Materialien 1964

Im Rhythmus unserer Zeit

1.

Die hits von Radio Luxemburg beschwörten demjenigen, der sie zum erstenmal hörte, in ihrer monotonen Nachdrücklichkeit etwas künstlich Heroisches und Schicksalhaftes. Alle klingen so wie das auftrumpfende Lied vom schwergeprüften Mann, der die Länder und das Leben kennt. Der brutale Marschtakt reflektiert das Unausweichliche und auch das Immergleiche der durchrationalisierten «pulsierenden» Städte, das jedermann bewusstlos versteht. Aber das Leben ist ohne Schicksal. Fast nichts tritt von außen an den einzelnen heran, dem er sein automatisches Einverständnis nicht schon längst erteilt hätte. Es gibt nichts Eigenes mehr, dessen Entfaltung die Welt verweigern könnte. Auch die vernebelnde Heroik wird jedem wieder und wieder durch die Massenmedien vermittelt, bis er an seine eigene glaubt und sie im Blut hat. Je einfältiger und banaler sein Leben, desto mörderischer die Tag für Tag ausgestrahlten Kriminalfilme, desto begeisterter das Lied vom hygienischen modernen Menschen und desto barbarischer die falschen Lieder von Baby und Boy, die angeblich so unwiderstehlich aneinander verfallen. Und dennoch spielt die geleierte Tragik auf etwas Richtiges an. Sie behandelt die geheime und tiefe Wunde der Zivilisation psychotherapeutisch. Im Aufjaulen der beatles, das pausenlos von einer verstümmelten, angenehmen Harmonik untermalt ist, werden wir unterschwellig getröstet. Denn objektiv und längst vergessen ist das entfremdete Dasein Tragik. Sie offenbart sich allein noch in dem Bedürfnis, unablässig besänftigt zu werden. Der Kulturkritiker und gebildete Konsument von Klassik, der die Geschwüre zurschaugestellter Ekstase mit einem Pflaster von Bach und kühlem Jazz überkleben will, gibt damit zu erkennen, dass er über den Symptomen die Krankheit nicht sieht, und dass er blind-naiv auf die Widerspruchslosigkeit des Bestehenden und des Fortschritts vertraut. Dabei sind die beatles mit ihren elektrischen Klampfen so notwendig wie das tägliche Brot. Das Surrogat ungelebten Lebens und der verräterische Schmerz, den es zugleich erinnert und dämpft, bringt uns zum befreienden Kreischen.

2.

Mit der Feststellung, hinter allem stünde ja auch nur das nackte kapitalistische Interesse, ist fast noch nichts gesagt. Denn dieses Interesse darf sich heute selbst im Mund der gedopten Volkshelden eingestehen, ohne dass dadurch irgendeine Illusion noch verloren ginge. Wie heute die Entäußerlichung zu sich selbst gekommen ist, so ist auch die Allmacht des Kapitals schon so natürlich wie Hunger und Durst, dass sich kein Mensch mehr darüber wundert oder sich gar empört. Konjunktur als Selbstzweck schließlich enttäuscht die romantische Hoffnung, dass wenigstens die Reichen besser lebten. In dieser Welt sind die Armen und die Reichen gleichermaßen dem Prinzip der Leistung und der Verinnerlichung ihrer Entfremdung verfallen. Obwohl aber alles zu Leistung werden kann und wird, bleibt doch ihr einzig makelloses Symbol das Geld. Das Wissen vom ins Unendliche steigenden Absatz, von den laut in die Welt hinausgeschrieenen Millionen der Stars und von deren abschätzigem Urteil über die eigene Anhängerschaft vermag die Begeisterung, der etwas Masochistisches und götzendienerisches anhaftet, nur noch zu steigern. Als sympathisch wird auch von der kritischen Presse vermerkt, dass die beatles – wie der «twen» – jedem, der es wissen will, verraten, sie täten es ja «nur» fürs Geld (einer ihrer Titel heißt bezeichnenderweise «money»). Damit widerlegen sie selbst noch die Meinung, sie seien die manipulierten Sänger des manipulierten Lebensgefühls der Jugend. Vielmehr sind die Jugendlichen die Sänger der beatles oder besser – da ja diese austauschbar sind wie Stuyvesant oder Roth-Händle – die Fans der Kassen der Plattenindustrie. Geld ist doch letztlich wieder vornehmer als Ekstase, sei sie auch künstlich und vorgeplant. (Nicht von ungefähr kommt es, dass das bürgerliche Schaudern vor dem Mord ohne Motiv das vor dem Raubmord bei weitem übertrifft. Der hilflose Geist, der einen erschlägt, weil er hundert Mark braucht, erfüllt nur naiv und allerdings zynisch-direkt den Ritus der modernen Kultur und kann auf geheimes Verständnis rechnen. Der Mord ohne Motiv aber mahnt an jene alten Motive, die so geächtet und abscheulich sind, dass sie nicht einmal im kriminalistischen Ausdruck zu ihrem Recht kommen dürfen. Denn natürlich gibt es keinen Mord ohne Motiv.) Indem der Kult um die Klassiker zweckfreies Sich-Selbst-Genügen vortäuscht, ist die offen eingestandene Ausbeutung der beatles ehrlicher und konsequenter, wenn sie auch außer dem Ungeist der Zeit nur ein neues Verhängnis offenbart: Aufdeckung von Repression festigt diese selbst.

