Materialien 2003

Massenentlassungen und Widerstand bei Siemens

Wir hatten in den Nummern 138 und 139 der Arbeiterstimme darüber berichtet, wie die Angestellten im Siemens-Werk München Hofmannstraße sich gegen ausgesprochene und geplante Massenentlassungen zur Wehr setzen. Unseres Wissens ist ein so langer und konsequenter Widerstand in einem reinen Angestelltenbetrieb dieser Größe bisher einmalig in Deutschland. Wir halten die Ereignisse für wichtig und beispielhaft genug, um weiter darüber zu berichten.

Unter dem Titel „Schöne Neue Siemens Welt“ haben die IG Metall Bayern und das Münchner Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung (isw) eine Studie über den Wandel von der „Siemens-Familie“ zur „new corporate culture“ herausgegeben. Die Studie schildert und analysiert die Auseinandersetzungen um die Massenentlassungen in der Hofmannstraße. Sie dokumentiert eklatante Mißstände wie die Nichteinhaltung des Kündigungsschutzgesetzes und der Beteiligungsrechte des Betriebsrats durch den Konzern.

Am 30. April hat die Siemens AG eine einstweilige Verfügung gegen die Verbreitung der Broschüre beantragt. Jeweils 50.000 € sollten die beiden Herausgeber und der Autor Conrad Schuler für jedes Exemplar als Schadensersatz an die Siemens AG zahlen. Die Broschüre könnte mit der Werkszeitschrift „Siemens Welt“ verwechselt werden und außerdem verrate eine Tabelle Geschäftsgeheimnisse des Unternehmens.

Das Landgericht hat die einstweilige Verfügung aufgehoben.

Ein Vorschlag des Betriebsrats war unter anderem: Arbeitszeitverkürzung statt Entlassungen. Über 80 Prozent der Übertariflichen im ICN-Bereich (Information and Communication Networks) haben dem zugestimmt. Ab 1. August 2003 wird die Arbeitszeit für alle vollzeitbeschäftigten ICN-Mitarbeiter rechnerisch um 2,5 Stunden wöchentlich verkürzt (ohne Lohnausgleich). Dies basiert auf dem Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung. Die Firmenleitung und der Betriebsrat einigten sich jetzt (am 18. Juni) nach langen Verhandlungen darauf. Die Arbeitszeitverkürzung endet am 30. September 2005. Betriebsleitung und Betriebsrat können ein früheres Ende vereinbaren.

Bereits (gegen bestehende Betriebsvereinbarung) gekündigte Jubilare, die in neue Arbeitsplätze bei Siemens vermittelt werden sollten, erhielten in den letzten Tagen einen Brief, in dem es heißt: „Wir bedauern es sehr, dass es uns trotz intensivster Bemühungen nicht gelungen ist, Ihnen einen Arbeitsplatz zu vermitteln … Mit den hier aufgezeigten Aktivitäten betrachten wir unsere aus der Jubilarschutzregelung … sowie aus dem Vermittlungsgespräch vom 29. Januar 2003 sich ergebenden Aufgaben als erfüllt. Sofern sie sich nicht bis 23. Juni 2003 für einen hiermit nochmals angebotenen Aufhebungsvertrag entscheiden, wird sich eine betriebsbedingte Kündigung nicht vermeiden lassen.“

Nicht gerade ein gutes Vorzeichen dafür, dass sich Siemens künftig an Vereinbarungen zur Vermeidung von Kündigungen halten wird.

Vor der Betriebversammlung im Mai hatte die AUB (Die Unabhängigen) ein Flugblatt an die Belegschaft verteilt. Sie fordern u.a. „die Abgabe geschönter oder schlichtweg falscher Geschäftszahlen an den Bereichsvorstand muss in Zukunft zur fristlosen Entlassung der verantwortlichen Manager führen.“ Eine populistische Forderung nach einem Bauernopfer. Einige Zeilen weiter bekommen die IGM-Betriebsräte für ihren Einsatz ihr Fett weg. Zitat: „Zu verstehen ist dieses Verhalten der IG Metall-Betriebsräte, wenn man weiß, dass sie von Mitgliedern der DKP gesteuert werden. Ihr Mittelsmann ist der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende, der in der DKP eine leitende Funktion hat.“ Auf der Betriebsversammlung wurde dies von einem Sprecher der Betriebsleitung wiederholt.

Mit solchen Anwürfen konnte früher Beifall geerntet werden. Diesmal war eisiges Schweigen die Reaktion; es rührte sich keine Hand. Die Belegschaft lässt sich von bewährten Betriebsräten nicht spalten.

Die über 900 neu in die IGM eingetretenen Mitglieder sind noch fast alle in der Organisation.

Im Mai wurden weitere 150 Kündigungsbegehren ausgesprochen. Zu Pfingsten sollten noch mehr Entlassungen folgen. Inwieweit diese durch die o.g. Vereinbarung entfallen werden, ist für uns noch nicht absehbar.

Am 17. Juni wehte vor dem Hochhaus und dem ICN-Informationscenter neben der Siemens-Flagge die rote Fahne. Trotz oder Hoffnung? Anfang oder Episode?

Es bleibt spannend.

Stand 18. Juni 2003


Arbeiterstimme 140 vom Sommer 2003, 14.