Materialien 1976

Und so residieren heute folgerichtig ...

unter der Adresse Wittelsbacher Platz die Chefs des größten privaten deutschen „Arbeitgebers“, der Siemens AG. 1945 war das Zentrum des Konzerns von Berlin nach München verlegt worden. Eine Gruppenleitung organisierte von hier aus die Weiterführung sowie den Wiederaufbau des Unternehmens. Und so „gibt“ der Konzern mittlerweile über 300.000 Beschäftigten Arbeit, davon allein 50.000 in München. Erstreckte sich das Reich der Wittelsbacher vom Main bis zu den Alpen, so ist das Siemens-Reich inzwischen weltweit geworden:

„Wir sind in 52 Ländern durch eigene Gesellschaften, in weiteren 67 Ländern durch Vertretungen und Stützpunkte vertreten. Unsere 6 Unternehmensbereiche verfügen über 54 ausländische Fertigungsstätten (gegenüber 37 in der Bundesrepublik) – wir haben damit mehr Auslandsfabriken als jedes andere deutsche Unternehmen. Freilich stehen den 228.000 inländischen Siemensianern erst 73.000 ausländische zur Seite, aber auch hier wird es bald bedeutende Verschiebungen geben. Allein für die nächsten 5 Jahre haben wir bei der Auslandsbelegschaft eine Zuwachsrate von etwa 50 Prozent eingeplant, während die Inlandsbelegschaft mehr oder weniger stagnieren dürfte. Entsprechend nimmt der Auslandsumsatz stetiger und stärker zu als der Inlandumsatz, der 1970/71 nur noch 59 Prozent des Weltumsatzes ausmachte. Verständlicherweise fühlen wir uns besonders den Regierungen verbunden, die durch kompromissloses Vorgehen gegen gewerkschaftliche und sozialistische Opponenten für eine stabile innere Ordnung und damit für ein günstiges Investitionsklima Sorge tragen – wir nennen hier nur Portugal, Spanien, Griechenland, Türkei, Iran, Südafrika, Brasilien, Argentinien, Indonesien.“ 1

… das gilt mittlerweile für Portugal nur noch eingeschränkt, dagegen für die Regierungen der BRD und Argentiniens wieder mehr.

■ Ein Beispiel (Meldung der SZ vom April 1976):

„Deutsche Hoffnungen in die Militärjunta. Zugeständnisse an mehrere Wirtschaftsunternehmen in Argentinien erwartet … Für die Vertretung der Bundesrepublik in Argentinien hat der Militärputsch vom 23. März die Hoffnung gebracht, einen ganzen Katalog bilateraler Probleme nun lösen zu können. An erster Stelle steht das ‚Problem’ Siemens …“

Geraume Zeit vorher war noch gemeldet worden „Siemens-Direktor in Argentinien entführt“. Eine Stadtguerilla hatte einen der Siemens-Direktoren entführt, um ihren Forderungen nach Wiedereinstellung von 200 entlassenen Arbeitern, Lohnausgleich für deren Verluste während der Arbeitslosigkeit etc. Nachdruck zu verleihen. Als ALLE ihre Forderungen von der Siemens AG erfüllt waren, entließen sie den Direktor wieder.

■ Ein weiteres Beispiel für einen Siemens-Beitrag zur Weltpolitik, diesmal auf der arabischen Halbinsel, im Oman gelegen am Arabischen Golf im „Westen“ meist persischer Golf genannt.

Sultan Said hatte Oman jahrzehntelang systematisch von der Außenwelt abgekapselt. Es gab weder Krankenhäuser noch Schulen, keinen Rundfunk und kein Telefon. Ausländer durften nur mit persönlicher Erlaubnis des Sultans einreisen. Kein Wunder, dass Revolutionäre unter diesen Bedingungen ein lohnendes Betätigungsfeld vorfanden.

Sultan Kabus, ein Absolvent der Militärakademie in Sandhurst, eröffnete gegen die Guerilleros einen Kampf an zwei Fronten. Er begann mit der sozialen Entwicklung des Landes. Innerhalb von wenigen Jahren wurden in Oman Hunderte von Schulen und Krankenhäusern errichtet, in denen die Ausbildung bzw. die Behandlung umsonst ist. Deutsche und britische Firmen bauten zwischen den wichtigsten Städten die ersten Straßen. Techniker von Siemens errichteten einen Fernsehsender für Farbprogramme. Über eine Satellitenstation kann man von Oman aus innerhalb weniger Minuten mit Frankfurt oder New York telefonieren. Zehntausende von Nomaden wurden in Fertighaussiedlungen sesshaft gemacht.