3.

Im gleichen Maß, in dem die Unnatur und die Vermitteltheit des Lebens sich vertiefen, wird der Schein der Spontaneität und Natürlichkeit zum obersten Gebot. Die Melodieführung der «brand news» gewinnt nachgerade klassische Schlichtheit. Sie wirken so unverfälscht und echt, dass keiner sich auf der Straße schämen müsste, sie laut zu singen (was natürlich nie geschieht). Die langausgehaltenen, gedehnten Schluss- und Zwischenakkorde sind der überkommene Abklatsch bombastischer Opern, die gleichfalls in den getragenen Tönen den gewonnenen Eindruck nachwirken lassen, und stellen bei den beatles als gigantische Höhepunkte gleichsam Einsatzzeichen für das frenetische Gebrüll der Entrückten dar. Der iterierende Aufbau – das alles beherrschende Charakteristikum – sorgt für den Genuss, immer schon zu wissen, was gleich kommen wird. Die Bestätigung, nicht allein und kein Außenseiter zu sein, wird so durch die gelungene Anpassung an den Schlager erreicht und verstärkt sich zur Begeisterung, wenn der einzelne sich erinnert, dass alle um ihn herum das Gleiche fühlen. Der schaukelnde Acht-Achtel-Takt ist die lockernde Geräuschkulisse der hektischen Ode. In der gekünstelt-snobistischen Singsprache mit all den glucksenden, geschnalzten und sich überschlagenden Kehllauten, wie sie schon von Elvis Presley und Peter Kraus geübt wurde, drückt sich etwas von der hoffnungslosen Sehnsucht der Teenager aus, schnoddrig-lässiger Hochstapler und Allroundman sanft dahinströmenden Lebens zu sein. Je mehr sie davon träumen, mit dem Leben zu spielen, desto mehr wird mit ihnen gespielt. Das schmiegsame, reibungslose Gleiten der Melodie über den Rhythmus, das flüssige Abwärtssinken der Bögen zu ihrem vorausgehörten Ruhepunkt suggeriert das Leben mit der linken Hand, das mühelose Siegen, die tänzelnde Selbstsicherheit und die müden Genüsse des Lebenskünstlers und Schwerenöters. Durch einen Knopfdruck wird jedem gewährt, was ihm danach um so mehr versagt bleiben wird, ebenso wie er sich im anstrengenden Twist seine noch mögliche reduzierte Revolte herausschwitzt. Die schrillen Sounds der Quartette kokettieren mit der Abweichung vom vertrauten Harmonieschema, in das sie doch als knallige Abschrägungen immer wieder erschlaffend und unvermeidlich zurückfallen. Die Hintergrundschöre schließlich sind die degenerierten Sprechgruppen und Chöre der Opern und Dramen, die einst das Allgemeine oder den Zeitgeist, aus dem die Helden sich herauslösten, symbolisierten, von dem sich der Solist nur noch scheinbar abhebt, wenn er mit angerauhter Baßstimme und sich schon selbst karikierend seine triviale Verlorenheit oder weitaus häufiger seine Wurschtigkeit gegenüber allen Ereignissen hinaustönt. Die bei allen Gruppen bevorzugte Gitarre war schon in der Spätzeit des Bürgertums das Instrument der falschen Sehnsucht und der falschen Abenteuer in einer bereits organisierten Welt und ist nun als elektrische endgültig zur rhythmischen Verherrlichung von leicht und überall greifbaren Versprechungen heruntergekommen, deren schillernde Vision sich nirgends erfüllt. In ihrem peitschenden Stampfen, das von sich beansprucht, die Vitalität exotischer Völker aufgenommen zu haben, manifestiert sich die Gewalt, deren besinnungslose Anbetung sich in der Selbsterniedrigung aller vor den heiligen Jaulern niederschlägt.

4.

