Materialien 1990
Innerer Monolog der Straßenbahnfahrerin Roberta Laub am 28. Oktober 1990
(An einem der ersten trüben und nasskalten Tage des Jahres. Es ist noch dunkel. Die Straßenbahnfahrerin hat ihr Fahrzeug schon hergerichtet, Zielschild, Uhrzeit und Haltestellenzahlen überprüft. Es ist 4.54 Uhr.)
»Roberta, du bist Straßenbahnfahrerin, sonst nichts! Konzentrier dich!« Also – Sand fällt, Schienenbremse fällt, alles in Ordnung. Blöd, dass mir schon wieder so flau ist im Magen, aber um halb vier in der Früh essen, das geht auch nach jahrelangem Schichtdienst noch nicht. Da vorne im Dunkeln zwei Fahrgäste. Endlich. Ich fahr’ nicht gern allein, komm’ mir überflüssig vor, mit so einem Riesenzug völlig leer durch die Stadt zu rattern – außerdem werd’ ich da furchtbar müde … Zwei Türkinnen. Die ersten, die morgens unterwegs sind … Soll ich jetzt die Haltestellen ansagen? Im leeren Zug hallt das so. Also beim nächsten, der einsteigt … Die beiden werden eh wissen, wo sie hinwollen … Mensch, gestern, das mit Franz am Giesinger Bahnhof! Die Frau soll ja sofort tot gewesen sein. Von links im Dunkeln vor den Zug gelaufen. Schreck, der bis ins Herz sticht. Schnellbremsung! – Und dann die Frau unter dem Zug. Und der hilflose Schrei von Franz am Funk: >Schnell, schnell, Notarzt, Feuerwehr!!< Seinen Standort hat er nicht mehr gewusst, und welche Trambahn er ist und nichts mehr … Und dann die Strecke zur Schwanseestraße stunden-
lang gesperrt … Roberta!! Paß auf! Den Mann am Gleis hättest du jetzt beinahe nicht gesehen. Der, wenn einen Schritt nach vorne gemacht hätte … – Nächste Haltestelle Agnes-Bernauer-Platz – Mein Gott, ist das kalt heut’! Jetzt ein warmes Bett … Nur nicht dran denken … Warum steigen eigentlich die Fahrgäste immer bei der ersten Tür ein im Winter, wo’s doch bei uns da hervorn sowieso schon so kalt ist und durch alle Ritzen zieht … Wenn der Winter nur schon um wär’… ewig die kalten Hände und die Frostbeulen … Der Amtsarzt hat gesagt, so was hat er seit dem letzten Krieg nicht mehr gesehen … – Nächste Haltestelle Willibaldplatz – Und durch unsere Dienstano-
raks aus 100 % Polyacryl pfeift auch jedes Lüfterl … Ja früher, die Trambahner, die haben wenig-
stens noch Pelzmäntel gehabt. Bestimmt haben die beim Stehen auch nicht so gefroren wie wir … Und das Kreuz hat ihnen wahrscheinlich auch nicht so weh getan wie uns heut’ … Die Maria hat auch gesagt, dass sie, seit sie bei der U-Bahn ist, nicht mehr solche Schwierigkeiten hat, weil sie immer wieder im Stehen fahren kann … Zweimal ist sie schon operiert worden an den Bandschei-
ben, und dann ist sie heroben vom Fahren abgesetzt worden und zur U-Bahn gekommen … Für mich wär’ das trotzdem nichts da unten … die ewige Dunkelheit … da komm’ ich noch früh genug hinunter … Bessere Sitze bräuchten wir halt … so wie die Busfahrer. Aber es heißt halt immer, es rentiert sich nicht mehr, weil doch nächstes Jahr die neuen Züge kommen. Ich bin ja gespannt … – Nächste Haltestelle Lohensteinstraße – Warum ist eigentlich in einer Straßenbahn so eine ganz andere Atmosphäre als in Bus oder U-Bahn? Fahrgäste steigen ein und singen ,Liebe, kleine Schaffnerin, sag’, wo fährt dein Wagen hin …< oder sprechen mich an auf den Weiß Ferdl und die Ida Schumacher … Ich würd’ auch gerne mal mit einem Song auftreten. Zur Melodie von der »Seeräuberjenny« würd’ ich singen: >Meine Herren, heute sehen Sie mich Straßenbahn fahren/ Und ich mache die Tür auf für jeden/Und Sie geben mir zweimark-vierzig/Und ich bedanke mich schnell/Und Sie sehen meine Trambahn ist’ ein lumpiges Modell/Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden …<
