Materialien 1950
Hinter der Kulisse
Zusammenkunft von Mitgliedern der Untergrund-NSDAP irgendwo in Deutschland im Frühjahr 1951. Ein Landhaus in gebirgiger Gegend, darin großer, elegant möblierter Parterre-Raum mit Blick auf Terrasse und Garten. Drei Herren in Klubsesseln um einen Rauchtisch, auf dem Gläser und Aschenteller stehen. Im Knopfloch des Kragenspiegels, wo früher einmal das Parteiabzeichen mit dem Hakenkreuz gesessen haben mag, erblickt man bei diesen Drei jetzt Plaketten mit Nummern darauf, und zwar sind es die Zahlen 17, 304 und 826. Nr. 17, ein vital aussehender Sechziger, der eine dicke Zigarre zwischen Daumen und Mittelfinger balanciert, führt das Wort.
17:
Gut, wollen wir jetzt zur Sache kommen! Ich habe Sie hierher gebeten, um mit Ihnen in aller Freundschaft über Ideen und Vorstellungen zu sprechen, die Sie, wie uns berichtet wurde, in den Ihnen anvertrauten Organisationsteilen propagieren. Sie verkünden dort Auffassungen, die Sie, vielleicht ohne dass Sie selbst es ahnen, in bedrohliche Nähe der Kommunisten rücken, und dementsprechend machen Sie auch Stimmung gegen die westlichen Alliierten, die Sie als Kriegshetzer und Wallstreet-Lakaien bezeichnen. Stimmt das ungefähr?
826:
Alles andere wäre wohl für die Jugend, mit der wir es hauptsächlich zu tun haben, wenig attraktiv. Im übrigen bin ich auch persönlich davon überzeugt, dass der Nationalsozialismus, wenn er in diesem Lande je wieder zur Macht kommt, extrem und kompromisslos antibürgerlich sein wird.
304:
Ich für meine Person glaube, dass wir dem deutschen Volk einen Krieg in der nächsten Zeit unter allen Umständen ersparen sollten; das vor allem. Wir brauchen Frieden, schon um erst einmal Kräfte zu sammeln. Kommt es aber ungeachtet solcher Bemühungen trotzdem zum Kriege, dann … ja, dann weiß ich wirklich nicht, ob das deutsche Volk nicht vernünftig daran täte, sich die Entscheidung möglichst freizuhalten. Schließlich ist es ja gar nicht so verrückt, sich vorzustellen, dass es eines schönen Tages, wieder geeint unter dem Hakenkreuz und Seite an Seite mit den Völkern des Ostens, dem verfaulten bürgerlichen Westen den Garaus macht.
17:
Sie sprechen rückhaltlos, das ist schon nicht übel. Ich kann mir auch denken, dass die Verbindung zu Ihnen von oben her in der letzten Zeit recht mangelhaft gewesen ist, so dass Sie eben unmerklich abglitten. Wie dem aber auch sei, so spitzen Sie jetzt einmal gefälligst die Ohren und hören Sie mir eine Weile zu! Sie werden hier allerlei nachzulernen haben, und ich hoffe für Sie, dass Sie die Gelegenheit zu nützen verstehen.
826:
Ist das etwa eine Drohung?
17:
I wo! Die Partei hat es doch nicht nötig zu drohen. Dass Sie hierher beordert wurden und dass nun ich hier, als Beauftragter der Führung, kostbare Zeit daran wende, Sie etwas zurechtzubiegen, stellt für Sie, wie gesagt, eine besondere Chance dar, die Sie wahrnehmen werden. Lassen Sie freilich diese Chance ungenützt vorübergehen, womit ich nicht rechnen will, dann wissen Sie ja, was Sie riskieren. Die Bedingungen der illegalen Arbeit sind in einer Zeit wie dieser anders als vor 1933, wo man auch wieder mal privat werden konnte.
304:
Was haben Sie uns also zu sagen, Nr. 17?
17:
Antibürgerlich … fangen wir doch gleich mit „antibürgerlich“ an! Von welchen Standorten aus kann man wohl antibürgerlich gesinnt sein? Von dem der Boheme zum Beispiel. Aber das kommt doch für Sie kaum in Frage. So bleibt eben nur der proletarische oder deutlicher: der kommunistische Standort. Sehen Sie das ein?
