Materialien 1999

Notizen aus der Provinz

Wie ein bayerischer Ort zur Umbenennung zweier Straßen gezwungen wurde

Geretsried, im schönen bayerischen Voralpenland gelegen, ist eine Kleinstadt mit etwas über 22.000 Einwohnern. Wer jetzt einen typischen oberbayerischen Ort vor Augen hat, denkt an Städte wie Bad Tölz oder Miesbach. Von diesen Orten unterscheidet sich Geretsried durch eine wichtige Eigenschaft: Es gab die Stadt vor hundert Jahren nicht! Wo sich heute das Stadtgebiet hinzieht, befand sich damals ein großer Wald. Niemand dachte daran, dass dort einmal Menschen wohnen werden. Doch in der Zeit des Dritten Reiches wurden in den Wolfratshauser Forst zwei Sprengstofffabriken gebaut.

Landsmannschaften statt Trachtenverein

Der Krieg ging verloren, Wohnraum war knapp und die Behörden mussten zahllose Flüchtlinge und Umgesiedelte unterbringen. Da erinnerte man sich an die dortigen Barackenlager der Zwangs-
arbeiter. Sie hatten idealerweise Gleisanschluss und so wurden die Züge mit den umgesiedelten Sudetendeutschen in das aufgegebene Industriegebiet geleitet. Im Laufe der Jahre kamen Flücht-
linge, Umgesiedelte und Spätaussiedler aus fast allen Ländern Osteuropas dazu. Die Zusammen-
setzung der Bevölkerung prägt bis heute die Verhältnisse im Ort. So gibt es etwa statt eines Trach-
tenvereins zahlreiche Landsmannschaften.

Dieses gesellschaftliche Klima hatte wohl auf einen alten Mann die gleiche Wirkung gehabt, wie Licht auf Motten – und so zog der sudetendeutsche Blut-und-Boden-Schriftsteller Erwin Guido Kolbenheyer 1952 nach Geretsried. Statt ihn mit Schimpf und Schande zu verjagen – hatte der Autor doch durch sein Wirken keine geringe Schuld an der Misere der Umgesiedelten – gab der Gemeinderat noch zu seinen Lebzeiten der Straße, in der er nun wohnte, seinen Namen. So schmückte sich Geretsried seit 1955 mit einer Kolbenheyerstraße.

Die Zeit verging, der Geehrte starb und die „Kolbenheyer-Gesellschaft“ eröffnete in dieser Straße eine Gedenkstätte. Niemand störte sich daran, bis 1988 eine lokale Kabarettgruppe mit einem Sketch die Öffentlichkeit über Kolbenheyers Nazi-Vergangenheit informierte. Nun entbrannte eine heftige Diskussion zwischen Befürwortern und Gegnern des Dichters. Die lokale Presse erhielt zu diesem Thema so viele Leserbriefe wie nie zuvor.

Die darin zum Ausdruck gebrachten Meinungen waren vielfältig. So meldeten sich die Verteidiger des Schriftstellers zu Wort, die sein völkisches Wirken entweder übergingen, relativierten oder schlichtweg leugneten. Sie fielen in der Regel dadurch auf, dass ihnen der Unterschied zwischen einer rechten Position innerhalb der bürgerlichen Demokratie und völkischen Einstellungen abso-
lut unklar zu sein schien. Tatsächlich aber dürfte zumindest einem Teil der Unterschied wohl be-
kannt gewesen und aus taktischen Gründen verschwiegen worden sein.

Andere vertraten die Position, dass mit dem Straßennamen nur ein bekannter sudetendeutscher Landsmann geehrt werde, nicht aber seine Unterstützung der Nazis. Daran schloss sich nahtlos die Rechtfertigung an, dass es andernorts ja auch Brecht-Straßen gebe. Dies müsste genauso verwerf-
lich sein, denn Brecht sei ja Kommunist gewesen.

