Materialien 1984

Vorschläge zur Förderung der Stadtteil-Kultur

Deutscher Freidenker-Verband e.V.
Dachauer Straße 17
8000 München 2
LANDESVERBAND BAYERN
ORTSGRUPPE MÜNCHEN
Telefon 089/595778

Wir fordern zu verstärkter Anregung und Unterstützung eigenständiger kultureller Aktivitäten aus den Stadtteilen auf. Für besonders wichtig halten wir die Bereitstellung von Räumen für eine von den Bewohnern getragene und verantwortete Volkskultur.

Insbesondere schlagen wir folgende Maßnahmen vor:

1. Schaffung von Bürgerhäusern bzw. -sälen in den Stadtvierteln zur freien Benutzung durch Verei-nigungen, z.B. für Feste, Stadtteilkino, sportliche oder musikalische Betätigung u.a. Soweit geeig-net, sollten bestehende Gebäude wie z.B. Giesinger Bahnhof, Hochbunker, Gerberblock, Agfa usw. für solche Zwecke genutzt werden.

2. Einrichtung weiterer Freizeitheime mit angemessener personeller und räumlicher Ausstattung – und auch mit ausländischen Mitarbeitern.

3. Mehrfachnutzung von Schul- und Kindergartenräumen bzw. anderen geeigneten öffentlichen Gebäuden.

4. Öffnung der Bezirkssportanlagen bzw. Neueinrichtung solcher Anlagen für den Breitensport auch außerhalb der Sportvereine und Schaffung der personellen Voraussetzungen dazu.

5. Initiativen, um die Mitbenutzung kirchlicher (nicht zur Kultausübung benutzter) Räume zu veranlassen. So werden z.B. Gemeindehäuser oder -säle zwar zu erheblichen Teilen staatlich fi-nanziert, sie stehen aber der Allgemeinheit nicht zur Mitbenutzung zur Verfügung, auch wo dies möglich wäre.

Begründung:

Das früher sehr vielseitige, gewachsene kulturelle Leben in den Stadtteilen aus der Eigeninitiative der Bewohner ist stark zurückgegangen. Sport-, Theater-, Gesangs- und andere Vereinigungen haben sich häufig aufgelöst.

Das ist einmal die Folge der Bevölkerungsvertreibung aus den Innenstadtrandgebieten durch die Grundstücksspekulation und die von ihr verursachten Mietsteigerungen und Wohnraumvernich-
tungen. Auch die erhöhte Intensivierung der Arbeit, die zunehmende Schicht- und Heimarbeit, Kapovaz u.a. belastet große Teile der arbeitenden Bevölkerung in einem Maße, dass die Bereit-
schaft zu eigenständiger kultureller Betätigung abnimmt. Die Dauerberieselung durch die Medien (vor allem Fernsehen) trägt gleichfalls zur Inaktivität bei. Weitere Kommerzialisierung der Medien (u.a. Kabelfernsehen, Bildschirmtext, Videotechnik) dürfte diese Tendenz noch verstärken.

Trotz all dieser widrigen Umstände entwickeln sich neue kulturelle Aktivitäten aus der Bevölke-
rung. Von hoher Bedeutung wäre die Unterstützung der Stadt München zur Erhaltung bestehender und zur Ermutigung solcher neuen eigenständigen kulturellen Betätigung der Einwohner.

Hier muss aber festgestellt werden, dass städtische Kulturpolitik sich einseitig auf die Förderung prestigeträchtiger Großprojekte konzentriert hat.

Die Berechtigung von Oper, Staatstheater und großen Kulturzentren oder -veranstaltungen soll nicht bestritten werden. Jedoch besteht der Eindruck, dass diese weniger auf die Bedürfnisse des Großteils der Einwohnerschaft – also auf die arbeitende Bevölkerung – zugeschnitten, sondern vielmehr auf großbürgerlich-elitäre Interessen bzw. auf die Denkmalsucht der maßgeblichen Poli-tiker ausgerichtet sind.

Beispielhaft dafür sei das Gasteig-Zentrum genannt. Hier spielten offensichtlich nicht kulturelle Bedürfnisse die Hauptrolle bei der Planung, sondern der Wunsch nach einem repräsentativen Großprojekt zum Ruhme des jeweiligen Oberbürgermeisters. Das führte nicht nur zu funktionalen Ungereimtheiten (Konzertsaal über der U-Bahn-Trasse), sondern vor allem dazu, dass die hohen Unterhaltskosten eine kommerziell ausgerichtete Verwaltung erzwingen. „Sachzwänge“ zu teuren Star-Veranstaltungen mit hohen Eintrittspreisen sind unschwer vorherzusehen. Die Öffnung des Gasteig für kulturelle Aktivitäten etwa von Vereinigungen aus Haidhausen ist weitgehend ausge-
schlossen. Andere Beispiele (Opern-Festwochen, Profi-Fußball) weisen in dieselbe Richtung.

Eine Umschichtung der für kulturelle Zwecke verfügbaren Haushaltsmittel zu Lasten von Prestige-
objekten und zugunsten der o.g. Maßnahmen würde die Realisierung unserer Vorschläge ohne zu-
sätzliche Belastung des Steuerzahlers ermöglichen. Darüber hinaus würde durch die Einsparung von Geldern aus illusionären „Zivilschutzmaßnahmen“ wie etwa „atomkriegssicheren“ Schutz-
raumbauten finanzielle Mittel in reichem Maße gewonnen werden.

Die oben skizzierten (und sicher noch nicht vollständigen) Maßnahmen würden die kulturellen Aktivitäten aus der Bevölkerung in ihren Stadtteilen ermutigen und unterstützen. Selbstverständ-
lich müssten die ausländischen Mitbewohner gleichberechtigt an allen Maßnahmen und Möglich-
keiten beteiligt werden. Auf längere Sicht könnten sie auch dazu beitragen, die Kluft zwischen eli-
tärer Kultur von „oben“ und eigenständigen kulturellen Ansätzen von „unten“ zu verringern.


Deutscher Freidenkerverband e.V. Ortsgruppe München, Veranstaltungs-Programm 1985, München 1984, 140 ff.

Überraschung

Jahr: 1984
Bereich: Stadtviertel