Materialien 1971

Nachruf

Hildegard Keller wurde am 29. April 1928 als uneheliches Kind einer Bauerntochter geboren. Ihren Vater hat sie nie kennen gelernt. Die ersten Jahre ihres Lebens verbrachte sie bei ihren Großeltern. Im Kindergarten musste sie beim Essen immer allein an einem Tisch sitzen, weil sie ein „Kind der Sünde“ war. Die Mutter heiratete einen Bauern in Lochhausen (seit 1938 nach München einge-
meindet). Der Stiefvater behandelte sie gut. Ihre Mutter schilderte Hilde als hart und oft unge-
recht.

Sie besuchte eine zweiklassige Volksschule. Der Lehrer schlug vor, sie solle auf die Oberschule gehen. Sie bestand die Aufnahmeprüfung. Bessere Schulbildung galt damals auf dem Land als überflüssig und zu teuer – erst recht bei Mädchen. Die Eltern ließen sie auf der Volksschule.

Als junges Mädchen verliebte sie sich in einen älteren Mann. Sie wollte weg. Ihre Mutter steckte sie in die „Fürsorgeerziehung“. Dienstverpflichtet arbeitete sie von dort aus in einer Munitionsfabrik für RM -,32/Std. Bei einem Luftangriff wurde der Bunker, in dem sie war, getroffen. Sie wurde verschüttet und erst nach einigen Stunden ausgegraben. Ihr ganzes Leben lang hasste sie Krieg und alles was damit zusammenhing.

In den Wirren der ersten Nachkriegszeit gelang ihr die Flucht aus der „Fürsorge“. In Mainz, später in Worms, (damals französische Besatzungszone) war sie sicher. Sie arbeitete hauptsächlich in katholischen Krankenhäusern und Kindergärten als Putzfrau.

Auch als sie, volljährig geworden, nach München zurückkehrte, blieben ihr nur schlecht bezahlte Jobs als Haushaltsgehilfin oder in Gaststätten, weil sie ja keine Ausbildung hatte. Aber sie schlug sich durch.

Sie heiratete Mitte der fünfziger Jahre und gebar zwei Söhne. Ihr Mann war Schlosser. Als er dauerhaft erkrankte, musste sie die Haushaltskasse durch Zeitungsaustragen aufbessern. Dabei geriet sie zum erstenmal in Kontakt mit der Gewerkschaft. Sie trat der damaligen IG Druck und Papier bei. Als sie bei Siemens einen Arbeitsplatz als ungelernte Arbeiterin bekam, trat sie in die IG Metall über. Der Betriebsrat von Siemens Balanstraße hatte nicht genug Kandidaten für die näch-
ste Wahl und forderte sie auf zu kandidieren. Sie wurde gewählt.

Hilde hat mir oft geschildert, wie naiv sie die Arbeit im Betriebsrat aufnahm. Sie glaubte ehrlich, sich für ihre Kolleginnen und Kollegen einsetzen zu können und dabei den Rückhalt einer starken Organisation zu haben. Das Gremium bei Siemens Balanstraße betrieb aber schon Co-Manage-
ment, bevor der Begriff erfunden war, und ließ sie fallen. Sie besuchte Schulungen, erwarb Wissen und konnte sich dadurch und durch ihre angeborene Hartnäckigkeit behaupten; aber es war schwer, immer gegen den Strom zu schwimmen. Am meisten widerte sie die Art an, wie Zuge-
ständnisse an die Unternehmer zu Erfolgen für die Lohnarbeiter umgelogen wurden.

1970 lernten wir uns auf einem IG Metall-Seminar kennen. Sie stand damals viel weiter links als ihr selbst bewusst war. Die Erfahrungen ihrer Jugend hatten sie empfindlich gemacht für alles, was sie als ungerecht empfand – und dann ging sie kompromisslos dagegen an. Sie hatte einen Klas-
senstandpunkt, bevor sie das Wort kannte. 1971 bekamen wir Kontakt zur Gruppe Arbeiterstimme und besuchten zum erstenmal eine Jahreskonferenz. Es war wohl zuerst die meist sachliche, soli-
darische Art miteinander und auch mit Kritik umzugehen, die uns dazu brachte wiederzukommen. Die Gruppe hob sich angenehm ab von dem wirren Aktionismus der K-Gruppen einerseits und von dem Dogmatismus der DKP andererseits. Die Nüchternheit der Analysen unterschied sich deutlich von den Illusionen beider.

Hilde las viel, aber wenig theoretische Schriften. Ihre unzulängliche Schulbildung machte es ihr schwer, Marx oder auch Thalheimer zu verstehen. Sie sprach lieber mit Friedel und Isi Abusch, Schorse Stockmann und anderen Genossen über marxistische Theorie. Mir kam das sehr gelegen, weil es die vielen Gespräche, die ich mit ihr führte, ergänzte und unterstützte. Hilde glaubte selten etwas beim erstenmal.

Ihre gewerkschaftliche Erfahrung und ihre Illusionslosigkeit beeinflussten viele Artikel zur Gewerkschaftsarbeit in unserer Zeitung.

Wir hatten viele Pläne (vor allem für Reisen), als wir beide in Rente waren. Nur wenig davon konnten wir verwirklichen. Hilde erkrankte an Darmkrebs. 5 Operationen und lange Behandlung mit Chemotherapie konnten ihr nicht dauerhaft helfen. Am 17. November 2000 starb sie.

Sie hinterlässt eine große Lücke.

P.E.


Arbeiterstimme 131 vom März 2001, 3.