Kolbenheyers Hitlergruß

Die Position der CSU ging dahin, dass die Namensgebung nur aufzuheben wäre, wenn der Gemein-
derat aus nationalsozialistischer Gesinnung gehandelt hätte oder heute neue Fakten über Kolben-
heyer bekannt geworden wären. Dem damaligen Gemeinderat sei aber, laut Chronik, alles Wesent-
liche über den Geehrten bekannt gewesen, weshalb am Straßennamen nicht gerüttelt werden dür-
fe.

Aber es gab auch erfreulich viele Stellungnahmen die solche Begründungen zurückwiesen. Als Er-
gebnis der Diskussion stellte das Stadtratsmitglied der Grünen einen Antrag auf Umbenennung. Die entscheidende Sitzung des Stadtparlaments wurde von einem Vortrag des Ordinarius für Bay-
erische Literaturgeschichte an der Münchner Universität, Dietz-Rüdiger Moser, eingeleitet. Er leg-
te dar, dass Kolbenheyer „eindeutig nationalsozialistisches Gedankengut verbreitet“ habe und sich auch nach Kriegsende noch „in stabiler Weise“ dazu bekannte. Er erwähnte einen Bericht der „Zeit“, worin geschildert wird, wie sich der Schriftsteller noch in den 50er Jahren mit dem Hitler-
gruß bei seinen Anhängern bedankte. Der Ordinarius stellte abschließend fest: „Das Werk Kolben-
heyers ist weder mit der Verfassung des Freistaates Bayern noch mit der Verfassung der Bundes-
republik vereinbar.“ Er empfahl dem Gremium die Umbenennung.

VVN-BdA für Würdigung eines Sozialdemokraten

Das einzige, was er mit seinen sachkundigen Ausführungen bewirkte, war das Ausscheren von drei Stadträten der SPD aus der Linie ihrer Fraktion. Der Antrag auf Umbenennung wurde mit 27 zu 4 Stimmen abgelehnt.

Einige Jahre später, 1993, gewann der konservative Kandidat eines Regenbogenbündnisses, beste-
hend aus allen relevanten Kräften bis auf CSU und REP, Hans Schmid, die Bürgermeisterwahl. Zu seiner Amtseinführung richtete der Kreisverband der VVN/BdA an ihn die Bitte, sich für die Um-
benennung der Kolbenheyerstraße einzusetzen. Als neuer Namensgeber wurde Ludwig Czech vor-
geschlagen. Dieser war Vorsitzender der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakei und dort auch Sozialminister. Als Sozialdemokrat und Jude wurde er in ein KZ verschleppt, wo er 72jährig an Entkräftung starb. Der Vorschlag fand in der Öffentlichkeit keine Resonanz. Doch diese Initiative führte zu einer, wenn auch matten, Wiederbelebung der Diskussi-
on. Im Rahmen dieser Debatte tat sich der Lokalteil der Süddeutschen Zeitung positiv hervor. Er wies darauf hin, dass sich im Geretsrieder Straßenverzeichnis ein weiteren Nazi-Dichter findet. Sein Name: Hans Watzlik.

Im Vorfeld der zweiten Abstimmung war Interessantes zu beobachten. Eine große Mehrheit der Anwohner des Hans-Watzlik-Weges unterschrieb erwartungsgemäß eine Resolution, in welcher sie sich für die Beibehaltung des Namens aussprachen. Doch auf politischer Ebene verschoben sich die Gewichte. Am wichtigsten waren Veränderungen innerhalb der SPD. Der ehemalige Bürgermeister dieser Partei, Heinz Schneider (er hatte während seiner Amtszeit zum 100. Geburtstag Kolbenhey-
ers einen Kranz an dessen Grab niedergelegt), übte Selbstkritik. Sein früheres Verhalten „pro Kol-
benheyer“ begründete er damit, dass er nur das Vermächtnis des ersten Geretsrieder Bürgermei-
sters, Karl Lederer vom BHE (Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten; diese Organisation trat hier bis 1972 zur Stadtratswahl an!), fortführen wollte. Doch seine wichtigste Aussage lautete: „Heute sehe ich ein: Ich habe mich geirrt.“

Bayerisches Fernsehen stört die Ruhe vor Ort

Als Ergebnis solcher Lernprozesse scheiterte die Umbenennung der Straßen diesmal mit nur einer Stimme Unterschied. Einzig die Räte von CSU und REP’s votierten für die Beibehaltung. Damit fand die zweite Runde ihren Abschluss.

