Materialien 1999
Unsere Wertegemeinschaft
In München haben sich vor einigen Tagen deutsche und internationale Experten (aus Politik, Militär und Wirtschaft, wie es hieß) zur »Konferenz für Sicherheitspolitik« getroffen. Was dort diskutiert oder verkündet wurde, erregte kein Aufsehen; es wurde, soweit es die deutsche militär-
politische Rolle betraf, unter dem Begriff »Kontinuität« registriert. Ein bisschen Beachtung fand, dass der US-amerikanische Verteidigungsminister den vorlaut geäußerten Gedanken des deut-
schen Außenministers, vielleicht müsse sich doch die NATO nicht unbedingt zum atomaren Erstschlagsrecht bekennen, von oben herab für indiskutabel erklärte. Aber da wurde über Um-
gangsformen nachgedacht, nicht über die Sache selbst. Die ist entschieden — auf gleichsam na-türliche Art.
Die Rede kam auch auf die geplante Erhöhung des Militärhaushalts der Vereinigten Staaten: 112 Milliarden Dollar sollen dort in den nächsten sechs Jahren investiert werden, und die US-Politiker erwarten, dass die europäischen NATO-Partner hinter einer solchen Großzügigkeit nicht zurück-
bleiben. Aufregung beim Publikum verursachen solche Zahlen nicht, es geht ja um Sicherheit. Aber für wen?
Die US-amerikanische Militärpolitik hat nach dem Ende des Kalten Krieges und der »Systemkon-
kurrenz« eine internationale Zielsetzung, die so neu nicht ist, als zukunftsweisende Novität heraus-
gestellt: Militärische Interventionen mit hochtechnisierten Mitteln sollen weltweit vitale Interessen der Vereinigten Staaten und anderer NATO-Länder absichern, selbstverständlich im Rahmen einer »Wertegemeinschaft«. Der Begriff der »Verteidigung« gerät demgegenüber ins Altertümliche, und von einem Mandat der Vereinten Nationen ist kaum noch die Rede.
Wenn es gilt, Interessen durchzusetzen, braucht man eine Rangfolge; die lässt sich nach dem Maß-
stab der nationalen militärischen Kräfte und der jeweiligen Rüstungsinvestitionen bestimmen. In-
sofern ist es nur recht und billig, dass Washington den Ausschlag gibt. Im April dieses Jahres will die NATO Beschlüsse fassen, die diese Doktrin und damit die US-Dominanz vertraglich bestätigen.
In der Bundesrepublik Deutschland sind Vorentscheidungen für die Anpassung an die Wünsche der USA bereits getroffen: »out of area«-Einsätze der Bundeswehr (ohne Mandat der Vereinten Nationen) im Rahmen der NATO sind gebilligt; die Selbst-Mandatierung der USA zu Militärschlä-
gen gegen den Irak fand Zustimmung; die NATO-Option auf den Ersteinsatz nuklearer Waffen trifft nicht mehr auf Widerspruch. Auch der deutsche Verteidigungsminister spricht nun davon, dass es in der Militärpolitik nicht nur um »Sicherheit« und »Werte«, sondern auch um die Durch-
setzung von Interessen geht. Die Bundeswehr wird umgestellt auf »Krisenreaktionsfähigkeit« — weltweit.
»Kontinuität« deutscher Militärpolitik? Das Wort trügt. Es verdeckt weitreichende Veränderun-
gen, die sich kaum beachtet vollziehen. Unter deutscher Beteiligung wird aus der NATO ein Interventionsbündnis, das sich aus den Bindungen der UNO löst. Das geschieht wie selbstver-
ständlich. Vorbei die Zeiten, als im Bundestag militärpolitische Grundsatzdebatten stattfanden. Die neue NATO-Doktrin kennt keine Parteien mehr, keine Opposition, nur noch Interessenten. Korrekt wäre es, dem zuständigen Ministerium einen neuen Namen zu geben.
Arno Klönne
Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft 3 vom 13. Februar 1998, 82 f.