Materialien 1970

Aus einem Brief an eine Freundin

Stadelheim 24. Juli 1970

… Ganz schön heiß in Stadelheim. Die Zeitungen bringen jeden Tag neue Geschichten vom Berliner Kommuneboß, und wenn es mir dennoch langweilig wird, dann mache ich eben Ausflüge, werfe Molotows in Justizgebäude oder Rauchbomben ins Londoner Parlament, entführe Flugzeuge aus Athen oder deutsche Techniker in Bolivien, trage alles mit der nun schon notorischen Ordnungsliebe eines deutschen Anarchisten in meinen Knastkalender ein, archiviere fleißig, onaniere regelmäßig wie ein Lutheraner, sende Rauchringe und Briefe nach draußen, träume wirr, höre jeden Freitag die Hitparade (z.Zt. führen immer noch Simon und Garfunkel, das Zionistenduo mit dem israelischen Luftwaffenhit >El Condor pasa<), dusche jeden Mittwoch, höre unglaubliche Geschichten, begegne gewitzt jedem Versuch eines dicken amerikanischen Betrügers, mich beim Hofgang zum Kapitalismus zu bekehren, konsumiere viel Brausepulver, sage immer >danke< wenn mir ein Wachtmeister die Tür aufschließt (und sage dann immer ohne jede Ironie >bitte<, denn das Schlüsselumdrehen ist ihre Arbeit, ihr Tagewerk, ihre Existenzberechtigung, und die Anerkennung für das Geleistete tut ihnen gut, wie allen Werktätigen), ich schaue auf die Uhr, damit ich die Nachrichten nicht verpasse, fege jeden Morgen meine Zelle aus und leere den Abfalleimer, betrachte mit Interesse die ausgefallenen Haare in der Bürste, benütze, und das ist der Gipfel, jeden Tag das Deospray, nur weil es da ist, schrubbe auch willig einmal in der Woche die Zelle naß, liege aber doch lieber auf dem Rücken und mache mir revolutionäre Gedanken über die Weltgeschichte, lese auch die SZ und den SPIEGEL ausführlicher als man das draußen tut, werde davon aber auch nicht klüger, bohre in der Nase und rolle das Ergebnis in den Handflächen zu länglichen Wergeln, rieche an dem Finger, den ich vorher in den Hintern gesteckt habe, und denke, wenn das Essen sehr schlecht ist, dass man vielleicht schon pensionierte Richter in die Fleischspeisen der Anstaltsküche mischt.

Fritz Teufel


Reinhard Wetter/Frank Böckelmann, Knastreport. Mit Beiträgen von Holger Trülzsch und Günter Maschke, Frankfurt am Main 1972, 149.

Überraschung

Jahr: 1970
Bereich: Militanz