Materialien 1987
Bahn und Bus – auch für Behinderte
Seit April 1987 läuft bei den Münchener Verkehrsbetrieben der Prototyp eines viertürigen Nieder-
flurbusses mit einer hydraulischen Hebebühne für Rollstühle bei der Fahrertür. Wie kam es dazu? 1985 beschloss der Münchener Stadtrat die sofortige Anschaffung fünf behindertengerechter Busse für den Linienverkehr. Er entsprach damit einer Forderung, die schon jahrelang von Behinderten-
gruppen erhoben wurde. Bei genauerer Prüfung stellte sich aber dann heraus, dass dieser Be-
schluss so nicht umsetzbar war, da man hiermit in der BRD Neuland betrat: Es gab keinen behin-
dertengerechten Bus. Eine Gruppe von Stadträten, Vertretern der Verkehrsbetriebe und von Be-
hindertenselbsthilfegruppen begab sich auf eine Informationsreise, auf der verschiedene Modelle begutachtet wurden. Unter anderen besichtigten sie die Heidelberger Behindertenlinie, bei der die Treppe bei der Fahrertür in einen Lift umgewandelt wird. Aber alle vorgefundenen Modelle ent-
sprachen nicht den Anforderungen. Die Vertreter der Behinderten konnten Stadträte und Ver-
kehrsbetriebe davon überzeugen, dass eine wesentliche Verbesserung für alle Mobilitätsbehinder-
ten (wozu man nicht nur Rollstuhlfahrer, sondern auch alte Menschen und Personen mit Kinder-
wagen rechnen muss) mit einem Niederflurbus zu erreichen ist, der für alle die Einstiegsschwelle erheblich herabsetzt. Bereits heute sind 15 Prozent aller MVV-Benutzer über 65 Jahre, und man weiß ja, dass diese Zahl in den nächsten Jahren überproportional steigen wird. Ein Treppenlift allein hätte nur einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Behinderten etwas gebracht.
Die Verkehrsbetriebe München forderten die Bushersteller auf, ihnen einen Linienbus in Nieder-
flurbauweise anzubieten. Aber die großen Busproduzenten wie MAN oder Mercedes waren nicht in der Lage und auch nicht bereit dazu. Nur ein relativ kleiner Hersteller, der auch den amerikani-
schen Markt mit behindertengerechten Bussen beliefert, Neoplan/Auwärter, stellte in relativ kur-
zer Zeit einen Niederflurprototyp auf die Räder, der gemäß den Anforderungen des Stadtrates auch mit einem Rußfilter ausgestattet ist.
Das technische Problem ist bei der Niederflurbauweise vor allem die Vorderachse, da bei der her-
kömmlichen Vorderachse nicht genügend Abstand zwischen den Radkästen bleibt, um einen aus-
reichend breiten Gang im Fahrzeug zu erhalten. Der eigentliche Grund, warum MAN und Merce-
des so ablehnend blieben, obwohl München für sie ja einen fetten Brocken bedeutet, ist neben der mangelnden Flexibilität in der Produktion (bei Auwärter läuft da von vornherein mehr in Einzelan-
fertigung) auch die Tatsache, dass der Verband der Öffentlichen Verkehrsbetriebe (VÖV), ein In-
teressenverband der städtischen Verkehrsbetriebe, sich vor ungefähr zwei Jahren auf den SL II, einen genormten Linienbus, geeinigt hatte, der den großen Herstellern den Absatz garantiert und auf den sie ihre Produktion völlig abgestimmt haben.
Das Ziel ist, nach der Erprobungsphase sämtliche neuen Busse in Niederflurbauweise anzuschaffen und zumindest jeden zweiten mit einer Hebebühne zur Überwindung der restlichen 32 cm für Roll-
stuhlfahrer auszustatten. Die Mehrkosten dieses Busses sind für die Serie noch nicht ganz abzu-
schätzen; man rechnet mit ca. 30 — 40.000 DM. (inkl. Hebebühne). Problematisch wird es aber, wenn die großen Bushersteller auf die Dauer nicht mitziehen; bei den jetzigen politischen Kräfte-verhältnissen im Münchener Stadtrat kann man davon ausgehen, dass zumindest Mercedes eine starke Lobby hat.
Bemerkenswert an der Münchener Verkehrssituation ist die Tatsache, dass hier eine reale Chance besteht, den Öffentlichen Nahverkehr in absehbarer Zeit insgesamt allen zugänglich zu machen. Seit 1982 wird die U-Bahn gemäß einer Prioritätenliste mit Aufzügen nachgerüstet, neue Linien werden von vornherein mit stufenlos zugänglichen Bahnsteigen gebaut. Beim Bau der ersten U-Bahnlinie war die Forderung nach stufenlosem Zugang noch unter Hinweis auf den Termin-
druck wegen der Olympiade zurückgewiesen worden. Außerdem, und dies war nicht der unwich-
tigste Grund (!), war der Einbau von Aufzugsanlagen nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungs-
gesetz (Kostenverteilung: 60 Prozent Bund, 20 Prozent Land und 20 Prozent Gemeinde) damals noch nicht zuschussfähig, was aber mittlerweile der Fall ist.
Probleme macht bei der U-Bahn zur Zeit noch die Einstiegsschwelle von je nach Abnutzung der Gleise bis zu zehn Zentimetern. Dieses Problem ist eigentlich recht leicht zu beheben, entweder durch Höherlegung der Gleise oder durch Erhöhung des Bahnsteigs. Bei Renovierung und Neubau fällt das kostenmäßig nicht ins Gewicht, aber bei den bestehenden Anlagen erhebt sich wieder die Frage, wer zahlt?
Auch bei der S-Bahn ist etwas in Bewegung gekommen. Nachdem sich die Bundesbahn jahrelang stur gestellt hat und alle behindertengerechten Zugänge den Gemeinden zuschanzen wollte, ist hier aufgrund des Einspruchs von Behindertenverbänden beim Bundesminister für Verkehr die Bahn angewiesen worden, die Umbauten, die seit der Renovierung einiger S-Bahnlinien (Umstellung von eingleisigem auf zweigleisigen Verkehr) anfallen, behindertengerecht zu planen. Aber auch hier be-
reitet zumindest im außerstädtischen Bereich der S-Bahn die Einstiegsschwelle mit 27 cm Schwie-
rigkeiten; für Gleise, die ausschließlich für die S-Bahn benutzt werden, hat der Bundesminister für Verkehr jetzt die Erhöhung der Bahnsteige um 27 cm zugestanden. Nicht geklärt ist bisher, was auf den Linien mit Gütertransport und Lademaßüberschreitung geschieht. Hier stellt sich die Frage, ob der Komfort von Hunderttausenden von Fahrgästen vorgeht oder zwei bis drei Gütertransporte im Jahr mit Lademaßüberschreitung.
Auch bei der Straßenbahn stehen die Chancen nicht schlecht, dass die nächsten Wagen zumindest teilweise im vorderen Bereich in Niederflurbauweise fahren werden. Nachdem klar ist, dass die Straßenbahn erhalten wird, muss der Wagenpark dringend um 20 Stück ergänzt werden. Die Ver-
kehrsbetriebe haben in ihrem Lastenheft einen stufenlosen Einstieg zumindest in einem Teilbe-
reich gefordert, und es liegt auch bereits das Angebot eines Herstellers vor. Eine Straßenbahn läuft mindestens 20 bis 25 Jahre, deshalb hat diese Anforderung besonderes Gewicht.
Carola Walla
Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 8 vom August 1987, 12 f.