Materialien 1962

Offene Erklärung vor dem Urteil der zweiten Instanz im SPUR-Prozess

1. Die Gesellschaft und ihr geltendes Strafrecht, das weitgehend Theologie und Moral der tradierten Vorstellungen aus dem Mittelalter ist, muss endlich anerkennen, dass sich die Zahl der Menschen, die jenseits von Gut und Böse stehen, zusehends mehrt.

2. Der krampfhafte Versuch der Ankläger, die Sexualität in überschaubare Kanäle abzuleiten, ist daher zum Scheitern verurteilt.

3. Die genehmigten Reservate einer Scheinfreiheit wie Ehe und Bordell sind nur noch Reproduktion des bürgerlich- kapitalistischen Zeitalters und seiner verlogenen Wertmaßstäbe.

4. Die platonisch-christlich-idealistischen Postulate unseres Verdummungszeitalters züchten durch das Mittel des organisierten Ärgernisses lediglich einen Komplextyp heran, der nicht mehr fähig ist, sein Leben zu verwirklichen und dieses ihm aufgezwungene Versagen am angeklagten Künstler rächt.

5. Es gilt, die Freiheit des Sexus zu erwirken, und wiederum einen Bezug zu finden zu einer wollüstig-pornographischen Literatur, die sich als solche bekennt und die Mär vom verletzten Schamgefühl endlich widerlegt.

6. Wir verlangen also von den gleichgeschalteten und spezialisierten Wächtern der Kulturindustrie die Freigabe und Publikation aller Werke der Weltpornographie von Poggio, Aretino, de Sade, Retif de la Bretonne, F. Schlegel, Mark Twain, Alfred de Musset, Schröder-Devrient, Henry Miller, Jean Genet und der Pornographie aus den Geheimarchiven des Vatikans, der Polizei und der Staatsbibliotheken. Die Klassiker: Aristophanes, Horaz, Ovid, Lukian, Petronius, Martial, Katull und unser ehrenwerter Goethe sollen als ungekürzte Volksausgaben und als Schullektüre gediegene Bildungswege zu neuen Zielen eröffnen.

7. Pornographie, die sich als Kunstwerk verbrämt durch die Zensur schmuggelt, steht in heimlichem Einverständnis mit der Sexualmoral eines untergehenden Zeitalters.

8. Es ist daher ein Gebot der Stunde, dass sich der Künstler zu der von ihm verfassten Pornographie bekennt, ohne sie als Kunst zu drapieren.

München, den 4. November 1962

Baldeney
Kunzelmann
Petersen
Zimmer


Albrecht Goeschel (Hg.), Richtlinien und Anschläge. Materialien zur Kritik der repressiven Gesellschaft, München 1968, 24 f.

Überraschung

Jahr: 1962
Bereich: Kunst/Kultur