Feld geführt werden darf: Diesel-
ben Politiker, die, anstelle Mitgefühl mit den Ukrainern zu zeigen, als erstes nach Schadenersatz gerufen und die auf Wahlkampfveranstaltungen den Tschernobyl-Reaktor als echt russisches Glump bezeichnet haben!
Über einer solchen Denk- und Handlungsweise bleibt mir die Spucke und die Sprache weg, aber auf den Unfalltyp von Tschernobyl und auf die Frage, wie bei uns ein SuperGAU aussehen würde, möchte ich doch kurz eingehen. Ich denke, die russischen Experten hatten genauso wenig wie die unsrigen voraussehen können, dass ein gnädiger Wind den freigesetzten Atommüll Tausende Kilometer weit wegwehen und ausgerechnet bei den Feinden ihres politischen Systems abladen könnte. Aber im Nachhinein stellt sich heraus, dass die fehlende äußere Sicherheitshülle, das „Atomei“, ein ungeplanter — oder vielleicht doch geplanter? — hoher Schutzfaktor für die eigene Bevölkerung im näheren Umkreis des Reaktors gewesen ist.
Wer das nicht glaubt, soll das folgende kleine Experiment machen: Sie blasen zwei Eier aus und füllen sie teilweise mit Wasser. Das eine Ei verschließen Sie wieder vollständig und sehr gut, beim anderen lassen Sie das eine Loch offen. Dann setzen Sie zuerst das offene Ei, mit dem Loch nach oben, versteht sich, über eine Flamme, und über das Ei blasen Sie mit einem eingeschalteten Fön, so dass der austretende Dampf weggeweht wird. Dann haben Sie in etwa das Modell Tschernobyl-GAU. Wenn Sie als nächstes einen SuperGAU Made in Germany beobachten wollen, nehmen Sie jetzt das andere, verschlossene Ei und setzen es auf die Flamme. Dann verlassen Sie aber besser den Raum und stellen, um mit Emil Steinberger zu sprechen, „Schäufeli und Putzkübeli“ bereit. „So ein ausgemachter Blödsinn“, werden jetzt zufällig hier anwesende Kernkraftingenieure sagen, „das Sicherheitskompartement hält doch!“ Und ich sage: Es hält genau solange, bis irgendwo ein-
mal das Gegenteil bewiesen ist.
Ein Wort zum Kernkraftwerkspersonal: Ich bezweifle nicht, dass es sich bei all den Wissenschaft-
lern, Ingenieuren, Technikern und Handwerksmeistern um ganz gewissen- und ehrenhafte Men-
schen handelt, und ich muss an einen Aufruf denken in der Süddeutschen Zeitung, wo mehrere hundert Kernkraftwerksangestellte um unser Vertrauen geworben haben unter anderem mit dem Hinweis, dass sie ja direkt im Kraftwerk arbeiten und dass ihre Familien zumeist direkt im Um-
kreis des Kraftwerks wohnen und leben. Ihr Vertrauen in ihre eigene Kunst und in den lieben Gott in allen Ehren, aber ich beneide diese Menschen nicht um ihren Job, wo doch gerade Tschernobyl gelehrt hat, dass sie und ihre Angehörigen als erste und am schlimmsten dran sind, wenn das Un-
mögliche eben doch passiert. Und ich weigere mich auch, in ihnen Halbgötter oder auch nur Hel-
den der Nation zu sehen: Sie sind schwache und fehlbare Menschen wie wir, und ihr Vertrauen ist nicht mehr wert als das Vertrauen irgendeines von uns, dass er am Abend heil seine Lieben wieder in die Arme schließen wird, wenn er des Morgens seinen Wagen besteigt, um eine Dienstreise an-zutreten oder die kranke Großtante in Düsseldorf zu besuchen.
Zuletzt ein Wort zu den gewählten Repräsentanten unseres Volkes. Ein Sprichwort sagt, dass der am grässlichsten schimpft, der sich im Unrecht weiß, und dass der im Walde am lautesten schreit, der Angst hat. Wenn der Volksmund hier recht hat, dann muss es um das Seelenleben großer Teile der Regierung und des Parlaments nicht zum Besten bestellt sein! Lassen Sie sich durch die Kraft-
sprüche solcher Leute nicht einschüchtern! Lassen Sie sich nicht zum Staatsfeind, zum Chaoten oder auch nur zum ewig Gestrigen stempeln, wenn Sie gegen eine weitere Nutzung der Kernkraft sind! Wie schreibt Peter Weish so köstlich in seinem Buch „Radioaktivität und Umwelt“: „Am 15. Dezember 1978 hat das Parlament einstimmig ein Gesetz beschlossen, das in Österreich die An-
wendung der Kernenergie zur Energiegewinnung verbietet. Damit wurde Österreich von einem der letzten Industrieländer ohne Atomenergie zum ersten Industrieland ohne Atomenergie.“ Was kann uns denn Schlimmeres als den Österreichern passieren? Höchstens, dass dann diese auch einmal zu uns zum Urlaubmachen kommen!
Lassen Sie sich also nicht für dumm verkaufen, sondern halten Sie sich an die vielen gewichtigen Persönlichkeiten: Pfarrer, Richter, Ärzte, Lehrer, Wissenschaftler, Dichter, Philosophen und Künstler, die warnend ihre Stimme erhoben haben. Denken Sie daran, dass so gut wie alles, was unser Leben lebenswert macht: gesunde Wohnungen, gutes Essen und Trinken, Werke der Kunst, frohe Feste, vor allem aber menschliche Zuneigung und Zusammenarbeit schon lange vor der Kernkraft da waren und geblüht haben.
Als man im sogenannten finsteren Mittelalter die großen Kathedralen und Dome gebaut hat, da haben die jungen Männer und Frauen der Gemeinde die schweren Steine auf die Höhe der Türme schleppen geholfen, und die alten Weiblein haben ihren Spargroschen geopfert, auf dass das Werk gelinge. In der heutigen, aufgeklärten Zeit werden uns für unsere Steuergelder gegen unseren Wil-
len hässliche Monstren ins Land gesetzt, in denen ein höllisches Feuer brennt, das Volk wird mit Gummiknüppeln, Reizgas und Stacheldraht von den Bauplätzen ferngehalten, und Rentner sam-
meln Steine, damit die Jungen sie über den Zaun werfen.
Verteidigen wir mit demokratischen Mitteln, aber tapfer und zäh unsere Lebensart und unser Land, ein Land, das trotz – und nicht wegen! – der Kernenergie und der „Hochtechnologie“ immer noch liebens- und verteidigenswert ist.
Geben wir bei den Wahlen den „Unbedenklichen“ ihren Denkzettel, damit auch sie ihren Ernte-
dank haben!
Dr. Franz Zite-Ferenczy
Diplomphysiker und
Privatdozent der Physiologie
Berliner Straße 74
8000 München 40
Material Cornelia Blomeyer