Materialien 1992

Zum Ableben von Gisela Elsner

Der ,Freidenker’ hat einen Nachruf für die Schriftstellerin Gisela Elsner gedruckt, die ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt hat.

Nur einmal hatte ich Gelegenheit, mit ihr über die Zustände bei uns und in der Welt zu sprechen. Ganz genau erinnere ich mich unserer damaligen Auseinandersetzung. Frau Elsner war nicht bereit, alles im geschichtlichem Zusammenhang zu sehen. Fortschritte im menschlichen und politischen Miteinander im Schneckentempo lagen ihr nicht. Aus dem Bürgertum stammend, entwickelte sie eine ungehemmte geistige Radikalität, wie so viele vor ihr aus diesen Kreisen – und wie es sicherlich auch in Zukunft viele tun werden. Einmal die doppelte Moral und die Verlogenheit der herrschenden Kreise erkannt und durchschaut, können sie sich nicht damit abfinden, dass grundlegende Veränderung ein langwieriger Prozess ist.

Gisela Elsner glaubte, in der Kommunistischen Partei die Gleichgesinnten gefunden zu haben. Ohne Zweifel war die Gesellschaftsordnung der Ostblock-Staaten für sie eine akzeptable Alternative. Schon damals warnte ich sie, Illusionen nachzuhängen. Sie war in ihrer Radikalität nicht bereit, mir länger zuzuhören und brach das Gespräch brüsk ab. Ich habe das bedauert, denn ich hätte gern mit dieser faszinierenden Frau weiterdiskutiert.

Nach dem Zusammenbruch im Osten muss sie sehr einsam gewesen sein. Die Erkenntnis, von ,Freunden’ an der Nase herumgeführt zu sein und ihre phantastischen Vorstellungen vom ,realen Sozialismus’ reichten sicherlich, ihr den Boden unter .den Füßen wegzuziehen. Wenn radikale Denker nicht für sich akzeptieren können, dass im Verlauf der Menschheitsentwicklung auch Rückschläge, ja Rückentwicklungen möglich sind, so ist die Flucht aus der Welt wohl der einzige Ausweg. Gisela Elsner ging auch diesen Weg konsequent. Sie steht damit nicht allein. Von Klaus Mann bis Kelly/Bastian hat es immer wieder Menschen gegeben, die keinen Sinn mehr für ihr Leben sahen.

Man mag das bedauern, aber zu ändern ist es nicht, so lange begründete Hoffnungen fehlen. Die nebelhafte Annahme einer Entwicklung der Menschheit zu Frieden und sozialer Gerechtigkeit ist für solche Menschen zu wenig. Das habe ich im Gespräch mit Gisela Elsner deutlich gespürt und ich wusste bald, dass ich ihrem Anspruch nicht gerecht werden konnte.

Es ist bedauerlich, dass wir ihr nicht helfen konnten. Gisela Elsner war ein wertvoller Mensch, der uns fehlt.

Erich Wiechmann


Freidenker. Organ des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V. 4 vom Dezember 1992, 178 f.

Überraschung

Jahr: 1992
Bereich: Kunst/Kultur