Materialien 1989
Alles geht – Lieber Aal
Etwas passiert. Der Einfachheit halber immer. In München geschehen große und kleine Kultur-Ereignisse unter barocker Schirmherrschaft: der Liberalitas Bavariae. Das besagt nichts Geringeres als: anything goes. Man füge sich in jene historisch verbriefte Liberalität, die gegen jeden (ästhetischen) Schock feit. Den Stachel ziehen, ehe er ins Fleisch eindringt. Unter unserem Abendkleid tragen wir vorsichtshalber eine kugelsichere Weste. Deshalb darf auch scharf geschossen werden. Aber keine Bange, wir versöhnen uns zum rechten Zeitpunkt mit allem. Mit öffentlichen Selbstverbrennungen, Scheiterhaufen-Happenings, wie blutigem Orgien- und Mysterientheater à la Herman Nitsch. Hier sind und bleiben wir liberal. Wir mögen eben lieber Aal. Mit diesem Fund lässt sich leben. Ja, wer einen Aal hält am Schwanz, den hat er weder halb noch ganz.
Vorsicht Glätte! Mehr Rutschen als Schreiten. Wir schliddern fast die Freitreppe zum Haus der (Deutschen) Kunst hinauf, aber oben, hinter der Kolonnade im Lieblingstempel des Führers, werden wir für unsere Standfestigkeit belohnt. Seit Kriegsende stellt hier alles im Repräsentationssaal und den riesigen Ausstellungsräumen aus, was in der internationalen wie nationalen Kunst-Szene Rang und Namen hat. Max Ernst, Vedova, Hitzler, Picasso, Kirchner, David Salle, Beckmann. Auch in der früheren Ehrenhalle kommen heute problemlos wieder alle zu Ehren, denen man gerade an diesem Fleck schon mal den Garaus gemacht hatte; die Verfemten, die Beckmann, Dix, Kandinsky, Klee, Mies van der Rohe, Schmidt-Rottluff und viele andere.
I can’t give you anything but love. Zwar steht die Weltstadt mietpreismäßig kopf, aber das Schmerztürl ist weit geöffnet. Kauft der Herr net a Herzl fürs Herzl? Ende September – wie in jedem Jahr – ist es dann wieder soweit, dass ein paar Hunderttausend ins weißblaue Oktoberfest einfallen. Aber es gibt ja genug Schweinswürstl, Zuckerwatte und Steckerlfisch für alle. Und im Schottenhamelzelt wird hart gearbeitet: Eins, zwei, g’suffa. Wenn die Wiesn aufhört, eine Spielwiese zu sein, existiert sie nur noch zum Schein. Ohne naive oder metaphysische Spielereien bleibt nichts, was Spaß machen könnte.
Deutschlands erfolgreichste Bühne, die Kammerspiele, um die Jahrhundertwende an der Maximilianstraße von Richard Riemerschmid im Stil des Art nouveau (Pflanzenornamente inklusive) erbaut, berühmt für solide Theaterpraxis, in deren Genuss Klassiker und klassische Dichter – Goethe, Schiller, Lessing, Thomas Bernhard, Botho Strauß, Botho Strauß und Botho Strauß – kommen, führt auch eine Spiel- und Experimentierwiese für avancierte Weisen: Das bekannte Werkraumtheater, welches seine Zuschauer allerdings nicht mit frappierenden Stücken und ungewöhnlichen Methoden traktiert. Denn das Publikum verlangt nicht danach. Aber wer weiß, vielleicht hat es doch ein anderes Verlangen? Ein Verlangen, das jenseits von Ludwig Fels’ „Affenmörder“, „La Balcona Bar“ oder Sam Shephards „Fool for Love“ läge? Aber wer hätte je einem Publikum in den Kopf geschaut? Allein wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort (und viele Worte ergeben ein Drama) zur rechten Zeit sich ein. Es soll verständlich und natürlich sein. Eine Lektion, die Intendanten mit der Muttermilch des Theaters einsaugen. „Ich habe so ziemlich alle Nasenkorrekturen, Jacketkronen und Silikontitten gesehen die ich verkraften kann ich eile zurück zu meiner natürlichen Frau“ (Sam Shephard), steht dann auch programmatisch schwarz auf weiß im Programmheft der Kammerspiele. Beliebt wie eh und je der warme Schoß des Gediegenen.
