Materialien 2002

Siemens AG München: Bericht aus der Hofmannstraße

„Die Familie Siemens gibt es nicht mehr“ (Heribert Fieber, Betriebsratsvorsitzender)

Mitte August 2002 hat die Betriebsleitung des Standortes Siemens Hofmannstraße mitgeteilt, dass sie plant, bis zum 30.09.2002, also binnen sechs Wochen, 2.600 von 10.300 Arbeitnehmern zu entlassen. Diese Absicht bezieht sich im Wesentlichen auf den Bereich ICN (Festnetz), wo durch die Entlassung weiterer 2.300 Mitarbeiter die Belegschaft auf 4.300 Mitarbeiter reduziert werden soll. Im Bereich der Mobilen Netze (ICM N) sollen 300 Arbeitsplätze vernichtet werden.

Dafür hat man sich ein raffiniertes Entsorgungssystem, kombiniert mit einer kleinen Recycling-Anlage ausgedacht. Damit der Bereichsvorstand keine „betriebsbedingten“ Kündigungen aussprechen muss, sollen die 2.600 „freiwillig“ ihren Arbeitsplatz räumen, zu Gunsten eines auf ein Jahr befristeten Jobs in einer externen „Beschäftigungsgesellschaft“. Ein reiner Etikettenschwindel, denn Beschäftigung gibt es in dieser nicht, sondern „Kurzarbeit 0“. In den 12 Monaten sollen die Mitarbeiter für den Arbeitsmarkt „qualifiziert“ werden. Was unter „Qualifizierung“ wirklich gemeint ist angesichts der Tatsache, dass die betroffenen Mitarbeiter allesamt hochqualifizierte Fachkräfte sind, stellte sich schnell heraus: Die Mitarbeiter sollten ihren „mind set“, also ihre Einstellung zur Erwerbsarbeit ändern, vor allem dahingehend, dass sie zukünftig zur Marktbedingung, also mit 20 – 30 Prozent weniger Lohn bei längeren und flexibleren Arbeitszeiten arbeiten müssen. Je nach Marktnachfrage werden dann geeignete Arbeitnehmer aus der Beschäftigungsgesellschaft in die Auffanggesellschaft „übernommen“. „Auffanggesellschaft“ meint eine Arbeitnehmerüberlassungsfirma, die ihre Angestellten auf dem Leiharbeitnehmermarkt anbietet. Etwaige tarifvertragliche Rechte stünden noch in den Sternen. Auch der Verleih zur Siemens AG, selbst zu ICN, ist juristisch möglich. So kann ICN, sollte sich herausstellen, dass durch den Personalabbau der Geschäftsbetrieb zusammenbricht, die eingearbeiteten Arbeitskräfte von der Auffanggesellschaft „leasen“. Die Firma geht davon aus, dass zu Beginn ca. 300 Mitarbeitern ein projektbezogener, befristeter Arbeitsplatz in der Auffanggesellschaft angeboten werden kann. Dieses System ist auf Dauerbetrieb angelegt. Siemens antizipiert hier die Vorschläge der Hartz-Kommission zur Deregulierung des Arbeitsmarktes. Nach Hartz soll die Einsatzzeit von Leiharbeitern pro Betrieb unbegrenzt sein. Bisher war das auf maximal 2 Jahre limitiert. Siemens könnte dadurch sukzessive seine Stammbelegschaft abbauen und durch Leiharbeiter ersetzen. Im gesamten IT-Bereich würde so ein krebsartig wuchernder Billiglohn-Sektor geschaffen. Kein Wunder, dass die IT-Branche die Hartz-Vorschläge begeistert begrüßte. Gerade in der IT-Branche könnten befristete Arbeitsverträge und das „Austesten von Leih-Mitarbeitern den Spielraum vieler Unternehmen vergrößern“, heißt es in einer Presseerklärung. Das Siemens-Modell dürfte auch bei anderen Konzernen und Branchen Schule machen.

Der Betriebsrat ist mit derartigen Modellen von Personalplanung ganz und gar nicht einverstanden und schlägt stattdessen eine Arbeitszeitverkürzung von 20 Prozent in Form von Kurzarbeit, evtl. auch gemäß Beschäftigungssicherungstarifvertrag der IG Metall vor. Dieser überaus vernünftige Vorschlag wurde vom Management rundweg abgelehnt.

Im Betriebsrat ist die IG Metall die stärkste Fraktion. Die anderen Gruppierungen sind die AUB (Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Betriebsräte), Für UNS (Nichtraucherschutz), UHL (auch Unabhängige) und ver.di (= ehemals DAG/AN).

Die Hälfte der Belegschaft ist im übertariflichen Bereich beschäftigt. Der Organisationsgrad bei der IG Metall ist unter 10 Prozent.

