Materialien 1984

1984

… Ein Dichter beklagt sich bitterlich über den Kriegszustand dieser Welt und ich will jetzt vom Kabelfernsehen sprechen. Und doch wie sinnfällig ist dieser Übergang, ja als Gegengewicht geradezu notwendig. Erinnern uns die Kabelmanager nicht immer wieder an ihre friedlichen Absichten? Ist so ein verflimmertes Wohnzimmer mit Pantöffelchen und Bierbauch nicht ein Bild des Friedens? Und Arbeitsfrieden – Stichwort: Arbeitsplätze – wird ebenfalls versprochen. Beinahe wäre uns das Kabelfernsehen auch noch mitten im Weihnachtsfrieden beschert worden. Nun hat man verschoben. Vom 25. Dezember 1983 auf den 1.April 1984. Was für ein doppelbödig makabres Datum. Und seien wir ehrlich: Wer wüsste einen trefflicheren, unfreiwillig komischeren Termin als den ersten April im Jahre 1984?

Sie merken schon, ich kann mir meinen widerlichen Sarkasmus einfach nicht verkneifen. Unter dem Motto: ‚Alle reden vom Frieden, ich störe ihn’ wollen wir gemeinsam nachsehen, wer die Damen und Herren Fernsehmännchen sind, die uns soviel Frieden bescheren, welch friedliche Absichten sie hegen, was und wer hinter dieser elektronischen Friedensbewegung steht, welcher Art sich angekündigter Familienfrieden entpuppt und ob der Arbeitsfrieden wirklich Frieden für die Arbeitenden bedeutet.

Ich meine, und jetzt ganz humorlos und Tacheles geredet: Wer noch immer nicht geschnallt hat, dass die bisherige Fernsehkost inklusive Video schon längst genügen, um die Phantasie und die Lust am Selbermachen nachdrücklich einzuschränken, wer also das alles nicht geschnallt hat oder, hinterlistiger gesagt: nicht geschnallt haben will, der ist dazu berufen, ein Kabelfernsehen zu erfinden, soll heißen: vitale Bedürfnisse zu ignorieren und durchzusetzen, was technisch machbar, also menschlich unerträglich ist.

Natürlich rede ich dummes Zeug. Von wegen menschlicher Bedürfnisse. Unter dem Leitgedanken: Ich glaube nur den Meinungsumfragen und Statistiken, die ich selber frisiere, legen uns doch die Kabelmanager erdrückendes Beweismaterial vor. Beweismaterial für eine ‚überwältigende Mehrheit’ der deutschen Bevölkerung für die Neuen Medien.

Ja, wenn dem so ist, will ich als nörgelnder Miesepeter nicht gegenanstinken. Ganz im Gegenteil. Lassen Sie sich von mir ein paar Minuten verzaubern. Hören Sie von der Wunderwelt der Kabelmattscheibe. Nehmen wir das Beispiel ‚Wettervorhersage’. Was bisher lieblos informativ in zwei Minuten abgehandelt wurde, soll jetzt ganz anders werden. Der Kabelchef wörtlich: „Wetter ist bei uns keine Nachricht. Wetter ist Show. Wetter für Kinder, Wetter für Senioren, Wetter für Berufstätige.“ Das sitzt. Ein echter, ein wertvoller Beitrag. Dennoch, der kleine Pferdefuss, Stichwort: Diskriminierung, sollte nicht übersehen werden. Wetter für Berufstätige, gut und schön, wo aber bleibt das Wetter für Arbeitslose? Hat dieses – zugegebenermaßen – Drückebergergesindel nicht auch ein Recht auf ein Showwetter? Ein konkreter Fall: Es ist Juli und ein herrlicher Sommertag ist vorausgesagt. Der Arbeitslose, ahnungslos und praktisch ohne Wetter, verpennt den Tag, anstatt sich gründlich informiert und lüstern an die Isar zu legen. Ich meine, das Konzept sollte noch einmal auf soziale Härten hin überdacht werden. Kein Wort vom Wetter für die Bettlägrigen, kein Behindertenwetter, nicht der leiseste Hinweis auf eine katholische Wettervorhersage.