Aber seit wann würden nur gediegene Töne intoniert? An etwas abgelegeneren Orten entsteht manchmal ein schrillerer Ton, inszenieren freie Gruppen manchmal etwas freier. Viele Gruppen kommen und gehen, wie ihre Spielplätze – Loft, Alabama, Negerhallen –, Spekulationsobjekte in Händen industrieller und städtischer Spekulanten. Einige Auf(f)®ührungen bleiben. Wie Michel Foucaults „Theatrum Philosophicum“, das der minimal club unter den Trümmern der Archäologie des Wissens ausgegraben hat und in ein Theater des Kopfes mit vorfabriziertem Sprachmaterial (Kommunionskinder sprechen Theorie; schwarze und weiße Bräute involvieren sich in Edie Sedgewick) verwandelt; wie die aufregende Sprechoper Gertrude Steins „Doktor Faustus lichterloh“ des Comedia Theaters, in der aphoristische Sentenzen, Sprechcollagen und geometrische Choreographie korrespondieren; wie manche Mundart-, Berg- und Musikcomics des anarchistisch-bayerischen proT, Prozessionstheaters (Theater ist nur wirklich als Theater).
Aber auch Robert Wilsons (Gastinszenierung) Einbrüche in den Gilgamesch-Mythos und die traditionellen Refugien des Sprechtheaters, Wilsons „The Forest“. Spielort: Das zum Puff ausstaffierte Deutsche Theater vor halb leeren Rängen und Reihen. Eben. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.
Aber Abkühlung soll trotzdem sein. Und Abkühlung gibt’s in allen Schattierungen: Pschorr-Paulaner-Franziskaner-Löwen-Spaten-Salvador-Heller Bock. In den wechselnden Chemiefarben der Isar, an deren Ufer aus der Altstadt hinaus kilometerweit nördlich bis in die wilden Isarauen, und dies ist gewiss, das erbaulichste Kunstwerk der Metropole, der Englische Garten, ruht. Eine Oase, die, je tiefer man in sie hineinradelt, enorm Energie absorbiert. Natur in und außerhalb von uns! Ein bisschen ausschwärmen, wenn die Sonne scheint. Sich vitalisieren. Beim Joggen wächst naturgemäß der Wunsch, die großstädtischen Bazillen zu killen. Aug um Auge, Zahn um Zahn. Darüber gerät die Vorstellung von natürlicher Schönheit nicht in Bewegung.
Genau genommen und kulturell gesehen geht das Erbauliche mit dem Exzentrischen und Bedürftigen in München eine innige Allianz ein. Warum sonst würden die Tage der jungen Literatur von IBM gesponsert; warum sonst hätte sich BMW schon vor Jahren ums Theaterfestival gerissen, unterhielte die Hypo-Bank eine repräsentative Kunsthalle auf der Theatinerstraße, dekorierte das Textilhaus Beck seine Fassade mit einem echten Picasso? Und so weiter immer heiter. Welcher unergiebige Diskurs könnte diese ergiebigen Allianzen stören?
In Erregung geraten übrigens – wenn überhaupt – immer die anderen, Nichtmünchner, wenn man’s genau nimmt. Die Pferdemist vor ihre geliebten Theaterhäuser kippen, die Liegende eines Henry Moore teeren und federn, die Spazierstöcke gegen ungezogene Künstler zücken. Diese nehmen am äußersten rechten Fahrrand teil.
Die Münchner speisen lieber Aal. Alles Routine.
Mona Winter
Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 3 vom März 1989, 57.