Die hämmernde Gleichgültigkeit der hits und ihr gewichtiger Marsch ins Einerlei liefern vor allem den Jugendlichen das eigene Selbstverständnis als Ware frei Haus. Fünfzehnjährige Teenager sehen sich nach dem Besuch des beatle-Films in der Lage, ihr Lebensgefühl zu formulieren. Zu den Liedern der Freiheit in den Kellern mit den Gliedern zu zucken ist alles, was vom vielbeschwörten Protest gegen die ältere Generation noch übrig bleibt, aber es reicht aus, um die Älteren den Geruch von Anarchie wittern zu lassen. Der Generationsunterschied, der vor den entscheidenden Kriterien zu nichts zusammenschrumpfen würde, da sich heute in der Jugend nur vollendet, was sich in den Erwachsenen nicht nur erst angekündigt hat, wird künstlich aufrechterhalten, da er die Konstruktion von Typen erlaubt, die sich besonders von der Textil- und Showindustrie ausbeuten lassen, und da er einen Pluralismus von Lebenshaltungen vortäuscht, der verdeckt, dass die einzige Differenz darin besteht, dass die Bedürfnisse der einen erst zwanzig Jahre, die der anderen aber schon länger ausgenützt werden. Die entmündigten Generationen können sich nur gegeneinander abgrenzen und sich selbst bezeichnen, indem sie sich mit verschiedenen Waren identifizieren. Wie aber die Ware in der entfremdeten Welt nicht dem Menschen dient, sondern ihrem nie endenden Tausch, und wie sie nur eine quantitative Veränderung zustande bringt, so sind die Generationen in sich nur quantitativ von einander abhebenden Stereotypen fixiert. Das Leben ist verdinglicht, wenn Bewusstsein und zutage tretende Bedürfnisse nur erklärt werden können, indem man die Ware sieht, auf die sie angelegt sind. Die modernen Volkslieder sind die Choräle der Verdinglichung.

5.

Die Massenkommunikationsmittel, durch die wir allein noch an «Welt» teilhaben, vermitteln uns zugleich die gemanagte Intimsphäre, die allen gemeinsam ist. Der sich anbiedernde Plauderton der Plattenjockeys in den Schlagerparaden und die Interviews mit der sympathisch vertrottelten Prominenz der Stars, die als Verkörperung unserer kanalisierten Sehnsucht nicht etwa mit der Gesellschaft etwas anstellen, wie sie gerne möchten, sondern selbst nur angestellte Surrogate und Tauschobjekte sind, künsteln jene vertrauliche Atmosphäre zurecht, in der gleichzeitig der Fetisch angebetet und die demokratische Lust zugestanden wird, zu erfahren, dass auch das Idol so schwach wie du und ich sei. Tatsächlich haben die, die ihr allgemein Privates willig ausplaudern, keine hintergründige und insgeheim schillernde Persönlichkeit in Reserve, auf die sie sich nach ihrem Beutezug in der Öffentlichkeit feixend zurückziehen könnten: sie sind identisch mit ihrem Abziehbild, und die sklavische Befriedigung, die hochgetrimmten Leitbilder immer aufs neue als das Gleiche zu entlarven, ist berechtigt. In unserer schönen neuen Welt dürfen wir uns alle duzen. Der Grad der Vertraulichkeit und Intimität, der mit der Kameraderie der Idioten ansteigt, sagt heute auch aus, wie tief wir schon in der entpersönlichten und planierten Fremde leben, ohne sie noch zu spüren. In der nivellierten Gesellschaft ist jeder jedermanns Freund. Wie den ohnehin schon Gleichgeschalteten alles erlaubt werden kann – selbst das lang Verbotene, weil es gestutzt nichts mehr ändert – so ergeht an jeden die sanfte Forderung, täglich den Brüdern vom letzten sexuellen Erlebnis zu berichten, um auch das, was daran noch der Verdinglichung widerstand, vor der burschikosen Instanz derer, die nur ihre Vornamen kennen, auf seine Identität mit der Leistungsnorm zu prüfen. Die beatles, auf die niemand hereinfallen kann, weil jeder nur auf sich selbst hereinfällt, können auch nicht gestürzt (sondern nur ausgetauscht) werden, da ihr Erfolg auf bestimmten objektiven Bedingungen basiert. So können sie sich rücksichtslos selbst bewitzeln und karikieren, als ahnten sie etwas von den Gesetzen ihres infantilen Daseins. Ihre unschädliche Narrenfreiheit wird von denen, die vergessen haben, was Freiheit meint, geradezu gefordert: der masochistische Dadaismus, den sie in die beatles projizieren, und der jene so sympathisch macht, ist alles, was sie noch vom Leben erhoffen. Wenn jeder jedem lachend auf die Schulter haut, dann hat sich die Entfremdung eingerichtet.

6.

Die Einsicht in all das ist sinnlos, ja als Resignation reaktionär, wenn sie nicht zu Konsequenzen führt, die über den Genuss, Bescheid zu wissen, und die naive Reformierung des eigenen Lebens hinausgehen.

Frank Böckelmann


Anschlag. Zeitschrift der Subversiven Aktion 1 vom August 1964, zit. in: Albrecht Goeschel (Hg.), Richtlinien und Anschläge. Materialien zur Kritik der repressiven Gesellschaft, München 1968, 62 ff.

Überraschung

Jahr: 1964
Bereich: Alternative Szene