Materialien 2002
München – eine Stadt im Ausnahmezustand
Von Freitag, dem 1. Februar, 8.00 Uhr bis Sonntag 3. Februar 2002, 20.00 Uhr war über die Stadt München der Ausnahmezustand verhängt worden. Als Anlass dazu wurden die geplanten Proteste gegen die 38. sog. „Internationale Konferenz für Sicherheitspolitik“ (früher: Wehrkundetagung), an der knapp 40 Außen- und Verteidigungsminister der Nato- und EU-Staaten sowie zahlreiche PolitikerInnen, Militärexperten und hochkarätige Generäle teilnahmen, angegeben.
„München droht zu einem zweiten Genua zu werden!“
Wochenlang machten die Medien mit Behauptungen wie der obigen Front gegen die Konferenzgeg-
ner, zeichneten Horrorszenarien von anreisenden „Chaoten“, Randalierern und Gewalttätern mit Bildmaterial z.B. aus Genua und warnten vor Ausschreitungen. OB Ude (SPD) forderte ein Verbot der Demonstrationen und Protestveranstaltungen, der Bayerische Verwaltungsgerichtshof gab den Ausnahmezustand für München kurz vor Beginn der Konferenz bekannt. Jegliche Versammlung, d.h. Ansammlung von mehr als zwei Personen!, Protestveranstaltung unter offenem Himmel oder gar Demonstration wurde verboten. Hans-Georg Eberl, der Sprecher des Bündnisses gegen die Nato-Konferenz, das von über 150 in- und ausländischen Organisationen unterstützt wurde – da-
runter auch die Münchner Freidenker – war bereits direkt nach der Protestveranstaltung am 31. Januar, die sich gegen das Demonstrationsverbot richtete, „in Unterbindungsgewahrsam“ genom-
men.
Um jegliche inhaltliche Diskussion im Keim zu ersticken, ließ OB Ude alle städtisch geförderten Initiativen wissen, dass sie bei Beherbergung von DemonstrantInnen oder bei der Genehmigung von Veranstaltungen im Vorfeld mit dem Entzug öffentlicher Gelder zu rechnen hätten, so wurden u.a. sogar Raumzusagen an den AstA oder das isw zurückgenommen.
„München wird zur Festung“
Im Anschluss an eine Pressekonferenz am Samstag, den 2. Februar um 11.00 Uhr in der Neuhau-
serstraße (nahe dem Marienplatz), an der sich auch der Grüne Stadtrat Sigi Benker sowie der Lie-
dermacher Konstantin Wecker beteiligt hatten, wurde der Anmelder der ursprünglich geplanten Proteste, Claus Schreer, in das Polizeipräsidium in der Ettstraße gebracht, von wo er erst am Sonn-
tagabend wieder entlassen wurde.
Allen Verboten zum Trotz versammelten sich dennoch am Freitagabend rund 2.000 Menschen friedlich auf dem Marienplatz. Nach rund zwei Stunden, in denen von Polizeiseite unter lautstar-
ken Protesten zum Verlassen des Platzes aufgefordert worden war, kesselte die Polizei die Demon-
strantInnen ein, schob die Menge an eine Ecke des Platzes zusammen, um sie dann wieder zurück-
zudrängen, knüppelte dabei auf beliebige TeilnehmerInnen ein und nahm rund 300 Personen „in Unterbindungsgewahrsam“. Von Seiten der Protestierenden war keinerlei Gewalt ausgegangen, lediglich Pfiffe, Sprechchöre sowie vereinzelte Schilder mit Sprüchen wie „Gegen die Nato“, „Für Frieden“ u.ä. waren zu sehen bzw. zu hören gewesen. Dies hinderte die Einsatzkräfte jedoch kei-
neswegs an der gewaltsamen Räumung des Marienplatzes, die gegen 21.30 Uhr dann auch „gelun-
gen“ war.