826:
Der deutsche Proletarier ist schon recht; nur dass eben die Marxisten ihn immer wieder verführen und verderben …
17:
Schön, packen wir die Sache gleich anders an! Wo glauben Sie, dass der Nationalsozialismus sich in Fleisch und Geist zuhause fühlen kann, bei den Bürgern oder bei den Proletariern?
826:
Der Nationalsozialismus, so hat man uns gelehrt, ist die Überwindung des Klassenkampfes durch den Geist der Volksgemeinschaft. Und wenn Sie sich genau erinnern, dann wissen Sie auch, dass der Führer in seinen letzten Lebensjahren den bedingungslos opferbereiten deutschen Proletarier turmhoch über den deutschen Bourgeois gestellt hat, der Opferbereitschaft immer nur mimt!
17:
Der Führer ist in diesen Dingen schwerlich über seinen Tod hinaus kompetent. Außerdem war er allzeit mehr ein Stimmungsmensch als ein Politiker. Schließlich hat in ihm die Wiener Asylzeit sein Leben lang nachgewirkt, sodass er nie recht darüber hinwegkam. Wichtiger als das ist aber wohl die Tatsache, dass es sich einfach nicht gehört, an Vorstellungen, deren einziger Sinn die Agitation ist, selbst wie ans Evangelium zu glauben. Mit anderen Worten: Der Klassenkampf, meine lieben jungen Freunde, ist eine Realität, die durch keinen Geist der Volksgemeinschaft real wieder aus der Welt geschafft wird. Das bedeutet nicht, dass diese Volksgemeinschaft zum alten Eisen gehört, denn man kann ein Volk, das vom Klassenkampf unerträglich geschüttelt wird, durch eine klug erfundene und im übrigen auch ständig im Gefühl der Menschen bereitliegende Fiktion wie die von einer den Klassenkampf für immer überwindenden Volksgemeinschaft im Handumdrehen für sich gewinnen und recht dauerhaft an sich binden. Diese geniale Agitationsidee hat ja auch den Führer aus einem anonymen Angestellten der Wehrmacht im Jahre 1919 zum Herrn und Diktator eines gewaltigen Reiches gemacht. Aber der Führer beging dann leider den verhängnisvollen Fehler, die eigene Fiktion für Wirklichkeit zu halten und seine Politik danach einzurichten. Verstehen Sie das?
826:
Ich verstehe nur, dass jetzt nicht mehr wahr sein soll, was all die große Zeit über wahr gewesen ist.
17:
Es war ja auch damals schon nicht wahr, lieber Freund! Auch damals war diese Wunschvorstellung von der unverbrüchlichen Volksgemeinschaft nur ein Mittel, um die besitzlose Mehrheit für die besitzende Minderheit politisch disponibel zu machen.
826:
Also Betrug!
17:
Betrug — welch ein hartes und schamloses Wort! Als ob es ohne Betrug je ginge, und als ob man Dinge, die schlechthin unerlässlich sind, so rücksichtslos benennen dürfte! Merken Sie sich, mein Junge: Jedes Regime, ob gut oder schlecht, ist unter anderem auch eine Mischung aus Gewalt und Betrug. Nur das Mischungsverhältnis ist nicht immer das gleiche. In jedem Regime, ob Diktatur oder Demokratie, muss das Volk an etwas glauben, das so, wie es eben geglaubt wird, nicht stimmt noch je stimmen kann, und das nur einfältige Regenten selbst mitglauben.
826:
Dann war also der Führer in Ihren Augen einfältig, Nr. 17! Denn darauf können Sie Gift nehmen, dass der Führer an die Idee der Volksgemeinschaft fanatisch geglaubt hat!
17:
Der Führer … einfältig? Nun, das will ich nicht sagen. Der Führer hat es schon recht gemacht. Er hat es eine lange Zeit über sogar ausgezeichnet gemacht, und erst so um 1941 herum begann er zu vergessen, dass der von ihm geschaffene Nationalsozialismus seinem Wesen nach nichts anderes als eine End- und Bestform der deutschen Bürgerlichkeit war. Drum passierte dann ja auch die alberne Sache mit dem 20. Juli.
304:
Wieso, das begreife ich nicht. Die Verräter des 20. Juli …
17:
Verräter … Papperlapapp … überlassen Sie doch solche idiotischen Schimpfwörter der Basis, wo man von Politik nichts versteht und wo man ein Muster von einem Nazi ist, wenn man nur hübsch glaubt und pariert! Verräter … ! Ich kann Ihnen heute offiziell mitteilen, dass die Männer des 20. Juli durchaus nicht die Narren und Schufte waren, als die wir sie hinstellen mussten. Wären sie erfolgreich gewesen, dann hätte ihnen die Elite der NSDAP zugejubelt, und so wären wir auch gleich die wirklichen Narren und Schufte losgeworden, die den Nationalsozialismus so fürchterlich kompromittiert haben.
