Materialien 1995
Die Auferstehung des Heiligen aus dem Kruzifix-Urteil
… Die Reaktionen auf das Kruzifix-Urteil waren in erster Linie natürlich eine von kirchlicher Seite inszenierte Kampagne, bei der es weniger darum ging, ob nun der „Balkensepp“ in jedem bayerischen Volksschulklassenzimmer hängen muss oder nicht, sondern um die prinzipielle Frage nach den kirchlichen Privilegien; nicht ganz zu Unrecht fürchten die Kirchen, dass es zu einem Domino-Effekt kommen könnte, wenn irgendeines ihrer Vorrechte eingeschränkt würde. Auf der politischen Ebene jedoch war die Verfassungsgerichts-Beschimpfung im Sommer 1995 ein von der Parteispitze der CSU sehr wohl kalkulierter Versuchsballon, inwieweit sich das Thema „Religion“ als geeignet erweisen würde, Emotionen aufzustacheln, Stimmung zu machen. Denn tatsächlich war die behandelte Frage angesichts der bestehenden sozialen und ökonomischen Probleme und des allgemeinen Grundrechteabbaus eher nebensächlich, doch genau an einer solchen symbolischen Frage ließ sich dies relativ risikolos antesten. Der katholische Fundamentalismus durfte sich austoben, Befürworter der Verfassungsgerichtsentscheidung wurden in Bayern als Hassobjekte zum Haberfeldtreiben freigegeben.
Dahinter steckt der Rückgriff auf eine politische Strategie, die in Deutschland seit Metternichs Zeiten erfolgreich von den Herrschenden praktiziert wurde: Stimmung statt Politik. Ein emotional beladenes Thema wird aufgegriffen, mit starken Worten und gegebenenfalls einer Portion Pathos wird appelliert, verurteilt, Erschütterung gezeigt; die Menschen sollen nicht überzeugt werden durch Analyse und Argument, sondern sich emotional identifizieren. So wird die politische Diskussion nicht nur von den eigentlichen Problemen abgelenkt, gleichzeitig wird dadurch der rationale, Argumente abwägende Diskurs aus der politischen Auseinandersetzung verdrängt. Das „Heilige“ hält so wieder Einzug in die Politik, indem Themenbereiche aufgebaut werden, über die keine kontroverse Diskussion erlaubt scheint. Indem Politik so vom Irrationalen geprägt ist, wird eine Immunisierung bestimmter Aussagen gegenüber Kritik erreicht. In Zeiten, in denen die Entscheidungsträger keine Antworten auf die anstehenden Fragen wissen, ein beliebtes Muster zur Machterhaltung.
Direkt getroffen werden sollte zum Beispiel Florian Pronold, stellvertretender Vorsitzender der bayerischen JungsozialistInnen. Im November 1995 hatte er einen Artikel zu einer landesweit erscheinenden Schülerzeitung mit dem Schwerpunktthema „Bad Religion??“ beigesteuert, in dem er genau jene Strategie der CSU, die Diskussion zu emotionalisieren, entlarvte. Da er in Anlehnung an die taz die Formulierung vom „überflüssigen Latten-Gustl“ verwendet hatte, nutzten dies ein halbes Jahr später die konservative lokale Presse, christsoziale Kommunalpolitiker und kirchliche Funktionäre zur Inszenierung einer politischen Kampagne, deren Ziel schon nach wenigen Tagen explizit formuliert war: Pronold sollte wegen seiner „gotteslästerlichen Einlassungen“ sein bei der Kommunalwahl im März errungenes Stadtratsmandat nicht antreten. Tatsächlich ging es freilich darum, einen unliebsamen politischen Gegner ins Abseits zu stellen, wie in der Pressemitteilung der CS-Union auch unumwunden zugegeben wurde, indem die „unfairen scharfen SPD-Attacken im Wahlkampf“ als weitere Begründung angeführt wurden. Die Aktion verfehlte letztlich ihr Ziel; zwar sprach die bayerische Parteivorsitzende Renate Schmidt von einer „inakzeptablen, pubertären Geschmacklosigkeit“ und einige wenige Sozialdemokraten gingen auf Distanz, die meisten Genossen jedoch durchschauten die parteipolitisch motivierte Kampagne und stärkten Pronold den Rücken. …
Gunnar Schedel
Gunnar Schedel, Zensur im Namen des Herrn, Aschaffenburg 1997, zit. in: Freidenker. Organ des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V. 4 vom November 1998, 10 f.