„Mit amerikanischem Material errichteten iranische Hilfstruppen zwei elektronische Barrieren (wer da wohl mitgewirkt hat?), wie sie auch von Israel in den Grenzgebieten verwendet werden. Die Guerilleros (gemeint ist die „Volksfront zur Befreiung Omans“ – PFLO) waren dadurch von ihren wichtigen Nachschubwegen nach dem Südjemen abgeschnitten, ihre Niederlage war nur noch eine Frage der Zeit. Hunderte von Untergrundkämpfern ergaben sich in den vergangenen Monaten. Wenn sie ihre Waffen oder anderes Material mitbrachten, bekamen sie vom Sultan eine finanzielle Belohnung, die bis zu 5.000 Mark betragen konnte. Ende vorigen Jahres gaben die Rebellen endgültig auf.“ (Frankfurter Rundschau vom 30. Januar 1976)

■ Zwei Portugiesen, eine Arbeiterin bei Siemens in Evora und ein Vertreter der portugiesischen Metallgewerkschaft berichten: „Siemens produziert hier Relais. Es gibt ca. 600 Frauen und ca. 400 Männer … Siemens hat in den letzten Jahren hier sehr große Profite gemacht. In Portugal sollten 20 Millionen Escudos (2 Mill. DM) bleiben, um zu investieren. Viel mehr Geld wurde aber in die BRD gebracht. Das Management besteht nur aus Deutschen. Sie leben hier in sehr schönen Villen, geben Partys und sind betrunken … Man hört, dass sie die Fabrik schließen wollen und nach Deutschland zurückkehren wollen. Es wird auch schon damit angefangen. Eine Art von Relais, das immer hier produziert wurde, wird nun in Berlin produziert. Die Bosse sagten, wir sollten statt dieses Relais in Zukunft ein anderes produzieren. Dieses andere ist bisher noch nicht gekommen … Vor 3 – 4 Monaten wollten die Siemens-Herren hier in Evora 130 Arbeiter entlassen. Sie sagten, es gäbe zu viele Arbeiter. Sie wollen weniger Arbeiter, die dafür mehr arbeiten.“2

■ Und in München: „Keine Entlassungen –“ so hat Herr Betz auf der letzten Betriebsversammlung am 4. November 1975 gesagt, dass jetzt im Frühjahr ein neuer Schnelldrucker anlaufen soll; ein Plattenspeicher, ein Magnetbandgerät und ein Nichtmechanischer Drucker, das sind alles Computerteile, sollten bis spätestens September 1976 folgen.

Und was ist jetzt. Nach langen Vorberechnungen und kostspieligen (unser Geld) Vorbereitungen ist der für jetzt angekündigte CDC-Drucker ganz leise gestorben … Auf der Betriebsversammlung am 21. April 1975 hat Herr Schneider erklärt, dass Siemens in Italien in der Nähe von Neapel ein neues Werk baut: Avellino. Dorthin sollen Stromversorgungen verlagert werden, die bisher in Augsburg oder sonstwo gebaut wurden. Später sollen dann Magnetbandgeräte für den italienischen Markt nachkommen. Dieses Werk in Avellino ist inzwischen fertig. Einige Kollegen von uns lassen sich dorthin versetzen. Wir wären ihnen sehr dankbar, wenn sie von dort aus mal unserem Betriebsrat schreiben würden, was dort wirklich produziert wird.“3

Die portugiesische Arbeiterin meint: „Es wäre sehr gut, wenn es eine Verbindung zwischen Siemens-Arbeitern in Deutschland und Siemens-Arbeitern in Portugal gäbe, von Arbeiterkommission zu Arbeiterkommission.“

Soweit ein gewiss bescheidener Blick auf die Politik der Herren vom Wittelsbacher Platz. Wie sagte doch schon 1866 der Ahnherr der Siemensfamilie, Werner von Siemens: „Der Technik sind gegenwärtig Mittel gegeben, elektrische Ströme von unbegrenzter Stärke auf billige und bequeme Weise überall da zu erzeugen, wo Arbeitskraft disponibel ist“ – nachzulesen in den Ausstellungsräumen des Werner-von-Siemens-Institutes, Prannerstraße 10, München 2, Mo – Fr 9 – 16 h, Sa u. So von 10 – 14 h, feiertags geschlossen, Eintritt frei – eine nicht uninteressante Selbstdarstellung der „Geschichte des Hauses Siemens.“

Vor oben beschriebenem Hintergrund ist auch die große Expansion der Siemens AG in der Münchner Altstadt zu verstehen, die mittlerweile – nach inoffiziellen Berechnungen – 10 Prozent dieses Gebietes in Besitz haben soll.

Für diese „Verdienste“ wurde jüngst dem gegenwärtigen Konzernchef Peter von Siemens vom Münchner OB die Medaille „München leuchtet“ verliehen. Peter revanchierte sich mit einem Scheck für einen Kindergarten … Gott danke ihm für seine „Großzügigkeit“.

