Materialien 1992

„Als wäre gerade dies, der Mensch, das allerschlimmste“

Gisela Elsner und die Nachtgewächse der Normalität

Sie war ein frühes Talent. Erste Schreibversuche hatten ein beachtliches literarisches Niveau erkennen lassen. Einige Jahre später begann eine gewundene schriftstellerische Laufbahn, die ihrem ausgänglichen Anliegen: den erbärmlichen Furchengang des Menschen (um Jean Paul zu bemühen) kenntlich zu machen, gleichwohl treu blieb, mit einem Paukenschlag. Die gerade 25-jährige Gisela Elsner wurde 1962 bei einer provokanten Lesung in der Gruppe 47 von H.M. Ledig-Rowohlt entdeckt. Zwei Jahre später erschienen die „Riesenzwerge“, mit welchem Erstling sie nicht nur auf Anhieb in die literarische Weltspitze gelangte, sondern ihren Ruf als „Bürgerschreck“, der sie fortan nicht mehr loslassen sollte, weghatte. Das Buch wurde in über ein Dutzend Sprachen übersetzt, die exzentrische Erscheinung seiner Autorin im „Kleopatra-Look“ – bleiches Gesicht von perückenartiger Haarhaube umrahmt – bestaunt, der damals in Rom Lebenden der angesehene Prix Formentor verliehen. Sie kam passend zu einer Zeit, in welcher der bundesrepublikanischen Gesellschaft nach dem ersten Wohlstandstaumel ihre spießige Vernageltheit aufzustoßen begann. Ihr Aufstieg und Fall ist von den Winden des Zeitgeistes nicht zu trennen.

Das 1937 geborene, als vorlaut beschriebene Mädchen stammte aus einer sozialen Aufsteigerfamilie; der Vater war Oberingenieur bei Siemens und machte nach dem Krieg eine steile Karriere bis an den Rand des Bürgertums. Die Familie pflegte in Nürnberg-Erlenstegen ein neureiches Milieu. Gisela Elsner erlitt die Nazi-Grundschule und erinnerte sich zeitlebens an die unerbittlichen Schläge auf die links schreibende Hand. Den weiteren Schulbesuch und das Abitur absolvierte sie bei den „Englischen Fräulein“. Früh brach sie aus, schrieb in der FAZ abgedruckte Kurzgeschichten, wollte Theaterautorin und -regisseurin werden. Gemeinsam mit dem „Ostzonenflüchtling“ Klaus Roehler verfasste sie das 1956 erschienene Bändchen „Triboll. Lebenslauf eines erstaunlichen Mannes“. Sie heiratete den Koautor und hatte mit ihm einen Sohn; beide spielen in ihrem weiteren Leben keine Rolle mehr.

Gisela Elsner floh ihre geistige und soziale Heimat, lebte in den großen westlichen Weltstädten und ließ sich schließlich in München nieder. Offenbar brauchte sie diese Distanz, aber die Folie ihrer Herkunft schimmerte noch in der Abwehr durch alle ihre Bücher und wird auch ihr persönliches Leben überschattet haben. Hinter ihrer Schreibe stand der unaufhörliche, schier besessene Versuch, sich von dem sie bedrohenden kleinbürgerlichen Erstickungstod zu befreien. Den Hass auf eng-borniertes Dasein schreibend auszuagieren war ihr Impetus – dem sie ungeheuer diszipliniert bis zu 36 Stunden am Stück nachkam – und Therapie. „Wenn ich nicht schreibe, hasse ich mich“, äußerte sie in einem Interview („Nürnberger Nachrichten“, 14.12.1991) und beschrieb damit ihre Lebensdynamik: die literarischen Stoffe aus einem Laden zu ziehen, den sie verabscheute. Ob sie dieser Abhängigkeit je entkam, lässt sich bezweifeln.

Aufstieg und Fall einer femme fatale

In regelmäßigen Abständen produzierte sie gesellschaftskritische Romane, die allesamt um das bizarre Böse im Normalen, die Gewöhnlichkeit des Gewöhnlichen kreisten. Sie erschrieb sich ein festes Publikum in West- und Ostdeutschland, beförderte sich und ihr Anliegen in permanenter Interpretation ihrer selbst und der Gesellschaft. Vom Niederschlag des Autobiographischen in ihren Werken wollte sie allerdings nichts wissen, langweilig erschiene ihr das. Der politische Aufbruch der 60-er und 70-er Jahre bildete ihr eine Art progressives Selbstobjekt. Sie wurde kritischer, realistischer und engagierter, trat gegen Berufsverbote, Rechtswende und Hochrüstung ein.