Der Betriebsrat entwickelte eine Doppelstrategie: eine außerbetriebliche Öffentlichkeit schaffen und schnelle Informationen über den jeweiligen Verhandlungsstand an die Belegschaft.

Der Betriebsrat schrieb einen Brief an den Bundeskanzler: „Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, bitte setzten Sie sich ganz persönlich für unsere Anliegen ein. Wir wissen, dass sie zu Herrn Dr. von Pierer gute und sachliche Verbindungen haben. Diese zu nutzen, für unsere berechtigten Anliegen, nämlich den Erhalt von Arbeitsplätzen, ist unsere Bitte und dürfte auch in Ihrem Interesse liegen.“

Im Stadtrat von München brachte die CSU eine Resolution ein, in der sie den Stadtrat aufforderte, sich uneingeschränkt hinter die Forderung des Betriebsrats zu stellen und den Oberbürgermeister beauftragte, diese Forderung bei der Konzernzentrale vorzubringen. Der Antrag wurde einstimmig angenommen.

Betriebsintern fanden je nach Verhandlungsstand Bereichs- bzw. Betriebsversammlungen statt. Auch das Personalbüro und die Bereichsleitung organisierten Info-Veranstaltungen.

Die IG Metall startete eine Mitglieder-Werbekampagne. Die KollegInnen, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt die Beitrittserklärung unterschrieben, hatten ab 1. Oktober bereits Kündigungsschutz. Über 800 neue Mitglieder fanden den Weg zur IG Metall.

Das betriebsinterne Intranet wurde nicht nur von den Betroffenen sehr rege für Informationsaustausch genutzt. In einigen Abteilungen entstanden selbstorganisierte Arbeitsgruppen, die konkrete Vorschläge zur Arbeitszeitverkürzung erarbeiteten.

Im Oktober demonstrierten ca. 2.500 SiemensianerInnen vor der Konzernzentrale am Wittelsbacher Platz. Die Münchner Presse und die überregionalen Tageszeitungen SZ und Münchner Merkur berichteten über die Aktionen und den Verhandlungsstand. Im Bayerischen Fernsehen und Rundfunk wurden Betriebsräte zu Interviews und Diskussionssendungen eingeladen. Viele Betroffenen erlebten in dieser Zeit einen Wandel ihrer Werte. Die von ihnen geleistete hochqualifizierte Entwicklungs-, Forschungs- und Vertriebsarbeit war plötzlich nur noch Kostenfaktor. Das Individuum wird im kapitalistisch organisierten Arbeitsprozess je nach Bedarf „freigestellt“. Die Auffanggesellschaft wurde durchaus als „Billiglohnsektor“ im IT-Bereich erkannt. Dass auf die in der Siemens AG verbleibenden MitarbeiterInnen sich der Existenz- und Arbeitsdruck verschärfen wird, haben viele erkannt.

Am 24. Oktober wurde nach vielen Gesprächen in insgesamt 11 Verhandlungsrunden zwischen Betriebsleitung und Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung geschlossen. Vorgesehen ist ein Maßnahmenbündel, das aus vier Komponenten besteht:

1. Insourcing externer Dienstleistungen. Dies entspricht einem Kostenfaktor von ca. 250 Arbeitsplätzen, die dadurch erhalten werden können.

2. Die Verkürzung der Arbeitszeit. 2,5 Stunden pro Woche. Dies kommt rechnerisch einer Personalanpassung von ca. 350 Stellen gleich.

3. Gründung einer bereichsinternen Einheit zur Qualifizierung und Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt. In diese Einheit werden ca. 1.100 MitarbeiterInnen überführt.

4. Für weitere 300 MitarbeiterInnen werden einzelvertragliche Regelungen gefunden.

Dieser Kompromiss ist ein Ausdruck des Kräfteverhältnisses. Die Kapitalseite konnte die geplanten Massenentlassungen und noch weitere Arbeitszeitverdichtung für die Restbelegschaft nicht verwirklichen. Die externe Auffanggesellschaft ist weg. Die Arbeitszeitverkürzung muss für die außertariflichen MitarbeiterInnen mit einem Einzelvertrag akzeptiert werden. Für die tariflichen Angestellten tritt sie in Kraft. Es sind 2,5 Stunden pro Woche ohne Gehaltsausgleich. Die Veränderung für die KollegInnen ist sehr groß. Für den Einzelnen oder auch im Team muss die Arbeitszeitplanung gegen den Termindruck durchgesetzt werden. Das ist ein emanzipatorischer Schritt, der Mut und Ausdauer erfordert. Gelingt das nicht, oder nur ungenügend, sind bei der nächsten Krise oder Rationalisierung wieder einige hundert MitarbeiterInnen in der bereichsinternen Auffanggesellschaft, die dann später zur Arbeitslosigkeit führt.

Hans Reiserer
Quellennachweis: Broschüren der IG Metall


Arbeiterstimme 138 vom Winter 2002, 33 f.