Der Entschluss der Firma Siemens, ihren Hauptsitz von Berlin nach München zu verlegen, war damals der entscheidende Impuls für die Industrialisierung der Stadt nach dem 2. Weltkrieg – hinzu kam die Europäisierung des Marktes durch die EWG-Verträge, die München aus seiner bisherigen Randlage ins Zentrum Europas rückte. Münchens Entwicklung zwischen 1950 und 70 ist nämlich im Gegensatz zu der in den meisten anderen Großstädten der BRD gekennzeichnet durch

■ ein permanent wachsendes Angebot an Arbeitsplätzen: Verdoppelung zwischen 1950 und 1970,

■ eine starke Umstrukturierung des Arbeitsplätzeangebots bis hin zur Dominanz des produzierenden Gewerbes (1971: 44,2 Prozent der Arbeitsplätze) und in deren Folge eine überproportionale Ausweitung der Bereiche Dienstleistung, Handel, Banken und Versicherungen,

■ sowie einen ungeheuren Anstieg des gesamtwirtschaftlichen Umsatzes = drei Verdoppelungen. 1. 1950 – 1954, 2. 1954 – 1959, 3. 1959 – 1967.

Diese Entwicklung hatte für die Altstadt zur Folge, dass sie sich Zug um Zug in ein einziges Verwaltungs- und Geschäftsghetto verwandelte. Über 40 Prozent der Bewohner mussten ausziehen, Folge (u.a.):

„Geht die Blumenschule ein? Stadt will Grundschule auflösen / Nur noch 135 Kinder angemeldet. Eine der ältesten Volksschulen Münchens soll im nächsten Schuljahr aufgelöst werden. Mangels Kinder will das Schulreferat der Stadt den Betrieb der Grundschule an der Blumenstraße einstellen. Die nach dem großen Exodus der Münchner aus der Innenstadt verbliebenen 135 Kinder sollen auf die umliegenden Schulhäuser verteilt werden. Die Auflösung, gegen die der Elternbeirat protestiert hat, bedarf noch der Bestätigung durch die Regierung von Oberbayern.“ (Süddeutsche Zeitung vom 28./29. Mai 1975)

Gleichzeitig herrscht in Neuperlach … und anderswo Schulraumnot.

Die Kreuzung der Massenverkehrsmittel (U- u. S-Bahn) am Marienplatz hat den Prozess weiter beschleunigt, damit wurde auch an dem alten – immer wieder kritisierten – Konzept festgehalten, alle Verkehrssysteme und -verbindungen auf die City auszurichten. Der Bau der Verkaufsförderungsmaßnahme „Fußgängerzone“ (von Kommunalpolitikern gerne „Münchens gute Stube“ genannt) hatte zur Folge, dass hier Grundstücke mit einem qm-Preis von über 31.000 DM gehandelt werden und dabei Spekulationsgewinne von 27.000 Prozent gemacht werden. Die Maxime des einstigen Stadtbaurates Luther „Erstens brauchen wir eine florierende City und zweitens muss die Wirtschaft versorgt werden“ hat sich erfüllt. Der Bau des Altstadtringes sollte wenigstens den Autoverkehr von der City fernhalten, aber das erwies sich als Fehlkalkulation.

Am Allerseelentag 1971, überall in Bayern ehrte man das Gedenken der Toten, ging München in einem Chaos aus „Wut, Blech und Tränen k.o.“ (Abendzeitung). Die City war lahmgelegt, sie schien sich selber vergast zu haben. Die Prophezeiung der Londoner Times erfüllte sich: Münchens tödliche Luft würde eines Tages alle Probleme lösen. Der Vernichtungsplan war aufgegangen: Die Innenstadt war ein einziges Auto im Leerlauf. (aus „Zeit-Magazin“)

Der Werbeslogan der Bayerischen Vereinsbank „Geldstadt mit Herz“ trifft sicherlich, wenn auch nur für das erste Wort, zu: Seit dem Zeitpunkt, als München die Ausrichtung der Olympischen Spiele zugesichert worden war, bis zum Jahre 1972 ,wurden in der City 27 Cafes und 13 Kinos geschlossen, dagegen 100 Bankfilialen neu eröffnet.

Von Zeit zu Zeit hat es immer mal wieder Versuche gegeben, diese Ghettoisierung der Altstadt einzudämmen.

1971, als die Schließung des berühmten Renommier-Cafes Annast am Odeonsplatz bekannt wurde, an dessen Stelle eine Bankfiliale errichtet werden sollte, legte gar die Stadtverwaltung eine Studie zum „Originalitätsverlust der Landeshauptstadt“ vor und machte darin dem Stadtrat Vorschläge, wie diese Entwicklung aufzuhalten sei. Der Versuch blieb ohne Erfolg …

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1 F.C. Delius, Unsere Siemens-Welt, Berlin 1973. Delius’ Buch ist eine Satire auf „unternehmerische“ Festschriften. Siemens verklagte den Autor wegen zahlreicher Behauptungen, an oben zitierter Passage hatten sie allerdings nichts auszusetzen.

2 Aus einem Interview der Sozialistischen Arbeitergruppe vom 7. August 1975 in Evora/Portugal.

3 Aus 2 Flugblättern von Siemens-Arbeitern des Werkes an der Martin-Straße (Giesing), verteilt im April/Mai dieses Jahres.


Peter Schult/Ralph Schwandes/Herbert Straub/H.-Rainer Strecker/Ursula Wolf, Stadtbuch für München 76/77, München 1976, 11 ff.