Hier tat sich eine Art zweiter Heimat auf, welche die erste aufzuheben schien. Aber es sollte ihr nicht gelingen. Ihre Dialektik war die Faszination des Hasses auf die kaputte Kleinbürgerwelt und nicht die stärkend gefühlte Kraft der Befreiung vermittels und gegen das bestehende bürgerliche Regime. Obwohl sie die Werke von Marx, Engels und Lenin studierte sowie 1977 in die DKP eintrat – bezeichnenderweise zu einer Zeit, als sich der Niedergang der sozialen Bewegung bereits abzeichnete –, ist von deren Gehalten in ihren Arbeiten nichts zu spüren. Sie drang nicht wirklich in die industriellen und politischen Klassenverhältnisse ein; auch in der Partei blieb sie eher ein instrumentalisierter bunter Vogel. Nachdem sie sich anfangs in einem Pauschalprotest gegen alle Welt erhoben und dann zu einer differenzierteren Radikalität durchgerungen hatte, bezog sie nun auch positiv politisch Position, ohne allerdings in ihrem Schrifttum die eingeschlagene Linie, den absurden Alltag zu denunzieren, zu verlassen. Sie widerspiegelte die gesellschaftliche Entfremdung und blieb an deren Charaktermasken fixiert.

Das konnte dann zur Falle werden, als sich der soziale und politische Horizont seit dem „deutschen Herbst“ der späten siebziger Jahre verdüsterte. Gisela Elsner erlebte das Land zunehmend intolerant, aggressiv und laut, vermerkte die Antiterrorgesetze und den Rechtsruck der SPD. In der „Zerreißprobe“ verarbeitete sie die um sich greifende überwachungsstaatliche Bedrohung. „Ich habe mich hierzulande nie sicher gefühlt.“ (Gläserne Menschen, 50) Seelen- und Finanznot machten sich breit, in üblen Erfahrungen mit der Psychiatrie, im reinfantilisierenden Unterkriechen bei ihren konservativen, bevormundenden Eltern in Nürnberg, in der nervigen Wohnungssuche und im beständigen Gefühl, überwacht zu werden. Auch literarisch schlug sich das nieder.

„Vielleicht war die immer starrer wirkende Diktion nichts anderes als ein Schutzschild, hinter dem sie ihr eigenes Leiden an den Zeitläuften und an den Erschütterungen in den Seelenbezirken verbarg.“ (Alfred Starkmann, „Die Welt“, 19.5.1992) Ihre satirische, ja zynische Selbstwappnung hatte sich offenbar aufgetragen. Die negativen Spiegelungen des Heiner Wurbs (Das Windei) oder der Lilo Besslein (Abseits), die sich nur noch umzubringen wussten, schienen zurückzustrahlen. Das Pendel der Flucht schwang zurück zum Ausgangspunkt. Ohnehin kann man in den häufigen Besuchen und Lesungen der Autorin ihrer Geburtsstadt, die ihr zuguterletzt auch einen Kulturpreis zuerkannte, auch Sehnsucht und verborgene Versöhnungsversuche sehen. Die ferne Figur des behüteten kleinen Mädchens, die sie nicht mehr war und nie mehr sein konnte, die überbetonte Solidität und Raffinesse des neubürgerlichen Elternhauses machten sich beim näheren Zusehen bemerkbar. „Hinter der Maske der Kleopatra verbirgt sich ein verwundetes Kind, das mutig lässig den Schmerz wegsteckt und sich die Täter merkt.“ (Kerstin Möller, „Nürnberger Nachrichten“, 14.12.1991). Nicht zufällig kehrt sie mit dem letzten Roman „Fliegeralarm“ in ihre Kindheit zurück – ausgebombt.

Das Buch wurde kaum und schlecht besprochen, wie schon ihr Aufsatzband „Gefahrensphären“ ein Jahr zuvor. Der antifaschistische Roman „Heilig Blut“ war 1987 gar nur in Russisch erschienen. Gisela Elsner reüssierte literarisch nicht mehr, sie fiel aus der Mode, wollte sich aber weder dem Feminismus noch der neuen Innerlichkeit verschreiben. Das linke Milieu zerfiel. Die ständig trüber werdenden Beziehungen zum Rowohlt-Verlag kann man durchaus als Gesinnungsurteil seitens desselben verstehen; sie endete 1990 mit der Rückgabe der Rechte und der Verramschung der Werke. Ihre Finanzen verschlechterten sich, auch die Liaison mit dem Zsolnay-Verlag scheiterte. Der Zusammenbruch des Sozialismus traf sie ins Mark. Für „die sogenannte deutsche Revolution“ hatte sie nur Verachtung übrig. Sie trat aus der DKP, die ihr ostgesteuert und sozialdemokratisch vorkam, zur Wende aus, zum Trotz wieder ein und schrieb zwei Monate vor ihrem Tod: „Jetzt habe ich überhaupt keine Verbindung mehr zur DKP, der meine Radikalität ebenso suspekt war wie meine Verzweiflung.“ Gisela Elsner hatte sich nie geschont und bis zum Raubbau und Verfolgungswahn gegen unmenschliche Verhältnisse gekämpft. Sie erlag ihnen und brachte sich um. Ihre Stimme ist aber noch zu vernehmen und (um eine Lieblingswendung von ihr zu verwenden) „alles andere als“ überflüssig geworden.