Mein Vorschlag einer Wettervorhersagenachbehandlung – vielleicht in Form einer lockeren Metereologendiskussionsrunde jeweils einen Tag später – sollte zumindest aufgegriffen werden. Bei der misslichen Arbeitsmarktlage promovierter Wetterfrösche ein Silberstreifen am Horizont, ohne Zweifel.

Das Thema ist schier unerschöpflich. Aus England ist ebenfalls ein Beitrag zur Wetterkunde versprochen. Das erste private, europaweite Satellite-TV, Satellitenfernsehen, in London stationiert, wird ebenfalls über Kabel bei uns zu empfangen sein. Die Briten versprechen, Zitat: „… aufregende Computer-Graphiken, die“ – und jetzt kommt der teuflisch geniale Hintergedanke – „den Wetterbericht verständlicher machen werden“.

Sonnenschein und Regenschauer, solch unqualifiziertes Gefasel wird ab nun verschrottet. Jetzt wird das Wetter an sich behandelt, per se, per definitionem. Das Phänomen Wetter, Wetter als philosophisch alttestamentarische Urfrage. Wetter als Sinnbild tragisch menschlicher Zerrissenheit, worin der Mensch als Spielball zwischen Grollen und Donner, Hagel und Nebelschwaden, Wolkenbruch und Dürre sein Dasein fristet. Wettervorhersage als Teilbereich der Theologie, konkrete Religionslehre, Anrufung des Wettergottes.

Jetzt aber Schluss. Fest steht, dass die Leute vom Satellite-TV ein gewichtiges, ich wage zu sagen: ein metaphysisches Programm machen.

Direkt als Ausgleich dazu könnte man den Kabelbeitrag von Radio Luxemburg betrachten. Von dort wird nämlich ein ganz anderes, attraktives Familienprogramm angekündigt: Jeden Abend Spielfilm, jeden Abend Serie. Jeden Abend Zuschauerspiele. Jeden Abend Gewinnchancen. Und zweimal die Woche Mitbestimmung, per Telefon an der Programmauswahl. Dazu ein Team frech witziger Journalisten, das frisch und locker und brandaktuell News und Sportinformationen präsentiert. „Wir wollen“, so der Herr Direktor, „den Leuten, die ohnehin genug mit Problemen zu tun haben, nicht noch zusätzliche Probleme im Fernsehen zumuten.“

Wie menschlich. Wie verdammt herzlich und psychologisch einfühlsam. Die Mattscheibe als sanftes Ruhekissen, als elektronische Reinigungsanstalt für die problembefleckten Herzen.

Nun aber ins Inland. Hier haben sich bereits eine Reihe hochkarätiger Künstler zur Mitarbeit am kommenden Kabelfernsehen bereiterklärt. Die Schwerpunkte: Mehr Stubenmusi, intensiveres Jodeln, mehr Gstanzeln, die sog. leichte Muse. Die bereits von Film, Funk und Fernsehen bekannten Poeten und Musikschaffenden sind durch Gedichtzeilen wie
auffe aufs Rad
Früahjahr is’ grad!
oder Songtexte wie
ein Mann fühlt wie ein Mann
nicht zu unrecht in aller Leute Munde. Hochverdiente Spitzenpositionen, die im Kabelfernsehen durchaus noch ausbaufähig sind.

Ein weiterer Pluspunkt ist die oft gepriesene Informationsvielfalt, die den Bürger rasch mit einer Fülle unschätzbarer Nachrichten versorgen wird. Was bietet sich an? Melkzeiten für Kühe zum Beispiel. Verkehrstechnische Hinweise für Rollstuhlfahrer auf Schnellstrassen, Horoskopanalysen, Bekanntgabe der Benutzerzeiten öffentlicher Toiletten in den Außenbezirken bayerischer Grosstädte, Auflistung noch freier Beichtstühle in den sonntäglichen Abendmessen rund um den Chiemsee. Die Liste ist endlos und ich muss mich beschränken. Orientierungshilfe für diese Zusammenstellung hochaktueller Verlautbarungen könnte der Bayerische Rundfunk geben. Diese Anstalt zeigt schon jetzt mit ihren Warnungen für Zuckerrübenanbauer und den Neuigkeiten für Brieftaubenzüchter und Flußschiffer in die vorbildliche Richtung.