Den Samstag leitete die Polizei mit einer anderen Gegenstrategie ein: Bereits ab dem frühen Vor-
mittag war der Marienplatz vollgestellt mit Polizeieinsatzwägen, die Einsatzkräfte waren noch stärker präsent als am Vorabend, die Kontrollen an den U- und S- Bahnaufgängen verstärkt. Wer zu dritt – oder in größeren Gruppen – am Platz stand wurde zunächst aufgefordert, diesen zu verlassen. Dennoch stieg die Zahl der Protestierenden schnell an, zwischen 8.000 und 10.000 Menschen waren am Samstag gegen die Sicherheitskonferenz und die rigiden Grundrechtsbe-
schränkungen auf der Straße. Ab 13 Uhr ging die Polizei daran, den Marienplatz zu räumen: Meh-
rere Hundertschaften Einsatzkräfte, Straßensperren (Gitter) sowie Schlagstöcke waren im Einsatz. Die DemonstrantInnen wurden hin- und hergetrieben, formierten sich aber immer wieder zu klei-
neren und größeren Demonstrationszügen, die von der Polizei eingekesselt wurden.
Vereinzelt gelang es, die Kessel zu durchbrechen. Dies ging bis am frühen Abend gegen 18.00 Uhr. Ca. 150 – 200 Protestierende zogen daraufhin gemeinsam in Richtung Gewerkschaftshaus, wo eine internationale (nicht verbotene!) Veranstaltung gegen die Sicherheitskonferenz stattfand. Es ge-
lang den meisten aber nicht, diese zu besuchen, da sie rund 400 m vom Gewerkschaftshaus ent-
fernt erneut eingekesselt wurden, ein Kessel, in dem sie bis zu sechs Stunden ausharren mussten, um anschließend in der Ettstraße zu landen. Die Münchner Zeitungen sprachen in den nächsten Tagen vom „Kinderkessel“, da hier v.a. Jugendliche festgehalten worden waren. Die Veranstaltung im Gewerkschaftshaus konnte stattfinden, sie wurde von rund 500 Menschen besucht. Während-
dessen hatten sich Polizeikräfte aus Brandenburg vor dem DGB-Haus versammelt und ließen nie-
manden mehr hinaus oder hinein. Den BesucherInnen wurde zunächst „angeboten“, das Haus einzeln zu verlassen, dann im Gänsemarsch in Gruppen zu 10 Personen mit einem Abstand von je einem Meter, das letzte Angebot der Polizei war, eine Straßenseite frei zu halten. Niemand wollte unter diesen Bedingungen gehen. Erst nach drei Verhandlungen zog sich die Polizei gegen 22.45 Uhr vom DGB-Haus zurück – unweit wurde der Kessel aufrechterhalten. Das, letzte Mal, dass „Si-
cherheitskräfte“ das DGB-Haus umzingelten, war 1933 (!) gewesen, als SA’ler das Gewerkschafts-
haus stürmten.
„Wir haben kein Grundgesetz mehr“ (Burkard Hirsch)
849 Personen waren an diesem Wochenende alleine in München „freiheitsentziehenden Maßnah-
men“ (so die Polizei) ausgesetzt, zahlreiche kamen erst gar nicht in die „Weltstadt mit Herz“ in der ja bereits beim Weltwirtschaftsgipfel 1992 demonstriert worden war, was man unter der „bayri-
schen Art“ (so der damalige Ministerpräsident zum Münchner Kessel) zu verstehen hat. Die Bild-
zeitung gratulierte den Polizisten denn auch konsequent am nächsten Tag, sie hätten ihre „Mei-
sterprüfung“ bestanden, „Das Wochenende hätte für München nicht besser enden können“, war weiter zu lesen, und: Bayerns Polizei werde zukünftig vielerorts um Hilfe und Unterstützung ge-
beten werden.
Was es bedeutet, die Beschränkung bzw. Aufhebung von Grundrechten gut zu heißen, konnte Deutschland zwölf Jahre lang erfahren. Der Münchner SPD-OB Ude sowie Innenminister Beck-
stein haben einen ersten großen Schritt in diese Richtung unternommen, den Protest konnten sie dennoch nicht verhindern. Besonnenheit zeigten nicht – wie oft zu hören und zu lesen – die Ein-
satzkräfte, sondern die DemonstrantInnen, die sich trotz aller Gewalt von Staatsseite an eine ihrer Losungen „Wir sind friedlich, was seid ihr?“ hielten. „Wir sind das Volk“, „Demo-Verbot – ha, ha, ha“ und „Hoch die Internationale Solidarität“ war bei allen Protesten immer wieder zu hören. Die Randale, im Vorfeld war von „Erkenntnissen“ über 2.500 bis 3.000 gewaltbereite Autonome die Rede gewesen (aus welcher Quelle sich diese Behauptungen speisten, ist unklar), blieben aus.