Pandämonium des Kleinbürgers

„In ihrer Bemühung, das, was sie gern gewesen wäre, wenigstens darzustellen, begannen sie, wenn nicht augenfällig, so zumindest merklich auf den zweiten Blick zu Karikaturen ihrer Wunschbilder zu werden.“ (Berührungsverbot, 117 f.) Nicht nur die Menschen glossieren sich selbst; die soziale Wirklichkeit, welche die Personen hinter sich herschleift, tut desgleichen, selbst wenn sie nicht immer entfaltet wird. Die Oberfläche der Erscheinungen gebärdet sich als eigene Welt ohne Herkunft und Ziel. Im geschlossenen, lichtarmen Gefängnis zwanghafter Sozialformen kennt man sich gar nicht und zugleich allzusehr aus; man sitzt ihnen auf und unterliegt ihnen. Die soziale Menschenmechanik kennt keine Charaktere, sondern typische Figuren mit außengeleiteter Identität, un- und übersicher in einem. Im Panoptikum ebenso herrischer wie unreflektierter Normen kommt es daher nur zu ritualisiert konventionellen Begegnungen, die ihr eigenes Ersticktes an sich tragen. Die zugrundeliegenden Lebens- und Gefühlsängste werden bis zur Unkenntlichkeit zurückgedrängt, entladen sich aber in einer beständigen und allseitigen Alltagsaggressivität. In dieser präzise geschilderten Mikrowelt bewegen sich die Menschen wie Hamster im Laufrad. Ihr Leben wird von emotionslosen, dumpf-mechanischen Machtspielen ausgefüllt. Es ist eine bittere und ausweglose Anthropologie, in der Glaube, Liebe, Hoffnung nicht vorkommen. „Ob diese Autorin den Blick in Chefetagen oder Vorstadtkneipen wirft, sie findet lauter miese Typen, die sie mit mieser Kälte vorführt“ (Alfred Starkmann, „Die Welt“, 15.3.1980) – nur handelt es sich dabei schwerlich um die persönliche Marotte der Schreiberin, die zu protokollieren versucht, was sie wahrnimmt. Schlimm nicht für sie, sondern für die Wirklichkeit.

Vor allem in den frühen Werken sind die sozialen Motive des Handelns weitgehend ausgeblendet. Die Gemeinheit der „Riesenzwerge“ kommt als menschliche schlechthin daher, womit sich jeder und niemand gemeint fühlen kann. Gisela Elsner entgeht damit keineswegs dem bekannten und wohlfeilen Effekt, dass sich gerade dem Allgemeinsten am leichtesten konkret entziehen lässt. Aber die Handelnden und noch mehr die Behandelten sind nicht so ungefähr, wie sie sich geben, sondern gehören einem bestimmten sozialkulturellen Milieu an. In ihm haust der bösartige Spießer, der gewalttätige Kleinbürger, an dem die Welt zugrunde gebt. Auch in der später vielschichtiger gesehenen Wirklichkeit ist er es, der die Szene beherrscht und gar als ihr Akteur erscheinen kann, obwohl er doch nach Elsners Ansicht ein nach stummen gesellschaftlichen Gesetzen Bewegter ist. Das Monströse der menschlichen Qual, die sie vorführt, bricht nicht etwa ins Gewohnte ein, wie gelegentlich behauptet wird. Vielmehr nistet es bereits in ihm und bricht immer wieder, sachgesetzlich ausufernd, aus der gewöhnlichen, scheinbar wohlgeordneten Welt ins Absurde aus. Nicht der Ausnahmezustand ist die Katastrophe, sondern die Normalität selbst.