Das Traumziel aber unserer Kabelleger liegt in den USA, in der Stadt Columbus, im Staate Ohio. Die halbe Million Einwohner ist stolz auf ihre allseits bestätigte Mittelmäßigkeit. Mc DonaIds, Supermarktketten und Waschmittelhersteller gehen zuerst nach Columbus, um zu testen, welche Produkte beim amerikanischen Durchschnitts-Jonny am besten zu verscheuern sind.

Konsequenterweise gibt es dort seit 1977 ein Kabelpilotprojekt mit Rückkanal. Ein wirkliches Kommunikationsinstrument, dieser Rückkanal. Der Zuschauer gibt mit einem einfachen Knopfdruck auf die Fernbedienung seinen Kommentar zum laufenden Programm ab. Er kann so an Quizsendungen teilnehmen oder kurz vor Ende eines Boxkampfes per Knopfdruck mitraten, wer wen zuerst halbtotschlagen wird. Das ist eine feine Sache und der Begriff Kommunikation wird gerade in diesem Fall auf vielfältige Weise bestätigt: Zwei verprügeln sich und ein Millionenpublikum kommunizieren mit ihnen. Diese Idee birgt übrigens manche Variationsmöglichkeiten. Direkteinblendungen in Kriegsschauplätze zum Beispiel. Der Zuschauer hautnah dabei und mit der Aufgabe betraut, den Kriegsteilnehmer mit dem höheren Leichenberg vorauszusagen.

Andere Finessen des Rückkanals wie ‚home-banking’ und ‚home-shopping’. Kein unappetitlicher Weg mehr zum Schlachthof, das Schwein wird elektronisch geordert. Lockenwickler, Kloschüsseln, Urlaubsreisen, Meinungsumfragen, Schuldenraten, alles das geht jetzt von der Wohnzimmercouch aus. Ohne lästige Gespräche mit dem Verkaufspersonal, ohne die Zudringlichkeiten überreizter Bankangestellter, leger, mit der Fernbedienung zur Rechten, mutterseelenallein wird hier Kommunikation in wahrer Vollendung realisiert.

Eine weitere Form von Kommunikation entsteht aber auch dann, wenn sich mehrere Amerikaner auf der Wohnzimmercouch befinden. Dann könnte es passieren, dass sich ihre Hände – ganz zufällig, versehentlich – berühren, beim Griff nach dem Drink oder der Schale mit Nüssen und allerlei Knabberzeug. Dabei braucht man sich nicht anzusehen, stumm und glotzäugig vollzieht sich hier der so oft beschworene Familienfrieden. Für jedermann glasklar: Die Neuen Medien als Friedensstifter.

Die Analphabetisierung von Columbus ist ein voller Erfolg. 110 Kanäle stehen dafür bereits zur Verfügung. Favoriten sind der 24stündige Sender für Gesundheit, Ernährung und Fitness und Kanal 14, der – ich wage es kaum auszusprechen – rund um die Uhr den Wetterdienst besorgt. Dazu hunderttausend Werbesprüche und das Massenbetäubungsmittel langfristiger Soap-operas, Opern aus Seife, abgefilmte Kommerzscheiße, ein niederträchtiger Radau, gespickt mit Idiotie und Menschenverhöhnung.

Sie bemerken ganz richtig, mein Tonfall hat sich rapid verschärft. Die Lust zur heiteren Ironisierung ist mir vergangen. Columbus wird als Modell überall in den Staaten nachgebaut. Das Traumziel bundesrepublikanischer Chefkabler ist mein Alptraum.

Zur Richtigstellung: Von Informationsvielfalt kann überhaupt nicht die Rede sein. Was hier die Bildschirme überfluten wird, ist zum Grossteil der elektronische Schrott abstruser Meldungen, die so überflüssig sind, wie die öffentliche Preisgabe meiner Schuhgröße. Dahinter steckt natürlich System, es hat verschiedene Namen: Ablenkung, Lähmung, Verharmlosung, Idiotisierung, Konsumreiz, Bewusstseinstrübung. Dermaßen vollgekifften Gehirnen fehlt die Konzentration für eine Auseinandersetzung mit ihrer Wirklichkeit. Ein mit Fußballertabellen, Texten deutschen Liedguts, Sturmwarnungen und Meister Propperblödheiten vollgetrichterter Kopf hat keine Freude mehr an Zusammenhängen, Hintergründen, Wahrheiten. Er erinnert mich an einen Fixer, nur eben nicht abhängig von der Nadel, sondern der permanenten Zufuhr elektronischer Signale. Beide Male eine Droge, die einem das Leben entzieht. Logo: Je weniger wir live am Leben beteiligt sind, umso mehr brauchen wir Liveübertragungen. Je dürftiger unsere Herzen, umso voller der Bildschirm.