Wieder gingen Jahre ins Land. Die Kommunalwahlen führten zu einer Stärkung der CSU. Und Hans Schmid, der ehemalige Bürgermeister des Regenbogenbündnisses, trat in die CSU ein; Veränderungen, die Möglichkeiten für eine Straßen-Umbenennung nicht gerade steigerten. In breiteren Kreisen der Geretsrieder Bevölkerung wäre dafür wohl auch keine Unterstützung zu bekommen gewesen.

Ausgerechnet das Bayerische Fernsehen störte dann aber die Ruhe vor Ort. Im Magazin „Zeitspie-
gel“ wurde über einen ähnlichen Fall aus Regensburg berichtet. Dort hatte die CSU in den letzten Jahren alle Anträge auf Umbenennung der Florian-Seidl-Straße abgeschmettert, bis sie dann doch, völlig überraschend, einer Änderung zustimmte. In dieser Sendung stellten die Journalisten die Frage, wie man mit solchen Namen in anderen Orten umgeht. Als Beispiel wählten sie Geretsried. Durch dieses Interesse kamen die Straßennamen wieder in die öffentliche Diskussion. Die ersten Stellungnahmen ließen einen Verlauf wie 1993 erwarten. Aber der Schlagabtausch war noch gar nicht richtig losgegangen, als die Lokalbeilage der SZ einen „Knaller“ landete.

Einer ihrer Redakteure erkundigte sich bei verschiedenen Stadträten nach ihrer Meinung zu Kol-
benheyer. Zu den Interviewten gehörte Kulturreferent Roland Brich von der CSU. Dieser ist für sei-
ne rechten Stammtischsprüche bekannt. Erwartungsgemäß verteidigte er Kolbenheyer und be-
zeichnete die Debatte als Farce mit kommunistischer Tendenz. Befürworter der Umbenennung, namentlich zwei am Ort bekannte VVN-BdA-Mitglieder, stellte er als „Gschaftlhuber, die nur Hass säen“ hin. Damit befand er sich noch im tolerierten Meinungsspektrum. Doch dann ergänzte er seine Aussagen mit dem inzwischen bundesweit durch die Medien gegangenen Bezug Schröder-Hitler. Demnach habe Hitler eingehalten, was er versprochen habe – und ein Bundeskanzler Schröder könnte froh sein, wenn er so einen hätte. Hitler, so der Kulturreferent, habe „für die damalige Zeit auf jeden Fall Gutes getan“.

Damit bekam die Angelegenheit eine ganz neue Wendung. Im ersten Moment sah alles noch nach den üblichen Geretsrieder Verfahrensweisen aus. Die CSU hielt sich bedeckt und ihr Bürgermeister versuchte zu erläutern, was die Beweggründe für die Stellungnahme des Kulturreferenten gewesen sein könnten. Er äußerte, dass Brich „alles andere als rechtsradikal“ sei. Stadträte von SPD, FDP, Grünen und Freien Wählern dagegen forderten den Rücktritt des Kulturreferenten.

