Materialien 1986
Viele Gruppen ein Ziel: Weg vom Atom
INITIATIVEN
Sie haben das gleiche Ziel, die gleiche Strategie und das gleiche Problem, die „Mütter gegen Atomkraft“ und die „Energiewende-Komitees“. Das Ziel: Weg vom Atom. Die Strategie: Alle Aktivitäten gehen von der lokalen Situation aus. Das Problem: Koordination der einzelnen Gruppen, um noch effektiver zu sein.
Am 11. August bekam Dr. Josef Vogl vom Bayerischen Umweltministerium ungewöhnlichen Be-
such. Da postieren sich in seinem Zimmer fünf Frauen mit vier Kindern, tragen knapp und präzise ihre Standpunkte vor und überreichen ihm eine Petition. Der Briefkopf ist schlicht: „Mütter gegen Atomkraft e.V.“ Brisant dagegen der Inhalt: „Mit Besorgnis haben wir festgestellt, dass seit Mitte Juli stark radioaktiv belasteter Klärschlamm auf landwirtschaftlichen Nutzflächen verteilt wird.“ Die Folgen für die Umwelt hat die Gruppe auch gleich berechnet: „Selbst wenn entsprechend der Klärschlammverordnung nur ein halbes Kilo Trockensubstanz Schlamm (der zum Teil noch von Mai und Juni stammt) pro Quadratmeter Erde aufgebracht wird, wird dem Boden, bezogen auf Cäsium, noch einmal bis zu 50 Prozent der Menge an Radioaktivität zugeführt, die mit den Nieder-
schlägen vom 30. April des Jahres herabregneten.“
Die Aktion ist charakteristisch für die Arbeit der Initiative, die sich nach Tschernobyl spontan zu-
sammengeschlossen hatte: vor Ort beobachten, sich kundig machen, politisch handeln. Die not-
wendige Sachkompetenz, so vermuten die „Mütter“, wird ihnen meist nicht zugetraut. Und auch der Ministerialdirigent Vogl erwartete wohl eher eine Gruppe von Hausmütterchen, die er mit ein paar Daten und Kinderfibeln vom „Hubert mit der grünen Nase“ wieder abwimmeln könnte.
Doch da irrte er. Die Untersuchung über die Bodenbelastung in Bayern, die er den Frauen auf-
tischte, kannte die Mütter-Truppe längst. Was sie brennend interessiert, erfahren sie aus diesem Papier nicht: Wie stark ist radioaktives Strontium im Klärschlamm angereichert? Welche Maß-
nahmen wurden ergriffen, um – wie von der Strahlenschutzverordnung gefordert – „jede unnöti-
ge Strahlenexposition oder Kontamination von Personen, Sachgütern oder der Umwelt zu vermei-
den“?
Den Minister angezeigt
Die bohrenden Fragen der fünf Delegierten bringen den beamteten Umweltschützer nicht aus sei-
nem Lot. Für ihn ist das Cäsium noch allemal am besten im Boden aufgehoben. Schließlich hat er die Empfehlung der Strahlenschutzkommission vom 16. Mai im Rücken, die sich über die rechtli-
chen Schranken hinwegsetzt. Seitdem „darf’ nämlich Klärschlamm auf Felder und Wiesen, der 50.000 Becquerel Cäsium 137 und 25.000 Becquerel Cäsium 134 pro Kilo Trockensubstanz ent-
hält. Das ist das 200fache des Grenzwertes, den die Strahlenschutzverordnung für die Verwertung von Klärschlamm als Dünger unter Einbeziehung der Bodenvorbelastung vorschreibt. Der Ruthe-
nium- und Strontiumgehalt ist dabei noch nicht einmal berücksichtigt!
Einen Monat nach ihrem Besuch bei Vogl wartet die Mütter-Initiative noch immer auf die ange-
kündigten schriftlichen Stellungnahmen des Ministeriums. Die Naturwissenschaftlerinnen in der Gruppe lassen nicht locker. Nach wie vor werden sie das Gefühl nicht los, dass längst nicht genü-
gend Aufwand getrieben wurde, den Eintritt der radioaktiven Substanzen aus dem Klärschlamm in die Nahrungskette zu verhindern. Vielmehr befürchten sie, dass durch Jonglieren mit Mittelwerten und dubiosen Faktoren wieder einmal der Weg für die wirtschaftlichste Lösung geebnet wird. Die wirklichen Folgen für Boden, Vegetation, Tier und Mensch, so konnten sie dem Fachblatt Korres-
pondenz Abwasser entnehmen, sollen erst in den nächsten Jahren erforscht werden. An diesem „Großversuch“ teilzunehmen, lehnen die Frauen jedoch kategorisch ab. Und deshalb haben sie dem Minister jetzt auch eine Strafanzeige wegen umweltgefährdender Abfallbeseitigung ins Haus geschickt.
