Materialien 1976

Resignation und Verwirrung

Der Nachkriegsaufschwung bescherte auch den Siemens-Arbeitern regelmäßigen Reallohnzu-
wachs, Sicherheit des Arbeitsplatzes und die Erwartung, dass dies auf immer so weitergehen würde. Durch Sonderleistungen wie Erfolgsbeteiligung, „Siemens-Feiertag“, Erholungsheime
u.a. sowie geschickte Propaganda gelang es überdies der Firmenleitung, bei vielen Kollegen eine emotionale Bindung an „das Haus Siemens“ herzustellen.

Hatte schon die erste Rezession 1966/67 diesen „Siemens-Geist“ etwas angeknackt, so ist er heute allenfalls noch sporadisch vorhanden.

Dies führte aber nun keineswegs automatisch zur Entwicklung von Solidarität, Klassenbewusstsein und Kampfbereitschaft, sondern bei der überwiegenden Mehrheit zu Ratlosigkeit. Dies fand seinen Ausdruck nicht nur in widerstandsloser Hinnahme der Konzernpolitik, sondern auch in der weit-
gehenden Abkehr von den alten IGM-Betriebsräten, die als Versager gesehen wurden.

In zwei der größten Betriebe (Verwaltungsgebäude Erlangen und Siemens Hofmannstraße München) verlor die IGM sogar die Mehrheit an DAG und „Unabhängige“.

Es gibt mehrere Gründe für die Passivität der Belegschaften: Einmal bestehen sie (jedenfalls im süddeutschen Raum) überwiegend aus Proletariern der 1. Generation mit hohem Angestellten-
anteil. Klassenbewusstsein ist also nicht, wie etwa an der Ruhr, nur „verschüttet“, sondern war nie vorhanden. Der hohe Frauenanteil (vor allem Ausländerinnen) in der Produktion in Verbindung mit dem patriarchalisch geprägten Bewusstsein dieser Kolleginnen erschwert Widerstand zusätz-
ich. Ebenso der traditionelle Individualismus der Angestellten. Endlich haben die gewerkschaft-
lichen Organe und die Betriebsräte, beeinflusst natürlich vom Bewusstsein der Kollegen, konse-
quent Sozialpartnerschaft betrieben und sind für die Belegschaften daher auch nicht als Alternative gegen die Konzernpolitik in Erscheinung getreten.

Ansätze, durch Einbeziehen der Kollegenschaft konsequente Interessenpolitik zu betreiben, blie-
ben vereinzelt und wurden vom Konzern relativ leicht durch Disziplinarmaßnahmen zerschlagen.

So verfehlte auch die IG Metall, fortschrittliche Impulse zu geben, die vielleicht das Entstehen von gewerkschaftlichen „Kernen“ mit Einfluss auf die Belegschaften hätte ermöglichen können, und die den Belegschaften eine Alternative zum Widerstand gegen die Konzernpolitik hätte aufzeigen kön-
nen.


Arbeiterstimme 4 – 5/1976, 34.