Der Aberwitz des Alltags führt der Autorin die Feder. Um das Bizarre im Üblichen aufzuspüren, bedarf sie keines bösen Blicks, bloß eines genauen. Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass ohne den Hass der Autorin, der aus eigenem Leid gespeist ist, dieses gallebittere Porträt der Leere und Rohheit der hiesigen Kleinbürgerwelt nicht entstanden wäre. Und darin liegt ein Problem, nämlich das einer moralisch durchgefärbten Verwerfung alltäglicher Kleinbürgermoral. In dieser Nacht werden schier alle Katzen grau, auch das stumpft die Waffe der Kritik ab und macht sie einseitig. Kein Fußbreit eines befreiten Landes schimmert auf, noch nicht einmal die Sehnsucht danach – wenn man nicht ihre extreme Verleugnung als Hinweis auf ihre unterdrückte Stärke lesen will.

In einer menschlich und materiell leerlaufenden Scheinwelt macht sich die Nachtseite des Normalen breit. „Mit fast sadistischem Blick fürs Detail arrangiert Elsner Figuren und Szenerien, deren grelle Alltäglichkeit und erdrückende Banalität einem das Lachen gefrieren lassen.“ (Peter Körte, „Die Zeit“, 10.4.1987) Auf der Bühne des sozialkritischen Gesellschaftsromans, den die Autorin bevorzugt und kennt, herrscht die platte Inhaltslosigkeit sinnleerer Existenz. Die Hölle, das sind nicht nur die anderen, das ist die Wirklichkeit des Lebens selbst.

Die „Gesellschaftskritik aus der Froschperspektive“ (Hermann Naber, „Frankfurter Rundschau“, 27.6.1964) bringt vor allem Epopöen des ewigen Kleinbürgers hervor, der ebenso hirnlos wie aufgeblasen sein Unwesen treibt. Sein Stammbaum ist weitverzweigt. Zu ihm gehört etwa das Grauen des alltäglichen Ehekrieges. Er erscheint zwar patriarchalisch, doch versteht sich Gisela Elsner je später desto weniger als Feministin, lehnt im Gegenteil „Frauenliteratur“ im engeren und den ganzen „Weiberzirkus“ im weiteren Sinn vehement ab; nicht nur, weil sie sich, wie sie gesteht, lieber als Mann gesehen hätte, sondern weil im geschlechtlichen Biologismus alle sozialen Widersprüche verschwämmen. Die Ehe rahmt Elend und Sackgasse der vorwiegend maskulin bestimmten sexuellen Zweckhaftigkeit, das unhinterfragte Nicht-voneinander-Loskommen. Die Kinder werden terroristisch gezogen, sind nichts als Objekte und Spiegel ihrer „Ernährer“, selbst wenn sie sich (wie in Fliegeralarm) aggressiv abwenden. Die Eheszene kann um die Befindlichkeit eines modernistischen, bildungsbürgerlichen Paares im Zuge der Frauenemanzipation (Die Zähmung) oder zwanghafte Seitensprünge (Das Berührungsverbot) ergänzt werden, sie bleibt sich gleich.

Es gibt keinen Ausweg, weder in die Psychiatrie noch zu Drogen, noch in den nur anderen Terror der (Pseudo)Intimität, sondern nur zwei Lösungen: Weitermachen oder Selbstmord. Das Öffentliche ist nur die Verlängerung des Privaten, jedenfalls kein Gegengewicht. Die sogenannte Kulturszene ist ein Trauerspiel, die Lohnarbeit verdummt und im Dorf laufen Kretins herum. Besonders scharf werden ‚progressive’ Unternehmer oder Bürgersöhne (Leiselheimer; Punktsieg) aufs Korn genommen. Sie sind nichts als reiche Heinis mit folgenlosen sozialistischen Ideen, die von ihrer Herrschaft im Betrieb kein Jota abzugeben bereit sind und sich ansonsten in der hochgestylten Schickeria der Fortschrittsspießer herumtreiben. In der Klassenwelt Gisela Elsners dominiert der (wenn auch gelegentlich als Bourgeois maskierte) Kleinbürger. Bauern und Handwerker oder gar Arbeiter kommen hingegen nicht oder nur als mehr oder minder kriecherische Objekte vor.