304:
Aber ich bitte Sie, Herr, das Attentat auf den Führer …
17:
Na ja, der Führer hat sich, wenn man so sagen will, des Vertragsbruches schuldig gemacht, und da griffen nun eben die geprellten Vertragspartner im Interesse des Ganzen zu dem in solchen Fällen üblichen Mittel des Attentats. Pech war, dass es schief ging — das ist alles.
826:
Das ist ja unerhört!
17: Alles Neue, auch alles Richtige fängt damit an, dass es unerhört ist. Wenn ich von Vertragsbruch sprach, dann (meinte ich eben die natürliche Zusammengehörigkeit von Nationalsozialismus und deutschem Bürgertum, und gegen dieses elementare Verhältnis hatte der Führer viele Jahre zuvor beharrlich gesündigt, indem er den Krieg ausweitete, indem er hervorragende Leute wie Blomberg, Fritsch, Brauchitsch, Schacht und Papen zum Teufel jagte, indem er sich von Derwischen und Hanswursten beraten ließ und so weiter und so weiter. Trommler sind schon recht, solange man noch unterwegs ist; ist man aber am Ort der Entscheidung angelangt, dann braucht es Köpfe, und ein Kopf war weder Hitler noch einer seiner Lieblinge, die bestenfalls untergehen konnten.
826:
Sie behaupten also allen Ernstes, Nr. 17, dass der Nationalsozialismus von Anfang an nur als Hilfstrupp der deutschen Bourgeoisie gedacht war?
17:
Gedacht? Er ist, wie ich Ihnen schon sagen durfte, die Best- und natürlich insofern auch die Ausnahmeform der deutschen Bürgerlichkeit und meinetwegen auch der deutschen Bourgeoisie, wenn Sie schon unbedingt wie ein Marxist reden müssen. Und falls Sie jetzt etwa meinen möchten, es sei wenig oder gar nichts, die Bestform der herrschenden Klasse eines Volkes wirklich zu sein, so kann ich Sie nur auf die Amerikaner verweisen, die glücklich wären, wenn sie in ihrer Bewährungsstunde so etwas zur Verfügung hätten, und die deshalb auch eine uneingestandene Sympathie für uns haben. Im übrigen bestätigen die Entwicklungen nach 1945 genau diese unsere Definition, nichts anderes. Der Nationalsozialismus war die Bestform, er war aber als solche auch die Ausnahmeform des deutschen Bürgertums, und so sehen wir denn heute in der Bundesrepublik mit geradezu musterhafter Deutlichkeit, wie dieses zur Normalität zurückgekehrte deutsche Bürgertum insgeheim und unbewusst seine Bestform sofort wieder anzustreben versucht. Ganz abgesehen davon, dass die echten Nazi, die 1945 hätten vogelfrei werden sollen, in diesem deutschen Bürgertum ihre zuverlässigsten Schützer und Prellböcke fanden. Genau genommen sind wir Nationalsozialisten ja heute im deutschen Westen schon wieder halbwegs an der Macht, nur dass wir eben nicht direkt, sondern vorerst noch durch das Medium der normalen Bürgerlichkeit wirken, Diese Demo-Spießer mit dem farbechten schwarz-weiß-roten Herzen, die da regieren, besorgen für uns gewissenhaft alle Vorarbeit: Sie haben uns verteidigt, als es brenzlich war, sie haben uns wieder in ihren Staatsapparat eindringen lassen, sie haben die wirklich gefährlichen linken Demokraten zurückgedrängt und im wesentlichen sogar schon schachmatt gesetzt, sie bereiten auch außenpolitisch die Wiederkunft Deutschlands als Großmacht vor, und wenn wir in Bälde eine Armee haben werden, dann ist diese Armee, sie mag tausendmal dem Westen zugeordnet sein, ein Vorteil für uns Nationalsozialisten und nicht etwa einer für diese unheilbar dummen Demokraten. Gleichwohl, die Leute, die jetzt in der Bundesrepublik so treu für uns arbeiten, haben von uns nichts zu befürchten; wir werden ihnen sogar, wenn es soweit ist, die Pensionen in die Schweiz überweisen.