Auftakt für diese und zahlreiche andere Aktionen war der Muttertag nach Tschernobyl. „Wir ent-
flohen der Ohnmacht, indem wir uns mit tausend anderen Betroffenen auf dem Münchner Ma-
rienplatz trafen und dort unsere verseuchten Blumensträuße auf dem Pflaster zu Strahlenzeichen auslegten.“ Wir, das war ein im Landkreis Starnberg und im Isartal ansässiger Mütterkreis. Er brachte eine Lawine ins Rollen.
Überall im Bundesgebiet begannen Frauen dem Informations-GAU zu trotzen und griffen zur Selbsthilfe. Willkommene Ansprechpartner waren von Anfang an die Starnberger Mütter, die sehr rasch ihre schlummernden Fähigkeiten mobilisierten und sich in die Öffentlichkeit vorwagten. Die Flut von Anfragen lässt sie seitdem nicht mehr zur Ruhe kommen.
Um die Organisation in den Griff zu kriegen, gründeten sie den Verein „Mütter gegen Atomkraft“. Inzwischen speichert der Computer schon mehr als 3.000 Adressen von zahlenden Mitgliedern, die ihrerseits nicht selten wieder Keimzellen für kleine regionale Gruppen sind. Dank dieses „Schneeballsystems“ bleibt die Mütterbewegung flexibel und wirksam. Denn nur lokale Initiativen können ihre Aktivitäten ganz gezielt an die Situation vor Ort anpassen.
Für die Unterstützung mit Hintergrundwissen sorgen verschiedene Arbeitskreise. Sie helfen, In-
formationsstände aufzubauen, beraten bei der Organisation von Mahnwachen und Demonstratio-
nen, stellen Veranstaltungskalender zusammen und geben Ratschläge zum Umgang mit Mager-
milchpulver und zur strahlenarmen Speiseplangestaltung — um nur einige Arbeitsschwerpunkte zu nennen. Nach kompetenten Beratern müssen die „Mütter“ nicht erst lange suchen. Sie bieten sich inzwischen von selber an.
So braucht sich der junge Verein auch nicht zu scheuen, sich mit wissenschaftlichen Fragestellun-
gen zu befassen. Beispiel: Kinderärztegruppe. Sie sucht zusammen mit dem Umweltinstitut in München nach Möglichkeiten, wie die gesundheitliche Entwicklung der nach Tschernobyl Gebo-
renen präzise verfolgt und Vergleiche mit den Ergebnissen der vorangegangenen Jahre angestellt werden können.
Jetzt Druck machen
Die Betroffenheit über die russische Reaktorkatastrophe und die Wut über das miserable staatliche Krisenmanagement weckte den Unternehmungsgeist und schürte den Widerstand. Jetzt heißt es dranbleiben, weitermachen, den politischen Druck forcieren. Um sich gegenseitig den Rücken zu stärken, will die Koordinationsgruppe von „Mütter gegen Atomkraft“ die vielen über die Bundes-
republik verstreuten Einzelinitiativen zu einem dichten Netz verknüpfen. Das nächste bundesweite Treffen soll Mitte November in Detmold stattfinden.
Krise bedeutet Gefahr und Chance. Standen in den ersten Wochen nach Tschernobyl vor allem die Maßnahmen zur Verringerung der Strahlenbelastung im Zentrum des öffentlichen Interesses, so müssen jetzt mehr und mehr die Zukunftsperspektiven in den Vordergrund rücken. Politisches Ziel:
„Im Interesse des Lebens unserer Kinder fordern wir sofortige Maßnahmen zur Einstellung von Betrieb, Bau und Planung aller Kernkraftwerke und die Erschließung alternativer Energiequellen …“ Mehr als 35.000 Menschen haben ihre Unterschrift unter diesen Appell der Mütterinitiative gesetzt. Begleitet von aufsehenerregenden Veranstaltungen wie dem „Künstler-Atom-Spektakel“ in Köln oder den Mahnwachen vor dem Bundeshaus und den Botschaften in Bonn, wurden die unter-
schriebenen Listen am 22. Oktober den Fraktionen des Bundestages überreicht.
Anders als es die Verfechter der Atomenergie gerne darstellen, halten heute die Kernkraftgegner dem geballten Sachverstand der Energiewirtschafts-Lobby mehr als ihre Ängste entgegen. Nicht wenige verfügen über ein profunderes „Ausstiegs-Wissen“ als so mancher Regierungsbeamte. Dazu hat nicht zuletzt das Öko-Institut in Freiburg entscheidend beigetragen. Auch der Energie-Arbeits-
kreis von „Mütter gegen Atomkraft“ bedient sich für seine Flugblätter der Publikationen des alter-
nativen Instituts.
