Materialien 1981

NOTEN - ja oder nein?

Immer wenn es Zeugnisse gibt, gießen nach dem Motto „alle Jahre wieder“ Politiker, Parteien und Organisationen ihre Sanftmut, ihren Beruhigungstee vom Podest ihrer Verantwortung aus über die Schülerscharen.

Es werden
► Not-Telefone eingerichtet (und man kommt sich damit pädagogisch irre fortschrittlich vor),
► sensible Mädchen und Jungen gebeten, keine Dummheiten zu machen (eine Umschreibung für Selbstmord – und man fühlt sich dabei wie in einem Brausebad der Menschlichkeit),
► die Eltern aufgefordert, Nachsicht zu üben, wenn Kinder schlechte Zensuren heimbringen (angesprochen werden die gleichen Eltern, denen reaktionäre Kräfte von der CSU bis zur NPD und von Fanatikern aus dem kirchlichen sowie militärischen Bereich ständig vorwerfen, sie würden durch tolerante, fortschrittliche Erziehungsmethoden die Jugend verderben).

So war Hans Maier, der Repräsentant
► des Staates als Kultusminister
► der CSU als stellvertretender Vorsitzender
► der Kirche als Präsident des ZK der westdeutschen Katholiken
einer der Obermacher des „Forum Mut zur Erziehung“.

„In neun Thesen formulierte dieses Forum Thesen zur Erziehung, die im Gegensatz zu allen Grundwerten der Aufklärung wie Glück, Selbstbestimmung und Kritikfähigkeit stehen.“ (Erziehung zum Frieden, S. 10, Hrsg.: Deutscher Freidenker-Verband, Landesverband Bayern, Baierbrunner Str. 4, 8000 München 70, DM 5,-)

Prüfungen und Noten dienen der Leistungsmessung. Sie sollen Schülern und Lehrern auch Schwachstellen deutlich machen, um darauf pädagogisch reagieren zu können, Hilfen anzubieten, gezielte Förderungsmaßnahmen einzuleiten. Das wäre menschlich, sinnvoll.

Leider sieht das Menschenbild einer kapitalistischen Gesellschaft anders aus. Nur der Erfolgreiche zählt, die Schwächeren werden erbarmungslos aussortiert. Der ursprüngliche Sinn der Noten wird in sein Gegenteil verkehrt. Statt einer Förderung dienen die Noten der Auslese. Schon in frühen Kinderjahren wird somit über die spätere Zukunft entschieden, weil Bildungs- und Berufschancen zusammenhängen.

Mit Recht fragen sich immer mehr Schüler, Eltern, Lehrer u.a., warum muss die Schule so schlecht sein, dass
► Schüler nur ungern hingehen?
► Nachhilfestunden notwendig werden?
► Noten und Zeugnisse zu einer Katastrophe werden können?

Warum fallen jährlich Tausende von Unterrichtsstunden aus? Warum fehlen täglich Lehrer und Pädagogen bei rund 5.000 arbeitslosen Lehrern allein in Bayern? Warum werden fortschrittliche Lehrer mit Berufsverbot bedroht und auch bestraft? Fehlt in diesem Staat das für den Bildungssektor notwendige Geld, weil die verantwortlichen Parteien die Hälfte des Steueraufkommens für Besatzungstruppen, Rüstung und rüstungspolitische Maßnahmen (Forschung, strategischer Verkehrsausbau u.ä.) ausgeben?

Nicht die Noten an sich sind schlecht. Die Rahmenbedingungen müssen geändert werden!

Der Bayerische Landtag wird 1982 ein Schulgesetz verabschieden. Damit wird an Bayerns Schulen vom Parlament durch Gesetz geregelt, was bisher die Kultusbehörde mittels Verordnungen bestimmt hat. Soweit so gut. Aber entscheidend wird sein, was in diesem Gesetz drinsteht.

Aus unseren Empfehlungen hierzu machen wir kein Hehl:

Für ein DEMOKRATISCHES SCHULVERFASSUNGSGESETZ

Grundsätze eines demokratischen Schulgesetzes

► Mitentscheidung aller am Bildungsprozess Beteiligten
► Wahl aller Funktionsträger auf Zeit; damit deren Bindung an die Kollegen und sonstigen Betroffenen
► Sicherung der pädagogischen Freiheit durch Rahmenlehrpläne
► Sicherung von Grundrechten wie Meinungsfreiheit, Zensurfreiheit, Gewissensfreiheit, Koalitionsfreiheit
► Garantie der Interessenvertretung der Gruppen (Lehrkräfte, Verwaltungspersonal, Eltern und Schülern) auf allen Ebenen: Klasse, Schule, Kreis und Land

Folgen eines demokratischen Schulgesetzes

► Einübung demokratischer Verhaltensweisen bereits in der Kindheit
► Überwindung der Vereinzelung durch Solidarität und Gruppenbindung
► Soziale Belohnung von Aktivität und Engagement
► Förderung von Kritik und Zivilcourage

WIR FORDERN DIE INTEGRIERTE GESAMTSCHULE

Das derzeitige dreigegliederte Schulsystem stammt aus dem vorigen Jahrhundert:

► die Volksschule für die Unterschicht
► die Mittelschule für die Mittelschicht
► die Oberschule für die Oberschicht

Das ist ein Schulsystem, das für die Klassentrennung im Untertanenstaat der Vergangenheit geschaffen wurde. Es ist Zeit, an seiner Stelle endlich ein demokratisches Schulsystem einzuführen. Sowohl im Grundgesetz als auch in der Verfassung des Freistaates Bayern ist die Gleichberechtigung für alle Bürger garantiert. Das bedeutet, dass auch für die Kinder aller Bürger die gleichen Bildungsmöglichkeiten gewährt werden müssen.

Diese Forderung erfüllt die integrierte Gesamtschule!

In der Gesamtschule sind die Kinder aller Bevölkerungsschichten in einer Schule.

Durch die Einrichtung von Förderkursen können Leistungsschwächen einzelner Schüler ausgeglichen werden. So erreichen mehr Kinder auch aus Arbeiterfamilien höhere Schulabschlüsse und dadurch bessere Berufschancen in ihrem späteren Leben.

In kleinen Klassen und durch entsprechende Unterrichtsformen können Neigungen und Fähigkeiten der Schüler besser erkannt und berücksichtigt werden. Hierdurch wird das leidige Konkurrenzdenken abgebaut, das zu üblem Schulstress führt, und die Schüler werden zum gegenseitigen Verständnis füreinander erzogen.

Die Folgen sind weniger Schulangst. Die Kinder gehen lieber zur Schule.

Ludwig Würfl (Kreisvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) und Martin Pschorr (Lehrer und Stadtrat)


Deutscher Freidenkerverband e.V. Ortsgruppe München, Veranstaltungs-Programm 1982, München 1981, 17 ff.

Überraschung

Jahr: 1981
Bereich: SchülerInnen