Roberta!! … Nächste Haltestelle Gräfstraße – Eigentlich ist eine Straßenbahnfahrerin ja immer auf der Bühne – mehr der Öffentlichkeit ausgesetzt als jede Schauspielerin. Die haben wenigstens Rückendeckung auf ihrer Bühne: Und einen Souffleur. Unsereins wird von draußen, von vorn, von seitlich und drinnen hinten beäugt, sitzt wie in einer Vitrine und das permanent! Roberta! Wo bist du schon wieder! Pass auf! Wenn etwas passiert wegen deiner Träumerei, wirst du deines Lebens nicht mehr froh … Sowieso wirst du dich immer schuldig fühlen. Egal wie unvermeidbar so ein Unfall war. Also reiß’ dich zusammen. Du bist Straßenbahnfahrerin, sonst nichts! Oder Indianer. Auf der Lauer liegen. Alles, aber auch alles sehen, auch, was sich ganz weit da vorne tut … die Schienen abtasten und das Gebüsch und die Reifensteilung dieses Linksabbiegers da neben dir. Alles sehen, damit dich die Gefahr nicht überraschen kann … Aber das wird sie immer. Und acht Stunden am Tag hält das doch keiner aus! Ja – und später mal, im fahrerlosen Schienenverkehr, wie soll denn da so ein Sensor alles spüren, erahnen, was sich in Passanten- und Autofahrerköpfen abspielt? Nächste Haltestelle am Knie. Oder wird es dann wieder so, dass der Mensch mehr ängstlichen Respekt vor dieser Maschine haben wird, die mit ihren fast vierzig Tonnen alles zermalmt, was ihr in die Quere kommt? Ah, diese Griechin kenne ich auch. Die wartet jetzt schon auf mich, dass ich stadteinwärts fahre, die fährt jeden Morgen zur Hauptpost …
Mehr lesen möchte ich wieder. Noch was von Kundera zum Beispiel … Ja, das Leichte und das Schwere … Mein Leichtes: das Fahren mit gutgelaunten Fahrgästen an einem heiteren Frühlings-
tag. Dies sieht dann so leicht aus, dass jemand beim Aussteigen sagt: >So schön wie Sie möcht’ ich es auch einmal haben! Den ganzen Tag umeinander fahren. Ich muss jetzt zur Arbeit!< Und das Schwere: Dass es um Leben und Tod geht im Verkehr. Nächste Haltestelle Offenbachstraße. Die Schwächsten bleiben auf der Strecke. Und wir in diesem Beruf müssen körperlich und seelisch in Form sein. Die Fehler der anderen ausgleichen. Und selbst nur ja keinen begehen – zum Beispiel träumen, Roberta!!
Warum kann ich mein Hirn nicht abstellen? Warum läuft da ständig alles stereo und quadro durcheinander. Also jetzt: Nur fahren, Roberta, sonst nichts! Trotzdem – ich würde gerne mehr Sprachen können. Wie der Franz von Assisi seine Vögelchen könnte ich dann meine Fahrgäste belauschen. Die Touristengruppen am Hauptbahnhof und – noch lieber – die vielen kleinen ausländischen Schulkinder, die sich morgens und mittags in den Wagen drängen und alles mit lautem Gezwitscher erfüllen. Manchmal schenkt mir eines der Kleinen Schokolade. Viele winken mir noch nach, bevor sie in Rudeln davon sausen. So was gehört zum ganz Leichten und Schönen! Auch neulich, als mir dieser ältere Herr ein Sträußchen frischer Veilchen geschenkt hat …
Aber sonst – diese ewige Hetze: Jeder, der im Zug sitzt, kann nicht verstehen, dass man noch
auf Heraneilende wartet, will schnell weiter, und jeder, der zur Haltestelle rennt, will natürlich unbedingt noch mit und nicht verstehen, dass die anderen dann womöglich ihre U-Bahn- und sonstigen Anschlüsse nicht mehr erwischen … Wohl der idealste Beruf, um zu lernen, dass es einfach nicht jedem recht zu machen ist!
Und wozu diese Rennerei und Hektik? Was hat der Mensch denn davon, dass er immer schneller wird? Die Entdeckung der Langsamkeit, auch so ein tolles Buch. Handelt aber nicht vom Verkehr. Was ich ja damals ganz freudig überrascht dachte, als ich den Titel zum ersten Mal las … Nein, über die lebensrettende Langsamkeit im Verkehr muss erst noch was geschrieben werden. Vielleicht von mir?
Nächste Haltestelle Pasing Marienplatz! Endstation!
Root Leeb
Landeshauptstadt München (Hg.), Arbeit ist das halbe Leben … Münchner Arbeitswelten damals und heute. Geschichtswettbewerb 1991, München 1992, 120 f.