Das kulturell-politische Zeitkolorit spielte immer mit, insbesondere in den späten Romanen, ist aber als dritte Handlungsebene meist nur metaphorisch ausgeleuchtet – was darüber hinaus auch schwerlich die Aufgabe der Literatur wäre. In den 70-er Jahren ist es bei ihr die Verquastheit des Sozialdemokratismus, die mit den staatlichen Verfolgungsorgien Oppositioneller endet. Die Friedensbewegung der 80-er Jahre erscheint, kommt aber ebenfalls nicht gut weg. (vgl. Friedenssaison) Sie wird als verblasen romantisch und farcenhaft karikiert. Das Pandämonium der Gisela Elsner lässt nichts aus, überschlägt sich bisweilen geradezu und mag es nicht leiden, dass sich ihm einer entzieht oder auch nur danach trachtet. „Nirgendwo habe ich dermaßen exzesssiv kleinbürgerliche Sitten kennengelernt“, schreibt sie über die DKP, tief enttäuscht. So frisst die Spießerwelt gewissermaßen sich selbst auf: in den letzten Werken verfallen nicht nur die Umwelt wie ihre grünen Protagonisten, Ökonomie und soziales Milieu wie ihre Moral, ja schließlich die Spießerei selbst, deren Absurdität sich folgerichtig und absurd auflöst. Was bliebe dann noch zu tun oder zu schreiben?

Der Bogen des Werks

spannt sich von der Groteske über die realistisch-satirische Erzählung bis zum blanken Zynismus. „Die Riesenzwerge“ bilden eine lockere Folge einzelner Geschichten, in denen die hart gezeichneten Alltagsrituale, etwa der Essensaufnahme, beständig ins Monströse, das sie schon immer sind, umschlagen. Im Hassblick eines Kindes erscheint die Welt als sehr reale gespenstische Szenerie. In „Der Nachwuchs“ folgt die Autorin in Perspektive und Inhalt dieser Linie. „Das Berührungsverbot“ thematisiert nach eigener Aussage Gisela Elsners („Nürnberger Nachrichten“, 11.1.1971) „den völlig missglückten Versuch, persönliche Freiheit zu gewinnen: weil dabei nur das Leistungsprinzip unserer Gesellschaft in die Intimsphäre projiziert wird.“ Der repressiven (Sexual)Moral entkommen die Typen nicht. Noch lebt das Denunzierte aus sich selbst heraus, aber soziale und politische Einsichten gewinnen Kontur, was sich in „Herr Leiselheimer und weitere Versuche, die Wirklichkeit zu bewältigen“ inhaltlich und stilistisch niederschlägt. Ironisch und sarkastisch kommt ein „zeitgemäßer“ Unternehmer im Ambiente betrieblicher Hierarchie und Ausbeutung in den Blick. „Der Punktsieg“ führt diese Auseinandersetzung fort und schildert einen sozialdemokratischen Fabrikanten, dessen politisches Getue sein sozialökonomisches Funktionieren nur übertüncht.

In der Titelerzählung des Bandes „Die Zerreißprobe“ geht es um einen tiefen Identitätskonflikt infolge realer und/oder vermeintlicher sicherheitsstaatlicher Bespitzelung – eine kafkaeske Ätiologie ihrer/unserer Ängste. „Abseits“ porträtiert das unaufhaltsame Elend einer Madame Bovary aus der Trabantenstadt, die sich weder durch Ehe, Liebschaft, Konsum oder Drogen retten kann, im Gegenteil erst eigentlich zugrunderichtet. 1983 reflektiert Gisela Elsner in „Autorinnen im literarischen Ghetto“ und in „Gläserne Menschen“ in Aufsatzform ihre eigene soziale Position als randständig und bedroht. Sie steht indes dazu und will es nicht anders. „Die Zähmung“ karikiert genussvoll und mit narrativem Schwung den Rollentausch in einer Ehe und legt dadurch die herrschenden Geschlechterkonventionen absichtsvoll bloß. In der extremen Zuspitzung und Umkehrung soll die Wahrheit erscheinen. „Das Windei“ nimmt noch einmal das Thema des gesellschaftlich düpierten und angepassten Aufsteigers auf, der den Gesetzen dieser Wirklichkeit folgt und ihnen gerade dadurch erliegt. Im Operntext „Friedenssaison“ versucht sich die Autorin vor allem in den Songs an der verzerrten Vergeblichkeit, den Rüstungswahn zu stoppen.

Der Aufsatzband „Gefahrensphären“ versammelt weitgespannte literarische, politische und gesellschaftskritische Überlegungen von Franz Kafkas amtlichen Schriften und Ehebrecherinnen in der Weltliteratur über das hohle Pathos der Regierungserklärungen und das unausbleibliche Scheitern von Che Guevaras illusionärem Revolutionsversuch bis zur Kritik der hiesigen Frauenbewegung wie der Frauenzeitschriften und Herrenmagazine. Eine Auseinandersetzung mit ihren Ansätzen und Thesen unterbleibt hier, wäre aber ergiebig: eine gewisse Tendenz zum kritischen Rundumschlag und zu einer verflachten Dialektik steht der heftigen politischen Engagiertheit eher im Weg. Im letzten, kaum mehr beachteten Roman „Fliegeralarm“ kehrt Elsner zur Groteske aus Kinderperspektive zurück, in der die Brutalität des Nazi-Regimes und zugleich die eigene Kindheit erscheint. Der thematische Kreis war abgeschritten und ein neuer nicht in Sicht. Vielleicht hatte das literarisch postulierte und sezierte Kleinbürgersyndrom wirklich an Bedeutung verloren, mindestens aber an öffentlicher Resonanz eingebüßt und vielleicht setzte Gisela Elsner auch deswegen ihrem Leben den Schlusspunkt.