In den Köpfen der Öko-Wissenschaftler kreist das Thema „Kernenergie“ offiziell seit neun Jahren. Schon 1980 legten sie in ihrem Buch „Energiewende“ dar, dass es zur Sicherung unserer Energie-
versorgung des riskanten Spiels mit dem „atomaren Feuer“ gar nicht bedarf. Tschernobyl gab der „Wende“ einen unverhofften Impuls. Das Freiburger Institut nützte die Chance der „Droh-Kata-
strophe“ (SPD-Geschäftsführer Peter Glotz) und startete Anfang Mai die Unterschriftenaktion „Energiewende statt Strahlung ohne Ende“. Gleichzeitig rief es zur Gründung regionaler „Energie-
wende-Komitees“ auf. Denn: Eine sozial und ökologisch orientierte Energiepolitik lässt sich nur realisieren, „wenn sie von unten über die Kommunen erzwungen wird.“ Nur so lasse sich von dem nicht transportierbaren Energieeinsparpotential vor Ort profitieren, nur so ließen sich regenerative Energieträger sinnvoll einsetzen, könne gleichzeitig Strom und Wärme aus Blockheizkraftwerken gezapft und der Bürger bei der Ausgestaltung der Energieversorgung demokratisch beteiligt wer-
den.
Noch kein halbes Jahr nach dem Aufruf konnte das Öko-Institut bereits tausend Rückmeldungen verbuchen. 400 kamen von startbereiten Gruppen, die sich entweder neu gegründet haben oder schon länger als Bürgerinitiative zusammenarbeiten. Der Rest sind Einzelpersonen.
Um möglichst viel zu erreichen, müssen sich die „Energiewender“ zuerst einmal ein genaues Bild über die Situation der Energieversorgung in ihrer Gemeinde machen. Zu ermitteln sind unter an-
derem:
○ Wie ist der Energieverbrauch der Gemeinde strukturiert und welche Anteile haben die einzelnen Energieträger?
○ Wer ist für welche Entscheidungen im Energiebereich zuständig?
○ Welchen Spielraum lassen die vertraglichen Rahmenbedingungen?
○ Welche persönlichen, organisatorischen und finanziellen Verflechtungen bestehen zwischen den Entscheidungsträgern in der Gemeinde, und welche zwischen ihnen und der Industrie, den Ener-
gieversorgern und so weiter?
Was sich alles durchsetzen lässt und welche Wege im einzelnen beschritten werden müssen, wird von Ort zu Ort verschieden sein. Das Spektrum der konkreten Aufgaben für Initiativgruppen ist breit: Sie können
○ die Einrichtung einer unabhängigen Energie-Einsparberatung fordern;
○ sich für bestimmte Projekte einsetzen: Wärmedämmung an öffentlichen Gebäuden, Installierung von Sonnenkollektoren zur Schwimmbadheizung, Bau einer Biogas-Anlage, Instandsetzung eines kleinen Wasserkraftwerks etc.;
○ Quellen der Verschwendung aufspüren und haushaltspolitische Alternativen aufzeigen;
○ anhand der Beispiele von anderen Gemeinden kommunale Energiekonzepte entwickeln und ausarbeiten.
Das Öko-Institut leistet dabei hauptsächlich „Hilfe zur Selbsthilfe“, indem es versucht, den Komi-
tees möglichst viel von seinem Know-how in Sachen Energiewende zur Verfügung zu stellen (Re-
ferenten, Studien, Konzepte). Die Umsetzung in politisches Handeln müssen die Initiativen jedoch selbst leisten.
Geplant ist, dass die regionalen Komitees über einen längeren Zeitraum vom Freiburger Institut begleitet werden. Allerdings soll der Wissenstransfer dabei nicht nur in eine Richtung erfolgen. Durch Rückkopplung der einzelnen Gruppen mit dem Institut sollen die Erfahrungen in die wei-
tere wissenschaftliche Arbeit miteinbezogen werden. Das Öko-Institut plant, die Initiativen zu einem „Energiewende-Kongress“ einzuladen, die diesem Zweck dienen soll.
natur wird die Entwicklung der Energiewende-Komitees und anderer Gruppen weiterverfolgen. Anleitungen für Energiesparmaßnahmen im Haus, Berichte über regionale Energieberatungs-
stellen und Porträts kommunalpolitisch erfolgreicher Initiativen werden sich abwechseln. Der Redaktion sind Informationen aus den Gruppen willkommen.
Hannelore Schnell
natur –- Das Umweltmagazin 11 vom November 1986, 92 ff.