Was hier in München ablief, war ein absolutes Novum: Es wurde ein Präzedenzfall geschaffen, dass aufgrund nicht überprüfbarer Behauptungen über angeblich zu erwartende Gewalttäter, das De-
monstrations- und Versammlungsrecht aufgehoben wurde. Erstmals in der Geschichte der BRD wurden bereits im Vorfeld sämtlichen inhaltlichen Veranstaltungen (Referate, Diskussionen) kri-
minalisiert, bzw. Raumzusagen unter dem Druck von OB Ude zurückgezogen.
In den Medien gab es zu den Grundrechtseinschränkungen nur wenig Resonanz. Die Entscheidung über das Versammlungsverbot im gesamten Stadtgebiet fiel erst Donnerstagnacht, damit gab es keine Möglichkeit mehr, rechtlich rechtzeitig dagegen vorzugehen. Zahllose Menschen wurden in „Unterbindungsgewahrsam“ genommen, dabei spielte wegen des verhängten Ausnahmezustands die übliche Frist von 24 Stunden auch keine Rolle mehr.
Jede inhaltliche Auseinandersetzung mit der „Sicherheitskonferenz“ und ihren Zielen wurde unter-
bunden (im Vorfeld, aber auch während der zweieinhalb Tage), bereits die Aufschrift „Gegen Na-
to“, die drei Jugendliche auf ihre nackten Oberkörper gemalt hatten, genügte für deren Festnahme. Jugendliche wurden z. T. über Stunden eingekesselt und anschließend in Gewahrsam genommen, ohne dass deren Eltern informiert wurden. Ein Leserbrief in der SZ brachte es auf den Punkt: „… Die Schüler lernen es in der Schule, dass kein Grundrecht nach Art. 1911 GG im Wesensgehalt ein-
geschränkt werden darf. Die Stadtspitze und die bayerische Staatsregierung setzten sich jedoch über diese Grundrechtsbestimmung hinweg und begehen einen glatten Verfassungsbruch …“
Freies Denken?!
Als FreidenkerInnen hatten wir in München zu den Protesten mit aufgerufen, viele Mitglieder ließen sich auch durch die Verbote nicht davon abhalten, gegen die verhängnisvolle Kriegspolitik der anwesenden „Herren und Damen“ im Nobelhotel Bayerischer Hof zu demonstrieren. Die Raumverbote im Vorfeld des Wochenendes verurteilte die DFV-Jahreshauptversammlung in einer Pressemitteilung, die auch an alle Stadtratsfraktionen und OB Ude ging, scharf. Keinen eigenstän-
digen Beitrag leisteten wir zu den Verboten, hier äußerte sich die HU (Humanistische Union) in einer sehr guten Stellungnahme.
Besonders bedauerlich empfinde ich den Umstand, dass bereits Wochen vorher von Münchner FreidenkerInnen in der mailing-Liste Schlafplätze angeboten worden waren sowie der Aufruf des Bündnisses gegen die Nato-Sicherheitskonferenz veröffentlicht war – ohne jegliche Reaktion aus dem Verband. Andererseits seitenlange e-mail-Diskussionen über den Freiheitsbegriff – dieser ist gerade hier am Wochenende in München massivst demontiert worden, nicht einmal bürgerliche Grundfreiheiten wurden gewährt. Das schränkte auch alle Rechte auf freie (theoretische) Diskussionen ein.
FreidenkerInnen werden sich in Zukunft über theoretische Diskurse hinaus auch verstärkt mit den konkreten Einschränkungen hier im Land sowie der in Riesenschritten vorwärts schreitenden Mili-
tarisierung befassen müssen. Wenn wir für diese Rechte nicht auf die Straße gehen, werden wir bald auch nur noch eingeschränkte Möglichkeiten haben, über Begriffe und Einschätzungen theo-
retisch zu diskutieren.
Christiane Kröll
Informationen zu den Protesten gibt es unter: www.buko24.de/nato.htm, Reportagen unter: www.arbeiterfotografie.com/reportage, eine 50-seitige Broschüre zu den Vorveranstaltungen zu Euro 2.– + Versand beim DFV-München.
Freidenker. Organ des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V. 1 vom März 2002, 47 ff.