Absichtsvoller Irrgarten der Sprache

In einem Interview („Nürnberger Nachrichten“, 11.1.1971) äußerte sich die Schriftstellerin zu ihrem Stil. Sie schreibe „so objektiv wie möglich“, keinesfalls selbstbiographisch und sehr selten emotional. „Gefühle führen zu nichts, weil sie sich wiederholen. Wichtiger sind die Umstände und Zustände, die zu Gefühlen führen.“ Vorurteile und Ungenauigkeiten wolle sie sich tunlichst nicht zuschulden kommen lassen. Sie hielt nichts von empathischer Nähe zu ihren Figuren und war bemüht, ihnen in der Drauf- und nicht in der Innensicht gerecht zu werden. Ihre Personen sind sozialfigurativ und nicht charakterlich gezeichnet. Sie verkörpern Verhaltensmuster und keineswegs das geläufige literarische Spannungsverhältnis von Disposition und Entwicklung. Das verleiht ihnen eine gewisse Starrheit wie eine Puppentanzgruppe, die nur die vorgeschriebenen Schritte ausführt. Die Autorin agiert als schier behavioristische Protokollantin ihrer Handlungen, denen die Gefühle reflexhaft und eng aufsitzen.

Diese Scherenschnitt-Technik ermöglicht in ihrer gewollten Distanz einen scharfen Blick auf die geringe und weitgehend festgelegte Handlungskompetenz der Personen, was durchaus beabsichtigt ist. Sie sind in eine kleine, geschlossene Sozialwelt eingestellt, deren Versatzstücke mannigfach kombiniert werden. Das geschieht lieblos und bitter, nach ihrem Verständnis nicht von der Autorin vorgegeben, sondern die spröde immanente Semantik von Zwangszusammenhängen ausdrückend. Der Vorwurf, sie mache sich voyeuristisch über die Opfer von Verhältnissen lustig, die sie nicht benennt, kritisiere die Produkte und nicht die Produktionsverhältnisse, trifft sicher nicht. Gisela Elsner wollte „durch literarische Überzeichnung schockieren“ („Nürnberger Nachrichten“, 26.10.1976) und die Wirklichkeit verzerren, damit sie kenntlich werde. Dass das gewählte Stilprinzip, zu typisieren statt zu personalisieren, durch sprachliche Karikierung gesellschaftliche Verhaltensstrukturen aufzuzeigen, auch nach hinten losgehen, das heißt bis zur Abgelöstheit, Überhebung gar führen kann, ist gewiss nicht ihr allein, sondern einer einschlägigen Rezeption anzulasten. Aber ihre Darstellungsweise als sehr bewusste und hermetisch geschlossene soziale Interpretation leistet dem Vorschub. Dabei mag sie sich insofern selbst ein Bein gestellt haben, als der Versuch, in bestimmter Weise die gesellschaftliche Entfremdung ihres Gegenstands zu erfassen, vielmehr den Leser zu befremden vermag.

Die Sprache hat daher in doppelter Weise an der Monströsität ihrer Objekte teil: sie drückt sie aus, aber produziert sie auch, wird vom Medium zum Demiurgen. In der engen Einheit von Tendenz und Diktion lauert die manieristische Falle, vor der Gisela Elsner mit ihrer gewissen Sprachkoketterie keineswegs gefeit ist. Ihre kritische Unbändigkeit vermag sich so im stilistischen Habitus zu verbessern, der überdies nicht selten altfränkisch und umständlich daherkommt. Rhetorische Planspiele unterbinden mitunter die Genauigkeit, die sie erzielen wollen, indem sie die Gegenstände artifiziell und oberflächlich zerreden. Das Prinzip, auch noch das Winzigste auszuwalzen und märklinbaukastenartig zu montieren, ermöglicht in einer unendlichen Wirklichkeit eine schier unbegrenzte Produktivität, allerdings um den Preis „eigensinniger Wiederholungen und rhetorischer Füllsel, die die Prosa aufgehen lassen wie einen Hefekuchen.“ (Hermann Naber, „Frankfurter Rundschau“, 27.6.1964). Der „hypotaktische Stil“ (Heinz Ludwig Arnold, „Die Zeit“, 25.8.1989) verleitet zur Geschwätzigkeit.

