Materialien 1958
Prof. Dr. Aloys Wenzl, München, an den „Ständigen Kongress“
Herr Prof. Dr. Aloys Wenzl, München, hat an die erste konstituierende Tagung des „Ständigen Kongresses gegen die atomare Aufrüstung der Bundesrepublik“ den folgenden Appell gerichtet:
Eine doppelte Moral für das private und das politische Leben ist unmöglich. Ein Ruhm für das Menschengeschlecht sind Kriege nie gewesen. Es wäre immer eine sittliche Forderung an die Politik gewesen, dass alles geschehen müsse, um einen Krieg zu vermeiden und nichts geschehen dürfe, was ihn auslösen könnte. Heute aber hätte ein Krieg nur mehr den Namen gemeinsam mit dem, was man früher so hieß. Denn er wäre nicht mehr ein Kampf zwischen bewaffneten Fronten, sondern eine Massenvernichtung von Wehrlosen und eine Gefährdung der Menschheit, wenn nicht des Lebens schlechthin. War die Parole „mit allen Mitteln“, die uns noch in den Ohren klingt, immer unverantwortlich, so ist die Drohung „mit allen Mitteln“ heute paradox, denn sie schlösse den Selbstmord ein. Man höre auf, den Warnern die Verbreitung einer Atompanik vorzuwerfen, wenn es doch gerade die Sachverständigsten sind, die zu warnen sich verpflichtet fühlen! Ist es nicht charakteristisch, dass gerade derjenige deutsche Physiker, der sich nicht auf den Standpunkt seiner beschwörend warnenden Kollegen stellt, Pascual Jordan, doch seinerseits dringend empfiehlt, sofort mit dem Bau unterirdischer Städte zu beginnen, in denen sich die Menschen jahrelang aufhalten und an den Aufenthalt gewöhnen könnten? Aber ist das nicht ein Rat, der nur zu einem Kopfschütteln herausfordert und den man kaum ernst nehmen kann? Die unabdingbare Forderung, alles zu tun, um einen Krieg zu vermeiden, und nichts zu tun, was ihn auslösen könnte, eine Forderung, die ganz ohne Zweifel von der überwältigenden Mehrheit der Menschen aller Länder und insbesondere auch Deutschlands gestellt wird, bedeutet, dass das höchst riskante, höchst gefährliche atomare Wettrüsten eingestellt und die Verwirklichung des theoretisch allgemein anerkannten Ziels einer kontrollierten Abrüstung begonnen werden muss, indem wenigstens die ersten möglichen Schritte in dieser Richtung getan werden. Dazu gehört die Einstellung der Versuche mit den Atombombenwürfen, die schon im Frieden eine Gefahr für die Gesundheit der lebenden Menschen und erst recht eine Gefährdung für die noch ungeborenen Generationen bedeuten. Der Bayerische Senat hat diese Forderung bereits einstimmig am 12. Oktober 1956 erhoben, allerdings ohne in Bonn eine andere Resonanz zu finden als die Antwort des Herrn Bundesministers des Auswärtigen Amtes vom 23. November 1956, dass die Bundesrepublik ja auf die Herstellung von Atombomben als erster Staat der Welt ohnehin verzichtet habe! Wenn aber nun doch die Bundeswehr mit „modernsten“, also nuklearen Waffen, auch wenn es „taktische“, „nur“ von dem Grade der Hiroshima-Bomben wären, ausgerüstet werden soll und wenn Raketenbasen errichtet werden sollen, so sehen wir darin allerdings eine tödliche Gefahr besonders für Deutschland, und diese besondere Sorge müsste doch innerhalb und außerhalb Deutschlands aus der besonderen geographischen Lage und der Spaltung unseres Landes heraus verstanden werden können. Der Verzicht Deutschlands auf Raketenbasen, die natürlich in einem Kriege ein erstes Ziel des Angriffs würden, wäre aber auch ein erster Schritt auf dem Wege, alles zu tun, um einen Krieg zu vermeiden, und nichts zu tun, was ihn auslösen könnte!
All das scheint so selbstverständlich, dass man sich wundert, immer wieder nicht verstanden oder missverstanden zu werden. Aber der entscheidende Einwand lautet immer: Wenn wir auf Atomwaffen verzichten, geben wir uns dem Angriff durch Sowjetrussland preis. Aber 1. ist diese Alternative: „Steigerung der Atomrüstung und Teilnahme an ihr oder Verzicht auf die Freiheit“ falsch. Selbst wenn man die Sowjets für reine Teufel hält, was freilich dann überhaupt eine friedliche Lösung durch Verhandlungen ausschlösse, dürfte man sie wohl kaum für so dumme Teufel halten, dass sie nicht wüssten, dass auch ein Krieg mit „konventionellen“ Waffen, wie das verharmlosende Wort heißt, für sie ein sehr hohes Risiko und selbst ein Sieg für sie mit Sicherheit ein sehr negativer Gewinn wäre. 2. wäre es doch wohl für einen Christen christlicher, dass er noch lieber eine Verfolgung auf sich nähme und ihr widerstünde, als dass er ihr zu entgehen suchte durch wahllose Vernichtung von Millionen Wehrloser auf beiden Seiten und — immer wieder sei es gesagt — durch die unabsehbaren Folgen für die Nachkommen der eventuell noch überlebenden Menschen. Ganz abgesehen davon aber würde 3. von der Atomausrüstung der deutschen Bundeswehr zwar nicht die Entscheidung über Krieg und Frieden und nicht der Totalausgang eines Krieges abhängen, wohl aber die wahrscheinliche Vernichtung unseres Volkes in einem Krieg und die dauernde Gefahr, auch so lange noch Frieden ist.
Das Endziel muss gewiss die kontrollierte Atomabrüstung und schließlich ein Abbau der Rüstung sein, der Anfang aber muss durch die ersten Schritte gemacht werden des beiderseitigen Verzichtes auf weitere Versuche und des kontrollierten beiderseitigen Verzichts auf Raketenbasen in einer atomwaffenfreien Zone. Angesichts der völlig neuen Situation ist ein Umdenken gefordert gegenüber den alten Denkgewohnheiten.
Gelsenkirchener Protokoll … und Du? Herausgeber: Präsidium des „Ständigen Kongresses“ aller Gegner der atomaren Aufrüstung in der Bundesrepublik, Hamburg 1958, 9 f.