Materialien 2000

Zero-Tolerance für Esoterik und Irrationalismus!

Bereits im Vorfeld war der Kongress „Ganzheitlich und ohne Sorgen in die Republik von morgen. Irrationalismus – Esoterik – Antisemitismus“ einigen Angriffen ausgesetzt. So wurde von verschie-
denen Seiten versucht, die Universitätsleitung dazu zu bewegen, die gemieteten Räume nicht zur Verfügung zu stellen. Die Vertretung des Dalai Lama schrieb an die Veranstalter, weil er sich durch das Kongressplakat verunglimpft fühlte. Und auch während des Kongresses zeigten sich immer wieder Anhänger verschiedener esoterischer und irrationaler Konzepte empört über die Fakten und Analysen, die die Referenten vorbrachten.

Das kann nicht verwundern, war doch erklärtes Ziel dieses Kongresses, die Funktion esoterischer Erklärungsmuster zur Herrschaftssicherung und die „braune Aura“ der Esoterik sichtbar zu ma-
chen und Gegenstrategien zu diskutieren. Aufgrund der Fülle von – teilweise parallel stattfinden-
den – Veranstaltungen war es unmöglich, alle Vorträge zu besuchen, doch jedes einzelne Referat bot den ca. 300 Kongressteilnehmern eine Fülle von Informationen und Denkanstößen.

Colin Goldner, der Leiter des Forums kritische Psychologie in München, ist dort zuständig für die Beratungsstelle für Therapie- und Psychokultgeschädigte – die einzige ihrer Art in Deutschland.
Er stellte zunächst fest, wie weit verbreitet Esoterik inzwischen ist. 12 Millionen Menschen im deutschsprachigen Raum sind Anhänger dieser irrationalen Konzepte, die einschlägigen Produkte und „Dienstleistungen“ bringen jedes Jahr einen Umsatz von 20 bis 25 Mrd. DM.

„Jeder zweite Deutsche glaubt an außerirdische Wesen, jeder dritte an UFOs, jeder siebte an Magie und Hexerei, zwei von drei Bundesbürgern fürchten sich vor Erdstrahlen, über 35 Prozent halten die Zukunft für vorhersagbar, rund 20 Prozent glauben, es lasse sich Kontakt zum Jenseits herstel-
len. Rund 40 Prozent aller Deutschen glauben, dass manche Menschen durch Beschwören oder Handauflegen bestimmte Krankheiten heilen können und mehr als 50 Prozent sind davon über-
zeugt, dass Methoden wie Ayurveda oder Bach-Blütentherapie eine echte Alternative zur Schulme-
dizin bieten.“ …

Wenn im öffentlich-rechtlichen Fernsehen in der Reihe PSI Aussagen getroffen werden wie: „Die Form, wie du dich im jetzigen Leben präsentierst, ergibt sich daraus, wie du dich im letzten Leben verhalten hast“, so heißt das im Klartext: Wer ausgebeutet wird, krank ist, Opfer von Vergewalti-
gung, Folter oder Krieg wird, ist an seinem Schicksal selbst schuld … im übrigen bleibt ja immer die Hoffnung auf ein besseres Schicksal in der nächsten Reinkarnation.

Konsequenterweise wird auch der Holocaust als ein „Abtragen karmischer Schuld“ gerechtfertigt … Die Behauptung, die Juden seien selbst schuld am Holocaust, ist in Esoterik-Kreisen weit verbrei-
tet. Colin Goldner arbeitete fünf zentrale Punkte heraus, die die Esoterik kompatibel zu faschistoi-
den Strukturen macht: der Guruismus mit seiner zentralen unangreifbaren Führerfigur; die Heils-
doktrin mit ihrem immanenten elitären Element; die Hierarchie in der Organisation; eine perma-
nente Indoktrination und der rabiate Umgang mit Kritikern.

Peter Kratz vom Berliner Institut für Faschismusforschung (BIFFF) stellte in Anlehnung an Georg Lukacs die These auf, dass Bedingung und Chance des Irrationalen im Nichtbegreifen der Wirk-
lichkeit liegt. In der politischen und ökonomischen Umbruchsituation mit ihren wachsenden sozia-
len Spannungen ist es vor allem die Enttäuschung über nicht gehaltene Versprechen, die die Hin-
wendung zu irrationalen Konzepten begünstigt … Der sich immer schärfer zuspitzende Konkur-
renzkampf wird begleitet von einer (erneuten) Eugenik- und Euthanasiedebatte, die auch in der Esoterikszene eine große Rolle spielt …

Weitere Vorträge auf diesem Kongress hielten: … Prof. Heinrich Fink, PDS-MdB, Theologe und abgewickelter Rektor der Humboldt-Universität Berlin, zum Thema „Die Wurzeln des Antisemitis-
mus“; Natan Sznaider, Soziologe an der Universität Tel Aviv: „Holocausterinnerung und Globali-
sierung“, Thomas Ebermann, freier Publizist aus Hamburg, befasste sich mit „Standort-Unlogik“ und die Gruppe „Gegenuniversität“ setzte sich mit dem Thema „Wissenschaft und Herrschaft“ auseinander.

Die abschließende Podiumsdiskussion war der Frage gewidmet, ob Aufklärung über Irrationalis-
mus und Esoterik ausreiche. Dabei waren sich die Podiumsteilnehmer – P. Kratz, C. Goldner, P. Bierl, Thomas Ebermann und Florian Beck von der Gruppe Gegenuni – einig, dass Aufklärung keinesfalls ausreicht, da sich diese Auseinandersetzung nicht in der Philosophie entscheidet, sondern bei der Veränderung der materiellen Verhältnisse …

Mit dem Zitat „Wir wollen nicht klüger sein als der Markt“ (Tony Blair) zeigte Thomas Ebermann auf, dass Marktfetischismus und Irrationalismus die gleichen Strukturen aufweisen und betonte, dass sachliche Gegenargumente den irrationalen Blödsinn nur aufwerten. Mit der Aussage „Wir sind nicht der Ansicht, dass Argumente Steine ersetzen können, wohl aber, dass ein gut gezielter Stein ein Argument unterstreichen kann“ brachte er die im Publikum vertretenen Esoteriker an den Rand der Weißglut. Sein Fazit: In der kapitalistischen Gesellschaft ist alle Aufklärung nur Flickschusterei (was sie aber nicht abwerten soll). Peter Bierl hob hervor, dass die Esoterik gerade unter Rot-Grün einen Aufschwung erlebt, was kein Wunder sei bei den vorhandenen Affinitäten vieler Politiker dieser Parteien zu den verschiedensten Sekten und freireligiösen Gruppen. Seiner Ansicht nach wirkt sich das auch auf Regierungshandeln aus: „Innenminister Schily setzt mit seiner mörderischen Asyl- und Abschiebepraxis den Satz Steiners, dass ‚die Neger in Europa nichts verloren’ hätten, in die Tat um.“ …

Corinna Poll

Eine Dokumentation des Kongresses wird demnächst erscheinen und kann bei den Veranstaltern, dem AStA der Universität München und dem Arbeitskreis Irrationalismus, bezogen werden. Kon-
taktadresse: Leopoldstr. 15, 80802 München, Tel.: 089/2180-2072.


Freidenkerinfo vom September 2000, 18 f.

Überraschung

Jahr: 2000
Bereich: Religion