Materialien 1959

Fabrikneuer Alltag

Die Großstadt hat sich die Zähne noch nicht geputzt und riecht noch fade aus dem Mund. Draußen am Rande der Stadt öffnet ein Mann das Fabriktor. Damit die Arbeit hineinkann. Und stattfinden. Brummende Diesel-Wale und weißblaue Bimmelarchen liefern die Drehbank-Infanterie an die Räder. Viele strampeln auch auf dem Mercedeseinsitzer »Kling-Kling« daher. Die meisten tragen noch den Rest ihrer Träume im Gesicht. Einige haben wohl Valentins Ententraum geträumt. Denn sie schauen mürrisch drein. Als ob ihnen der Wurm ausgekommen wäre.

Wenn sie in die Nähe des Schräubchen-Bergwerks kommen, schütteln sie den restlichen Schlaf ab. Der fällt achtlos zu Boden und wird von den beiden einsamen Straßenkehrern zu großen Haufen getürmt. Vielleicht beliefern sie damit die MITROPA. Manche Mädchen tragen auch blaue PAA-Taschen in ihren frühreifen Händen. Obwohl sie doch immer nur einen Platz im Schienenklipper in der Hammelklasse belegen. Sie reiben sich die Sandmänner und den Adel der Arbeit aus den Augen. »Gud Morgn, Tristesse.«

Immer haben es die ersten am eiligsten. Als hätten sie Angst, sie würden sonst die letzten werden. Wie es in der Schrift heißt. Jeder Eintretende hält eine Karte in das Maul eines gleichgültigen Roboters. »Knips« macht der. Das ist wohl der Zahn der Zeit, der an der papierenen Seele der Arbeiter nagt. Der vermummte Tausendfüßler nimmt kein Ende. Mindestens fünfhundert junge Mädchen verzehrt so eine Fabrik schon zum ersten Frühstück. Und raucht dazu gemütlich aus dem Kamin. Ja, Fabrik müsste man mindestens mit dem Vornamen heißen. Nicht Fritz oder Fürchtegott.

Auch ganz junge bettwarme Küken sind darunter. Sie schnattern, kichern und lachen. Ja, kennen denn die das Sprichwort noch nicht »Den Vogel, der in der Früh singt, den frisst auf d’ Nacht die Katz«? Oder wollen die vielleicht gleich gar freiwillig gefressen werden. Nach Feierabend. Vom blonden Spezialarbeiter Reinhold Fuchs womöglich. Der am Eingang steht und freundlich-schief grüßt. Die älteren Mädchen haben auch durchsichtige Frischhaltetüten auf den Köpfen. Für die Frisur. Die ja bis zum Freitag halten muss.

Barhäuptig, damit sie einen klaren Kopf bekommen, in längst verblichenen Knickerbockerhosen, gamaschenbewehrt, Slipperschlürfend, gewissenhaft oder widerwillig passieren sie ein. Und mit Kolchosen-Kopftüchern. Viele frösteln, denn der Tag ist noch nicht angeheizt. Die Engel sind wohl ebenfalls in einer Gewerkschaft. Die Fabrikschönste, Miss »Drehscheibe«, ist auch darunter. Eine unentdeckte Schönheit, die eigentlich nur einen Förderungspreis bräuchte. Und sogar die Lollo und die Sophia kommen da. Sie halten das Ganze noch für einen Filmvorspann. Bald wird die Sophia ja eine wirkliche Hauptrolle spielen. Leider aber nicht die Frau vom Fluss. Sondern nur die Frau vom Fließband.

Am eisernen Vorhang, der die Freiheit von der Arbeit trennt, scheiden sich auch die Geister. Das Teerlinoleum ist abgetreten. Trotzdem putzt sich der pedantische Spezialdreher Felix noch einmal die Schuhe an einem unsichtbaren Streifer ab. Der brave Rußl Klaubauf begleitet stets seinen Herrn bis zum Pförtnerhäusl, wird verabschiedet, schnüffelt und hebt das Bein. Gegen die Achtstunden-Kasematte. Recht hat er. »Servus, oide Hüttn«, sagt der lustige Max und streichelt ihr die rauhe Mörtelhüfte. Jaha, der holt sich auch nur einen Krankenschein heute. Und die blonde Sissi grüßt den verhärmten Torwart, der sofort ein verrutschtes Lächeln aufsetzt und sie hereinlässt wie einen unhaltbaren Freistoß. Sie soll ja auch mit dem Abteilungsleiter Streberle so gut wie verlobt sein.

Jetzt sowas. Kommt da gleich gar eine Hochzeitskutsche daher. Die bildhübsche Molly Mohn ist das, die der gefräßigen Fabrik von einem Amisoldaten gerade noch aus den Zähnen geräumt wurde. Sie will ihrem Mac nur zeigen, wo sie bisher ihr blutjunges Leben hingetragen hat, bevor sie es in seine griffigen Sergeantenhände legte. Und schon wieder hält ein Wagen an. Der Bäcker Fonsl, der auch die Kantine beliefert, lässt die Frieda Guß aus dem Lieferwagen aussteigen. Jeden Tag, seit sie mit ihm geht, fährt er sie her. Ja, die hat’s schön und wird beneidet. Weil der Fonsl seine Gschpusi auch nicht wechselt, wie seine Hemden.

Und da hält auch tatsächlich ein Taxi. Zwei vielversprechende Einlegerinnen klettern kichernd heraus. »De wern net oid bei uns«, meint der Pförtner. Da hat er wahrscheinlich recht.

Dieses war die erste Schicht. Die weichste. Der Humus. Dann kommt die kiesige. Werkmeister, Einkäufer, Abteilungsleiter, Kalkulatoren. Ein paar mit dunklen Brillen darunter, damit sie dem grauen Alltag nicht direkt ins fahle Gesicht schauen müssen. Auf den vorgezeichneten Parkplätzen stellen sie ihre Wunderrösser ab, die zufrieden mit den Gummihufen scharren. Und je später die Stunde, desto schöner die Sekretärinnen. Der Mann am Gitter hat seinen Käfig längst geschlossen. Damit die Arbeit nicht mehr heraus kann. Durch eine Seitentüre lässt er die Nachzügler ein. Die trotz ihrer gehobenen Stellungen noch immer bediente Gesichter haben. Wie Provisionsvertreter der Firma Schicksal & Co. Bis dann der Herr Direktor kommt. Mit einem kohlschwarzen Wagen. Er geht nicht in die Fabrik, sondern ins Werk. Und er hat’s auch nicht leicht. Das sieht man schon beim Aussteigen. Und wenn manche Leute glauben, so ein Direktor täte nichts, weil sie es nicht sähen, so ist das falsch. Direktoren arbeiten nämlich innerlich. Drum sind auch manche von ihnen so dick.


Siegfried Sommer, Blasius der letzte Spaziergänger, Wien/München/Basel 1960, 53 ff.