Materialien 1991

Erklärung

Dies ist eine Absage. Ab sofort gibt es die MARXISTISCHE GRUPPE (MG) nicht mehr. Die An-
griffe des demokratischen Staates und seiner Sicherheitsbehörden auf unsere Organisation und auf die berufliche Existenz der Befürworter unserer Sache nötigen uns dazu, die Marxistische Gruppe aufzulösen.

Nein, wir nehmen nichts zurück von der kommunistischen Kritik, die wir verbreitet und immer vertreten haben.

▲ Wir können nicht erkennen, dass die Ausgestaltung der Lohnabhängigkeit zu einem Tarif-
system, auf dessen Abstufungen die deutschen Gewerkschaften stolz sind, die Abhängigkeit vom Lohn beendet hätte und das Arbeiten in kapitalistischen Diensten in eine proletarische Erfolgsstory verwandelt.

▲ Wir sehen nicht, inwiefern der Reichtum, den Unternehmen, Banken, Regierungen, und Schaufenster zur Schau stellen, ein Beweis dafür sein könnte, dass die Mehrheit sich nicht mehr ihren Nettolohn schwer einteilen muss, also nicht mehr unter die Rubrik Armut fällt.

▲ Wir haben kein Verständnis für den staatsbürgerlichen Glauben, eine monopolisierte und in Gesetzesform gegossene Gewalt wäre keine, und sie würde nicht von der Alltäglichkeit gesell-
schaftlicher Gewaltverhältnisse, sondern von ihrer Abschaffung zeugen.

▲ Wir können uns nicht mit der frommen Theorie anfreunden, ausgerechnet der Krieg am Golf hätte vielleicht ein Zeitalter der Gewaltlosigkeit in der Welt eingeleitet.

▲ Wir mögen nicht den Opfern des Weltmarkts in südlichen Breiten den Vorwurf machen, sie wären zu viele, außerdem umweltschädlich und insofern an ihrem Hunger selbst schuld.

▲ Wir sind keine Demokraten, die es für ihre höchste Freiheit halten, unter erfolgreichen Parteikarrieristen ihre Herren auszuwählen.

▲ Wir halten nichts von einer freien Öffentlichkeit, die mit ihrem nationalen Grundkonsens, ihrem einfältigen Maßstab „Deutschland!“ vor und ihren Sex- und Wetterberichten jede obrigkeitliche Zensur abweichenden Gedanken überbietet.

▲ Wir können eine Wissenschaft nicht leiden, die sich von Anfang an vom Anspruch auf richtige Erkenntnis dispensiert und statt dessen die ganze Welt ins rosige Licht von Normen, Werten und unwidersprechlichen, also guten Sachzwängen taucht.

▲ Wir können nicht einmal in dem Ende, das der Reale Sozialismus sich selbst bereitet, einen Beweis dafür entdecken, dass die Freie Welt über jede Systemkritik erhaben wäre.

▲ Wir halten den „Tod“ des Kommunismus nicht für ein Gottesurteil über konkurrierende Ideenwelten, sondern entdecken darin bloß einen Erfolg der überlegenen Ausbeutungs- und Gewaltmaschinerie der Freien Welt.

Genau das erleben wir nämlich gerade an uns selbst: Die deutsche Staatssicherheit widerlegt uns nicht; sie macht unsere Genossen fertig. Leuten, die unsern Standpunkt teilen und die kommu-
nistische Kritik für richtig halten, gesteht der Rechtsstaat eine Meinungsfreiheit nicht zu. Für ihn hat unsere Ansicht keinen Platz im Meinungspluralismus. Bei uns hört für den Rechtsstaat die Toleranz auf. Die Sicherheitsbehörden kriminalisieren unsere Theorie; sie spüren Leute auf, die unsere Auffassungen vertreten; sie denunzieren solche Abweichler – Datenschutz gilt da nichts – als Gesinnungstäter beim jeweiligen Arbeitgeber und sorgen dafür, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren. Wer unsere Kritik teilt, hat kein Recht auf eine berufliche Existenz – das ist geübte Praxis und erklärte Strategie der bundesdeutschen Staatsgewalt.

Wir geben nicht auf, weil wir wegen mangelnder Nachfrage nach kommunistischer Kritik an unseren Ansichten Zweifel bekommen hätten. Wir geben auch nicht auf, weil die Welt den Kommunismus für tot erklärt. Wir lösen uns auf, weil uns der freiheitliche demokratische Rechtsstaat mit seinem Verfolgungswahn keine Wahl lässt. Und der staatlichen Fahndung Märtyrer anzubieten, ist uns zu blöd.

München, 20.5.1991
Marxistische Gruppe


Arbeiterstimme 93/94 vom Oktober/November 1991, 40 f.

Überraschung

Jahr: 1991
Bereich: Bürgerrechte