Die Banalisierung des Geistes findet auf einem immer höheren Niveau statt. Mein Gott, wie viel Aufwand an technischem Know How, welch ein Leistungswille, was für ein Einsatz technokratischer Intelligenz, um so viel Armseligkeit zu produzieren.

Immerhin – so könnte man in diesem Zusammenhang erwähnen – würden Arbeitsplätze geschaffen. Aber klar, des deutschen Politikers Allzweckrechtfertigung. Ließe sich mit Guillotinen ein Geschäft machen und die Arbeitslosigkeit unter den Henkern vermindern, die Serienproduktion würde nicht lange auf sich warten lassen. Ob aber das Kabelfernsehen und die human fortschrittliche Verfeinerung von Handbeilen nicht doch zuletzt Arbeitsplätze vernichtet, diese Frage ist noch lange nicht positiv beantwortet.

Mit Video und Kabel ist es ähnlich wie mit dem Essen. Wer sich mit zu vielen Kalorien überfrachtet, wird feist. Und ein dickleibiger Körper verringert die Möglichkeiten der Bewegung, der Intensität, der Sinnlichkeit. Nicht anders bei geistiger Überfettung. Niedergewalzt von Tonnen überflüssiger Banalauskünfte verkümmert der Geist des Menschen zum Müllschlucker. Keine Herausforderung, kein Widerhaken, kein Aufruf zum Hinterfragen, nur Maul auf und runter. Bewegungslos, tapsig, null Bock zum Phantasieren. Das Hirn als kümmerlicher Dickwanst, der zu schwer ist, um sich noch einmal selbständig zu erheben.

Ich wüsste einen Vorschlag zur Güte. Um sozusagen gröbste Hirnschäden in Grenzen zu halten. Denken Sie doch an die Zigarettenbranche. Per Gesetz muss auf jeder Schachtel stehen: „Der Gesundheitsminister warnt: Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit. Diese Zigarette enthält soundsoviel Nikotin und Teer.“ Genauso sollte vor jeder Sendung beim Kabelfernsehen informiert werden: „Der Gesundheitsminister warnt: Dieser Beitrag gefährdet Ihre geistige Verfassung. Schwachsinnsgehalt 70 Prozent, Langeweile 25 Prozent.“

Ich gehe noch einen Schritt weiter. Das Geschäft der Kassandra ist ja für dieses Thema besorgt. Ich unterbreite nun einen sogenannten alternativen Gegenvorschlag. Ein Gedicht, aufzeigend andere Lebensgelüste, andere Glücksmöglichkeiten, ein Gedicht, das – nun wirklich nicht kommunikativ – sondern weltverbunden und nächstennah, ja geradezu menschenlieb daran erinnert, dass unsere grundsätzlichen, ganz innigen Bedürfnisse woanders liegen. Milchstrassen entfernt von den 110 Kanalvisionen betriebsamer Freizeitprogrammierer. Bert Brecht und

Vergnügungen

Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen
Das wiedergefundene alte Buch
Begeisterte Gesichter
Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten
Die Zeitung
Der Hund
Die Dialektik
Duschen, Schwimmen
Alte Musik
Bequeme Schuhe
Begreifen
Neue Musik
Schreiben, Pflanzen
Reisen
Singen
Freundlich sein


1984. Einführung in den ganz konkreten Irrsinn. Aufgelockert durch Ausblicke auf die pure Lust am Leben. Manuskript und Sprecher Andreas Altmann (für Clara von Assisi, Schutzpatronin des Fernsehens, vom Heiligen Vater Papst Pius XII. dazu ausersehen, am 17. Februar a.D. 1958, zu Rom), München 1984, 10 ff.

Überraschung

Jahr: 1984
Bereich: Medien