Man muss die Methode, übliche Verhaltensweisen durch den Einsatz grotesker Stilmittel zu modellhaften Momentaufnahmen zu gerinnen, verstehen und mögen – das ist nicht wenig verlangt. Die verschachtelten, bandwurmartigen Sätze zielen darauf, die – den Verhältnissen gleichläufig – ineinander geflochtene Parallelität der Ereignisse nachdrücklich zum Ausdruck zu bringen. In ihnen ächzt das bittere Leben; der Leser muss sich entscheiden, sich abzuwenden oder mehrmals zu lesen und so genauer hinzuschauen. In diesem Fall wird er sich vom aufplusternden und monoton-detachierten Einschlag der Sprache von ihrer Botschaft nicht abbringen lassen. In Kaltnadeltechnik umreißt sie die Figuren und ordnet sie grammatikalisch zur nüchternen Choreographie. Ein kalter und schwarzer Witz, Enzensberger sprach die Elsner als Humoristin des Monströsen an, hebelt Emotionen und Identifikationen aus. Zwischen Groteske, Satire und mitleidslosem sozialem Realismus changierend, die Persiflage streifend, auch weder die Klamotte noch das Klischee auslassend, gelegentlich auch etwas Agitprop beimischen, operiert der Stil als „poetischer Kraftakt und literarische Varietenummer zugleich“. (Peter W. Jansen, „Nürnberger Nachrichten“, 9.12.1970). So indirekt wie die Personen ist auch ihr Sprechen, ob sie nun mikroperspektivisch vergrößert oder makroperspektivisch verkleinert erscheinen, kühl allemal.

So wenig sich aus dem Leben Gisela Elsners zwingende Folgerungen zu ihrem Werk ziehen lassen, so gering ist auch der Aufschluss, den ihre literarischen Vorbilder über die gewählte Darstellungsweise geben. Zola, Flaubert, Heinrich Mann und Turgenjew waren darunter, aber auch Chandler, Patricia Highsmith und Veit Valentin wie ebenso Brecht, Mühsam, Gogol und Trifonow. Ein Gemeinsames aller dieser Autoren liegt allenfalls in der Betonung des sozialen Realismus und der Groteske. Engagement und Humor mindestens finden wir auch bei ihr. Von Spannung freilich kann kaum die Rede sein, es sei denn, man verstünde die der gesellschaftlichen Zustände selbst darunter. Also keine Bettlektüre. Bezeichnend scheinen eher die Lieblingsmaler der Autorin: Brueghel d.Ä., George Grosz und Otto Dix. Sie alle schätzten die figurativ starre Gruppierung wie von fern, ohne dass diese die Binnenaussage enthielte oder festlegte. Verwunderlich ist, dass Hieronymus Bosch nicht dazu gehört, dem die Welt mindestens so verkehrt und grotesk erschien wie der Gisela Elsner.

Unterm Zahn der Zeit

Entgegen der Legende stieg Gisela Elsner keineswegs wie ein strahlender Stern am literarischen Himmel auf, um sodann zusehends zu verblassen und schließlich zu erlöschen. Vielmehr war sie von Anfang an umstritten, erlebte immer wieder Höhepunkte und Abschwünge der Publikumskonjunktur, die ja im großen und ganzen an die soziokulturelle gekoppelt ist. Negative und positive Stellungnahmen waren unterschiedlich gemischt, nie aber schlossen die einen die anderen gänzlich aus. Man warf ihr „eifernde Banalität, kleinbürgerlichen Hass gegen das Kleinbürgerliche, Tautologie als Stilprinzip“ (Peter Hamm, „Frankfurter Rundschau“, 18.9.1968) vor. Oder man sah sie der eigenen Sprache erliegen, „den verschränkten Sätzen, der kunstvollen Umstandskrämerei des Sowohl-Als-Auch, der selbst auferlegten Pflicht, alles mögliche gleichzeitig zu sagen oder Zusammenhängendes nicht auseinanderzutreiben“. (Peter W. Jansen, „FR“, 24.9.1970). Andere kritisierten, dass eine deformiert und unveränderbar gesehene Wirklichkeit die „Gefahr (hervorruft, G.A.), dass Inhalt und Form des Textes an sich selbst ersticken und nur noch von einem versnobten Publikum goutiert werden“. (Rolf Wiggershaus, ebda., 14.1.1978) Das wäre sicher das letzte gewesen, was die Autorin gewollt hätte.