826:
Es ist also nur typisch, dass die Amerikaner unterm Beifall des deutschen Spießbürgers Krupp von Bohlen und Halbach freigelassen haben, während Leute wie Pohl und Ohlendorff auf den Henker warten.
17:
Gewiss, typisch, aber auch ganz in der Ordnung, wenn Sie gestatten. Pohl und Ohlendorff haben für uns höchstens noch agitatorischen Wert, und wir freuen uns natürlich, wenn sich jetzt sogar Geistliche erbieten, ihre Stelle am Galgen einzunehmen. Aber im übrigen sind diese Burschen tatsächlich nichts weiter als eben solche Partei-Derwische, wie sie bereits der 20. Juli hätte zur Strecke bringen sollen. Leute wie Pohl und Ohlendorff sind schuld daran, dass wir damals so jämmerlich scheiterten, damit Sie es nur wissen. Krupp hingegen — das ist ganz was anderes. Die Rehabilitierung des Herrn von Bohlen und Halbach bedeutet politisch, dass die ewige Ausgangsstellung des Nationalsozialismus, die von damals und die vom Tage X, da wir wieder offen ans Licht treten werden, von den westlichen Alliierten und vor allem von den Amerikanern offiziell anerkannt worden ist. Zählt das vielleicht nicht? Ist das nicht ein ganz phänomenaler Erfolg?
826:
Gewiss, aber ein Erfolg der Reaktion!
17:
Selbstverständlich der Reaktion, wie denn nicht? Heutzutage gibt es nur eine Aktion im demagogischen Sinne, und die führt geradewegs ins Lager der Kommunisten. Im übrigen ist, was Sie da so hämisch Reaktion nennen, immer nur das Bestreben, die Nation wieder in eine Verfassung zu bringen, damit mit ihr deutsche Politik gemacht werden kann. Und das schwebte Ihnen doch eigentlich auch vor, oder nicht?
304:
Wir haben noch Ideale, und all das ist doch so fürchterlich schäbig. Jedenfalls war der Nationalsozialismus in seiner besten Zeit eine ausgesprochen revolutionäre Bewegung.
17:
In seiner wenigst besten, wollen wir lieber sagen, verlor er dann leider die Fähigkeit, sich den Idealisten, die es ja auch geben muss, als revolutionäre Bewegung glaubhaft zu machen. Nur Sie beide sind da noch übrig geblieben. Aber im Grunde und seiner Idee nach war der Nationalsozialismus immer reaktionär. Es handelte sich in seinem Fall doch wirklich nur darum, das was 1871 begonnen, 1914 fortzuführen versucht und 1918 dann leider zu Fall gebracht worden war, mit anderen und besseren Methoden neu wieder aufzunehmen und endlich zum Ziele zu führen. Und das ist doch, bei Gott, keine proletarische Sache, sondern immer nur die Sache des deutschen Bürgertums, sofern es sich eben unbehelligt fühlen durfte von irgendwelchen Behinderungen durch den Klassenkampf. Und ihm diese Behinderung vom Halse zu schaffen und es auch sonst energisch aufzumöbeln, war und ist die historische Funktion des Nationalsozialismus.
826:
Da Sind wir nun freilich fehl am Platz …
17:
Oh, sagen Sie das nicht! Im Gegenteil, fehl am Platz wären Sie beide auf Ihren Posten, die Sie ja nun wohl endgültig verlassen haben. Hier hingegen …
(Greift an einen Klingelknopf unter der Tischplatte vor seinem Sitz)
sind Sie durchaus an der richtigen Stelle. Sie bleiben jetzt eine Weile bei uns und werden so zunächst einmal davor bewahrt, dass Sie die an Ihnen zutage getretene Spezialbegabung für ideologische Entgleisungen irgendwie weiter anwenden. Außerdem tut Ihnen, wie mir scheint, Erholung not. Alles andere werden wir dann schon sehen.
826:
Sie gebrauchen also Gewalt?
17:
Das dürfte Sie als alte Nazi doch nicht befremden.
(Durch die Seitentüre treten drei kräftige Männer in einer Art Uniform. Zu ihnen:)
Die Herren wollen sich jetzt zurückziehen. Führen Sie sie bitte auf ihre Zimmer!
Friedrich M. Reifferscheidt
Georg Schwarz/Carl August Weber (Hg.), Wir heißen Euch hoffen. Schriftsteller zur deutschen Verständigung, München 1951, 87 ff.