Materialien 2003

Siemens Hofmannstraße: Widerstand und Reaktionen des Konzerns

Nach dem Einbruch des Geschäfts bei Informations- und Kommunikationsnetzen (ICN) reagierte die Siemens AG am Standort München Hofmannstraße mit Massenentlassungen. Der Betriebsrat und die Belegschaft setzten sich zur Wehr. Der Organisationsgrad in der IG Metall stieg sprunghaft um rund 800 neue Mitglieder. Wir haben die Auseinandersetzung seit Sommer 2002 verfolgt und kommentiert, weil unseres Wissens ein derart breiter Widerstand in einem reinen Angestelltenbetrieb in Deutschland bisher einmalig und daher exemplarisch ist.

Widerstand

Die Kündigungsschutzprozesse (zur Zeit rund 500) laufen. Die IG Metall bezahlt ihren Mitgliedern Rechtsanwälte ohne Rücksicht auf Karenzzeiten. In bisher allen Urteilen der 1. Instanz erhielten die Kläger/innen Recht: Diese Kündigungen sind unwirksam. Siemens ging in Berufung.

Die betriebseigene Beschäftigungsgesellschaft (beB) konnte bisher rund die Hälfte der ihr zugewiesenen Kolleginnen und Kollegen in neue Arbeitsverhältnisse vermitteln. Davon wiederum 50 Prozent auf Stellen außerhalb des Konzerns. Die in der beB „geparkten“ Belegschaftsmitglieder bleiben zumindest bis zur Auflösung der Gesellschaft (August 2004) Beschäftigte der Siemens AG, was vor allem für die Betriebsrente wichtig ist.

Auflösung des Standorts

Der Standort München Hofmannstraße wird zerschlagen. Das geht einher mit einem der größten Grundstücksgeschäfte in München. Der südliche Teil des Standorts wird zu einem noblen Wohn- und Geschäftsviertel (Isar Süd) umgestaltet. Der Konzern realisiert damit bedeutende Spekulationsgewinne aus den in München rasant gestiegenen Bodenpreisen.

Etwa 1.400 Beschäftigte aus ICN werden einem anderen Münchner Standort (Perlach) zugeschlagen (ohne IGM-Mehrheit im Betriebsrat) und dorthin versetzt, obwohl im alten Standort Hofmannstraße Gebäude leer stehen. „Mitarbeiter“, die erhöhten Kündigungsschutz haben (Behinderte und über 55-jährige), werden in einer gesonderten Organisationseinheit zusammengefasst, die ebenfalls aus dem bisherigen Standort ausgegliedert wird. Der Geschäftsbereich SBS (Gebäudetechnik) wird als selbständige Gesellschaft ausgegliedert und voraussichtlich verkauft oder mit anderen Firmen fusioniert.

Es werden vermehrt qualifizierte Arbeitsgebiete nach Billiglohnländern (Indien, Osteuropa) verlagert. Zur Zeit beträgt deren Anteil an der Software-Entwicklung rund 5 Prozent. Zielvorstellung des Konzerns sind 30 Prozent. Den neuen Namen: Globale Wertschöpfungsketten – wird man sich nicht nur bei Siemens Hofmannstraße merken müssen.

Arbeitsplatzabbau bei einem anderen Geschäftsgebiet (Mobilfunk) soll ohne Kündigungen mit gut ausgestatteten Aufhebungsverträgen durchgezogen werden.

Der Geschäftsbereich ICN beginnt sich etwas zu erholen. Für 2004 werden wieder Gewinne erwartet. Zusätzliche Arbeitsplätze werden nicht durch Aufhebung von Kündigungen oder aus der Beschäftigungsgesellschaft besetzt. Es werden junge Leute „vom Markt“ eingestellt. Das kommt billiger und der Konzern wahrt sein Gesicht. Auch dafür sind die Ausgliederungen notwendig, da die IGM-Mehrheit im Betriebsrat Hofmannstraße solchen Einstellungen nicht zustimmen würde.

Eine Siemens-eigene Leiharbeitsfirma wird gegründet. Diese soll im wesentlichen Arbeitskräfte im Niedriglohnbereich auf höchstens 18 Monate befristet einstellen. Darauf wird der Betriebsrat Hofmannstraße keinen Einfluss mehr haben.

Schikanen und Angriffe des Konzerns

Zahllose Schikanen gegen Kolleginnen und Kollegen sind alltäglich geworden. Ein Beispiel: Eine Kollegin wurde nach 33-jähriger Betriebszugehörigkeit gekündigt. Sie reichte keine Klage ein, sondern unterschrieb einen Aufhebungsvertrag. Danach nahm sie sich das Leben. Eine andere Kollegin wird von der Betriebsleitung verdächtigt, den Selbstmord und die Hintergründe im gewerkschaftsnahen Internet-Netzwerk der Belegschaft (NCI) veröffentlicht zu haben. Diese Kollegin wurde fristlos gekündigt. Sie legte Kündigungsschutzklage ein. Die IGM gibt Rechtsschutz.