Die zitierten Stimmen kommen aus der besten Wirkungszeit der Schriftstellerin, in der sie vielen als Sirene der linken Kapitalismuskritik galt. Die einen stilisierten sie zur beredten Interpretin bürgerlicher Entfremdung, die anderen zur fatalen Emanze, zur schreibenden und männermordenden Kleopatra. Die Kontroverse ging mindestens ebensosehr um das Geschlecht und die politische Position der Autorin wie um die literarische Qualität ihrer Bücher. Die Rezeption Gisela Elsners im bundesdeutschen Feuilleton reflektierte letztendlich politische Entwicklungen und Wertungen.

„Diese Menschen zerstören sich selber“, schrieb Jürgen Peters (FR, 13.9.1980), aber es werde deutlich (in der „Zerreißprobe“), „dass sie in einer gesellschaftlichen Konstellation zerrieben werden“. In der „Süddeutschen Zeitung“ (1.4.1982) heißt es: „Gisela Elsners neuer Roman („Abseits“, G.A.) ist in seinem fast gefühllos tausend beliebige Einzelheiten in einen Ablauf von zwanghafter Folgerichtigkeit raffenden Registrierstil unverkennbar realistisch.“ Ohne sich auf die politische Absicht der Autorin einzulassen, war ein treffendes Urteil unmöglich.

Es ist ein sehr wechselhaftes Bild, das die Kritik von ihrem Werk zeichnet. Wie sie bei ihren Lesern ankam, wissen wir nur ansatzweise, immerhin dass sie auf ein stetiges Publikum rechnen konnte. Es ist anzunehmen, dass es sich dabei vorwiegend um die sozial und politisch Interessierten in diesem Land handelte – eine Minderheit also –, sicher weniger um die unbewussten Opfer der Herrschaft, um die es ihr ging. Dieses Schicksal teilte sie mit anderen Literaten, möglicherweise mit dem sozial verpflichteten Gesellschaftsroman in der Spät- und Postmoderne überhaupt. Gisela Elsner ist aus dem Zeitgeist gefallen. Das sagt indes mindestens so viel über diesen aus wie über sie, deren Leben und Werk sich in großem Mut kundtat und verbrauchte. Sie sagte: „Diese Lebensweise habe ich mir nicht gewählt aus Tugend, sondern sie ergab sich aus einer inneren Notwendigkeit.“

Gerhard Armanski

Benutzte Literatur:
Elsner, Gisela 1961: Drei Erzählungen aus unserer Zeit. Tokyo
dies. 1964: Die Riesenzwerge. Reinbek b. Hamburg
dies. 1970: Das Berührungsverbot. Reinbek b. Hamburg
dies. 1973: Herr Leiselheimer und weitere Versuche, die Wirklichkeit zu bewältigen. München
dies. 1977: Der Punktsieg. Reinbek b. Hamburg
dies. 1980: Die Zerreißprobe. Reinbek b. Hamburg
dies. 1983a: Gläserne Menschen. In: Faecke, Peter (Hrsg.): Über die allmähliche Entfernung aus dem Lande. Die Jahre 1968 – 1982, Düsseldorf, 30 – 50
dies. 1983b: Autorinnen im literarischen Ghetto. In: Kürbiskern 2,136 – 144
dies. 1984: Die Zähmung. Reinbek b. Hamburg
dies. 1987: Das Windei. Reinbek b. Hamburg
dies. 1988: Friedenssaison. Oper. Hannover
dies. 1988: Gefahrensphären. Aufsätze. Wien
dies. 1989: Fliegeralarm. Wien
dies. 1990: Ober die sogenannte deutsche Revolution. In: Neues Deutschland, 6. und 14.4.1990
dies. 1992: Briefe vom 16.2.1992 und 7.4.1992 an Karl-Heinz Jakobs. In: ND, 5.6.1992
dies. 1992: Brief vom 13.3.1992 an eine nicht genannte Adressatin. In: Publizistik und Kunst 6/1992,17
dies. (zusammen mit Klaus Röhler) 1956: Triboll. Lebenslauf eines erstaunlichen Mannes. Olten/Freiburg
Flitner, Christine: Frauen in der Literaturkritik. Gisela Elsner und Elfriede Jelinek im Feuilleton der Bundesrepublik Deutschland. Centaurus, Pfaffenweiler 1995


Arbeiterstimme 129 vom September 2000, 19 ff.

Überraschung

Jahr: 1992
Bereich: Kunst/Kultur