Der Ministerpräsident spricht ein Machtwort

Nun jedoch griff der bayerische Ministerpräsident, Edmund Stoiber, höchstselbst ein und sprach: „Solche unmöglichen Äußerungen können nicht im Raum stehen bleiben.“ Für diese Distanzierung hatte Stoiber auch allen Grund. Er ist, obwohl im nahen Wolfratshausen wohnend, Mitglied im Ge-
retsrieder CSU-Ortsverband. Anscheinend betrachtet der Ministerpräsident die dortigen Verhält-
nisse als ideale Basis für sein politisches Wirken. Doch wenn diese Zustände in ihrer ganzen Breite einer größeren Öffentlichkeit bekannt werden, kann ihm das schaden: Max Mannheimer, der Vor-
sitzende der Lagergemeinschaft Dachau, hatte bereits sein „Entsetzen über den braunen Sumpf in der Geretsrieder CSU“ in der Presse zum Ausdruck gebracht. Es blieb der CSU nichts anderes mehr übrig, als sich von ihrem Kulturreferenten zu distanzieren und – gewissermaßen als Sühne – die Umbenennung der beiden Straßen mit zu tragen. Aufgrund des Machtwortes von ganz oben gab es dann von den Vertretern der Geretsrieder Rechten kaum Widerspruch. Lediglich der Ortsvorsit-
zende der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL), Franz Pikal, sprang Brich zur Seite. Diese Schützenhilfe fasste die Lokalpresse kurz und knapp zusammen: „Pikal lobt Hitler“. Während Brich wegen des öffentlichen Drucks sowohl als Kulturreferent als auch als Stadtrat zurücktreten musste, ist von Pikal über etwaige Rücktritte bisher nichts bekannt. Nur der Kreisverband der SL veröffentlichte eine nicht besonders glaubwürdige Distanzierung.

Das Ansehen der Stadt „gerettet“

Nach der Stellungnahme des Ministerpräsidenten ging alles sehr schnell: Die CSU verständigte sich mit den anderen Kräften im Stadtrat auf eine gemeinsame Resolution zur Änderung der Stra-
ßennamen. Man vereinbarte als neue Namen „Graßlitzer Straße“ und „Karlsbader Weg“. Von dort kamen damals die ersten Sudetendeutschen nach Geretsried. In der Stadtratssitzung wurde das Abgesprochene ohne Debatte einstimmig angenommen. Diese Vorgehensweise war wohl notwen-
dig, um die Geretsrieder Volksseele nicht weiter zu reizen. In privaten Gesprächen bekam man Ansichten zu hören wie die, dass die beiden Dichter sowieso niemand mehr kenne. Deshalb könnten die Straßen ihre Namen behalten, auch wenn die Namensgeber Nazis gewesen sein soll-
ten. Solcherart Widerwille gegen die Umbenennungen konnte aber weitgehend unter der Decke gehalten werden; es fand sich keine wirkliche Autorität, die diese Position öffentlich artikuliert hätte. Andererseits zog das Argument, dass nach den Äußerungen von Brich die Straßenumbenen-
nungen zur Rettung des Ansehens der Stadt notwendig geworden seien. Dazu trug die Lokalpresse ihr Teil bei. Sie berichtete über die „Negativ-Schlagzeilen in ganz Deutschland“. Das verfehlte seine Wirkung nicht, die rechte Basis war davon tief beeindruckt.

Was man in Geretsried aber wohl tatsächlich von Blut-und-Boden-Schriftstellern hält, mag Fol-
gendes illustrieren: Im neuen „Geretsrieder Heimatbuch“ findet sich Kolbenheyer an erster Stelle in der Rubrik „Persönlichkeiten der Literatur und Kunst“. Dort werden seine nackten Lebensdaten aufgeführt, ohne den geringsten Hinweis auf seine ideologischen Positionen oder gar eine Distan-
zierung davon. Und zum Ausschmücken dieses Details sei auf den weiterhin existierenden Her-
mann-Löns-Weg verwiesen – erinnernd an jenen vor allem in der NS-Zeit hoch geehrten und ge-
schätzten völkischen „Heimatdichter“, der 1914 bei Reims den „Heldentod“ starb.

Günter Reschke
(Manuskript abgeschlossen am 10. Januar 2000)


antifa-rundschau 41 vom Januar/März 2000.

Überraschung

Jahr: 1999
Bereich: Gedenken