Vor den Betriebsversammlungen am 26. und 27. November klebte die „Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebsangehöriger“ (AUB) in den Straßen um das Werksgelände Plakate mit Parolen wie: „Fieber ist das Letzte, was wir uns jetzt leisten können. IG-Metall und DKP stoppen“, unter anderem. Das bezieht sich auf Heribert Fieber (Betriebsratsvorsitzender) und seinen Stellvertreter Leonhard Maier (beide IGM). Die AUB ist eine von der Gewerkschaft, nicht aber von der Konzernleitung unabhängige Organisation, die im ganzen Siemens-Konzern gegen die IGM konkurriert.

Der Schuss ging nach hinten los. Auf der Betriebsversammlung am 27. November erklärte eine Betriebsrätin der AUB ihren Austritt aus der AUB als Protest gegen die Angriffe auf den Kollegen Fieber. Inzwischen folgten weitere AUB-Mitglieder ihrem Beispiel. Die Rede des Sprechers der Betriebsleitung zur weiteren Entwicklung des Standorts Hofmannstraße quittierte die Belegschaft mit einem Pfeifkonzert.

Strategien und Erfahrungen

Der Betriebsrat München Hofmannstraße vermied von Anfang an; eine Stellvertreter-Rolle einzunehmen. Die betroffenen Betriebsangehörigen wurden über Abstimmungen in alle Entscheidungen einbezogen. Das traf für die mehrheitliche Zustimmung der Kolleginnen und Kollegen zu einer Verkürzung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich ebenso zu wie für alle weiteren Entwicklungen. Die Belegschaft machte ihre positiven wie negativen Erfahrungen. Die Kolleginnen und Kollegen lernen, dass sie für ihre Zukunft selbst verantwortlich sind. Ein Abwälzen der Verantwortung auf den Betriebsrat (oder die Gewerkschaft) war nicht möglich, doch dieser trug die Entscheidungen der Belegschaft mit und vertrat sie gegen die Betriebsleitung und in der Öffentlichkeit.

Die IG Metall zog bei dieser ungewohnten Strategie mit.

Ziel des Betriebsrats und der IGM-Vertrauensleute war die Erhaltung möglichst vieler Arbeitsplätze. Ein „günstiger“ Sozialplan, den Betriebsräte häufig als das Verdienst ihres Verhandlungsgeschicks darstellen, trat gegenüber diesem Hauptziel zurück. Im Bereich Mobile (siehe oben) wurde allerdings in Übereinstimmung mit der Mehrheit der Beschäftigten ein Sozialplan abgeschlossen.

Die Belegschaft im Bereich ICN steht nach wie vor gegen die Pläne des Konzerns. Nur wenige der im letzten Jahr in die IGM Eingetretenen haben die Gewerkschaft verlassen. Das Vertrauen in die „Siemens-Familie“, in Sozialpartnerschaft und Fairness des „Arbeitgebers“ ist gründlich zerstört. Bis zu einem Klassenbewusstsein als „Klasse für sich“ ist bei diesen zum großen Teil übertariflich bezahlten Angestellten sicher noch ein weites Stück Weg. Aber ein Anfang ist vielleicht gemacht. Die Unterstützung aus der Bevölkerung der umliegenden Stadtteile (Kirchengemeinden, das alternative Radio Lora u.a.) besteht weiter.

Die Zerschlagung des Standorts Hofmannstraße allerdings können weder Belegschaft noch Betriebsrat verhindern. Die Betriebsleitung versucht offensichtlich Neuwahlen zum Betriebsrat zu erzwingen, indem sie die Belegschaft des Standorts durch die oben genannten Verlagerungen und durch Entlassungen um mehr als die Hälfte verringert. Hier treffen für den Konzern ökonomische und politische Interessen zusammen: Die Einsparmaßnahmen zu Lasten der Belegschaft können – wenn auch in erheblich geringerem Maße als geplant – durchgesetzt und widerständige IG Metall-Betriebsräte abgewählt werden. Auch eine leichtere Durchsetzung der ausgesprochenen und künftig geplanten Kündigungen mag sich die Betriebsleitung versprechen. Das wäre auch ein Disziplinierungserfolg gegen die IGM. In diesem Zusammenhang ist auch die erwähnte Plakataktion der AUB zu sehen. Zur Zeit allerdings sehen die IGM-Kolleginnen und -Kollegen gute Chancen sich zu behaupten.

Auf einige andere Betriebe sind Auswirkungen zu beobachten. Bei MAN München zog der Betriebsrat einen bereits ausgehandelten Sozialplan zurück. Auch in Siemens-Standorten in Berlin wird das Beispiel Hofmannstraße aufmerksam verfolgt.

Stand: 3. Dezember 2003


Arbeiterstimme 142 vom Winter 2003, 7 f.