Materialien 1995
Das Kruzifix ...
Verfassungswidrige Kruzifix-Dekoration in Grundschulen des Freistaates Bayern, hier: Antrag auf Ermittlungen
Sehr geehrte Damen und Herren!
Wie die öffentlich geführte Diskussion der letzten Wochen zeigte, hat das Urteil des BVerfG in o.a. Angelegenheit nicht ungeteilte Zustimmung gefunden. Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung schützt u.E. durchaus die Kritik an Urteilen, allerdings nur insoweit, als hierdurch nicht die Verfassungsnorm der Unabhängigkeit der Rechtsprechung in Frage gestellt wird. Ebendies ist in Anbetracht von Äußerungen verschiedener VertreterInnen des christlichen Fundamentalismus nach dem erwähnten Urteil zu besorgen. Diese sehen einen Anschlag auf die Wertordnung des „christlichen Abendlandes“ durch das höchstgerichtliche Verbot einer dekretierten Zwangsdekoration der Klassenzimmer in bayerischen Grundschulen mit sog. Kruzifixen.
In ihrem Eifer übersehen sie die Frage, ob sie nach ihrer Logik nicht selbst eines solchen Verstoßes zu bezichtigen wären, weil sie – seither ohne Not – auf die entsprechende gesetzliche Verpflichtung zur Dekoration der Unterrichtsräume der Klassen 5 ff. verzichtet haben. Doch kommt es auf diesen Widerspruch hier nicht an. Wenn das Grundgesetz, was wir unterstellen, auch im Freistaat Bayern gilt, müsste untersucht werden, inwiefern die über eine populistische bierdunstinspirierte Richterschelte weit hinausgehenden Stellungnahmen von v.a. Ministerpräsident Stoiber beim jüngsten CSU-Parteitag und anderen bayerischen Politikern gegen die Unabhängigkeit der Rechtsprechung (begleitet von Drohungen mit Pressionen) nicht einen Angriff auf die Grundlagen der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland darstellen. Dies sollte auch im Hinblick auf Äußerungen untersucht werden, die offen oder verklausuliert zum „Boykott“, also dem Nichtbefolgen oder Nichtvollziehen des Urteils getätigt wurden. Solche Anstiftungen bzw. öffentlichen Aufrufe zum Rechts- und Verfassungsbruch dürfen um der Rechtsordnung Willen nicht ungeahndet bleiben.
Man muß sich bloß vorstellen, wo wir hinkämen, wenn z.B. der Deutsche Freidenker-Verband Frauen und Ärzte aufrufen würde, die Gesetzesvorschrift zur Zwangsberatung vor einem Schwangerschaftsabbruch einfach zu ignorieren, weil wir darin einen Verstoß gegen das Selbststimmungs-Recht der Frau sehen!
Im Zusammenhang mit dem Schutz des geborenen Lebens wären wir Ihnen im übrigen sehr verbunden, wenn Sie Ihre Ermittlungen auch auf Frau Marienfeld ausdehnen könnten, die offenbar ihre Fürsorge für die kämpfende Truppe dahingehend missversteht, über die Diffamierung von Kriegsdienstgegnern hinaus das verfassungsmäßige Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung in Frage stellen zu müssen.
Wir bedauern, dass vergleichbare Äußerungen von Repräsentanten der Kirchen Ihrer Zuständigkeit, die sich ja leider nur auf Regierungskriminalität erstreckt, entzogen sind. Wir leiten deshalb eine Kopie dieses Briefes der Bundesministerin der Justiz mit der Bitte um Prüfung und Veranlassung geeigneter Schritte in eigener Zuständigkeit zu.
In Erwartung Ihrer geschätzten Antwort
verbleiben wir hochachtungsvoll
Klaus Hartmann
Freidenker. Organ des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V. 4 vom Dezember 1995, 137 f.