Materialien 1953
Anfänge
»In einer optischen Fabrik bist unter dem Dach, nicht bei jedem Wetter draußen wie am Bau.« – »Ja, schon!« – »Und wirst nicht so dreckig wie die Mechaniker, mit dem Schmierfett … « – »Ja, ist ja gut, werd ich morgen früh schon sehn.« – »Am besten, du legst dich bald hin, damit du morgen ausgeschlafen hast und einen guten Eindruck machst vom ersten Moment an.« – »Ja, Mutter, ich mach schon einen guten Eindruck! Gute Nacht!«
Gestern war es gewesen, um die gleiche Zeit, als ihn seine Mutter aufgeregt hatte mit ihrem Gere-
de. »Und wie war dann der erste Tag?« Heute regte es ihn nicht auf, heute regt ihn überhaupt nichts mehr auf. »Es ging schon.« – »Du bist doch nicht unangenehm aufgefallen? Nein? Es wird schon werden. Musst dir immer denken, dass jeder einmal so angefangen hat, als Lehrling. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.« – »Gibts bald was zu essen?« – »Ja, natürlich, gleich. Hast Hunger, ist anstrengend, so eine Arbeit, wenn man sie noch nicht gewohnt ist. Aber man ge-
wöhnt sich an alles.«
Eigentlich hätte er Büroangestellter werden sollen. Zum Ende des Schuljahres 1953 waren in den Tageszeitungen nicht wenige Anzeigen gewesen, Angebote für kaufmännische Lehrlinge in Büro und Verwaltung. Er hatte sich hingesetzt und Bewerbungen mit Lebenslauf verfasst. Wenn er überhaupt Antworten bekommen hatte, so waren es Absagen: »… und bedauern wir, Ihnen mittei-
len zu müssen, dass wir uns schon anderweitig entschieden haben. Wir wünschen Ihnen für Ihren weiteren Lebensweg alles Gute.«
War er nun gut gewesen, dieser weitere Lebensweg? Er konnte es noch nicht beurteilen, nach die-
sem ersten Tag im Optischen Werk an der Isar, direkt neben dem Werkskanal. In seinen letzten Schulferien war er oft an der Isar gewesen, etwas oberhalb von der Stelle, die er mittags vom Trep-
penhausfenster aus erspäht hatte. Mittags, als er vom Strom der Hungrigen hinuntergetrieben wurde zum Kantinenraum, einer behelfsmäßig hingestellten Baracke im Hof. Um diese Zeit etwa wäre er jetzt, als er noch Schüler war, hinaus und heim. Aber nun war es für ihn erst Halbzeit.
»Da hinten ist der Warteraum, da sind schon ein paar andere Lehrlinge.« Der Pförtner trug eine Mütze mit aufgesticktem Firmennamen. Auch auf seiner Anzugbrust prangte der Name, das Wa-
renzeichen, die Weltmarke. Er war der Anweisung dieses Weltmarkenträgers eilig und ohne Wi-
derspruch gefolgt, war beeindruckt gewesen, mit welcher Selbstverständlichkeit der ihn gering-
schätzig und herablassend, aber auch nicht unfreundlich musterte. Im Warteraum hinter der Pförtnerloge waren die Stühle besetzt, vier oder fünf, mehr standen da nicht. Hier ließ man sonst Handelsvertreter warten, bis der zuständige Abteilungsleiter sie holen ließ oder zu ihnen herunter kam, um sie abzuweisen. Die anderen Burschen, fünfzehn vielleicht, alle in seinem Alter, standen betont gelassen herum. Er tat nicht weniger gleichmütig, ging zwischen den anderen hin und her, nestelte an seinem Hemdkragen und merkte dabei, dass der zu eng wurde. Wirklich zu eng, denn er war noch nicht fertig mit dem Wachsen. Achtzehn Mark würde er bekommen, achtzehn in einer Woche, die Optikergesellen bekamen ungefähr viermal so viel. Achtzehn Mark, für ein schönes neues Hemd reichten die nicht. Außerdem musste er noch zuhause was davon hergeben, einen Beitrag zum Haushalt leisten, wo er bisher nur bekommen hatte, ohne etwas zu geben. – Schuhe, Halbschuhe könnte er auch brauchen. Er würde schon sehen …
Verhaltenes Wortgebröckel begann den Abstellplatz für Wartende zu beleben. »Wo wohnst denn du?« – »In welche Schule bist denn du gegangen?« – »Ah, da, in die … «Als der kleingewachsene, wendigschlanke Mann zur Tür hereinkam, die zu Fäusten geballten Hände in die Hüften stemmte, verstummte dieses erste, noch maßnehmende Gespräch der Lehrlinge. Den kannte er, bei ihm hat-
te er sich vorgestellt, von ihm war er ausgefragt worden. Ihm verdankte er den gehörigen Respekt, den er vor den Betrieben bekommen hatte. » … die Arbeitswelt ist eine ernste, eine zu ernste Sache, als dass sie einer auf die leichte Schulter nehmen könnte. Darum bitte ich mir aus, dass einer, dem wir auf unsere Kosten etwas beibringen, pünktlich, ehrlich, fleißig und zuverlässig ist. Dann kom-
men wir gut miteinander aus – sonst nicht. Verstanden!« Über diesen strammen Ton war er er-
schrocken, solchen hatte nicht einmal der Mathe-Lehrer an sich gehabt, und er war versucht gewe-
sen, vor dem Schreibtisch des Herrn Kumpf, des Personalchefs, seine Hände an die Hosennaht zu nehmen, stramm zu stehen. Dabei hatte er keinerlei militärische Erfahrungen, der letzte Krieg war schon über acht Jahre vorbei. Nur wenn sie als Kinder damals mit etwas Älteren zusammen ge-
spielt hatten, die noch in der Hitler-Jugend gewesen waren, dann hatten sie von denen solchen Drill beigebracht bekommen. Neuerdings gab es auch wieder ein Amt, das für eine künftige Armee zuständig war, doch seine Mutter hatte gemeint, er könne beruhigt sein, er sei über das Dienst-
pflichtalter hinaus, wenn diese Armee den jungen Burschen zur Pflicht gemacht würde. Außerdem sei es noch nicht lange her, da wollten sich deutsche Politiker lieber eine Hand abfaulen lassen, als dass ein deutscher Soldat wieder ein Gewehr in die Hand nehmen dürfe.
»Alle mal herhören! Ich verlese jetzt die Namen der neuen Lehrlinge. Wer aufgerufen wird, ruft >hier< und stellt sich dann neben mir an der Wand auf, in einer Reihe.« Hinter dem Personalchef im dunklen Anzug standen zwei Meister, auch ihre grauen Mäntel zierte das Firmenzeichen, wie die Pförtnerjacke, auf der Brust. Größer als Kumpf, konnten sie auf ihn hinunterschauen, aber sie forschten statt dessen in den Gesichtern der Neuen, die ihnen da unterstellt werden sollten. Acht, neun Namen wurden verlesen, seiner war auch dabei.
Bei einem gab es mehr Worte. »Schelle, Erwin. Schelle? Ihr Vater hat einen Optikladen, ist ein gu-
ter Kunde unseres Werks. Sie werden sich bei uns schon wohlfühlen und etwas lernen. Vieles ist Ihnen ja auch nicht mehr so neu.«
Dann ging es hinter einem Meister her, über den Hof, eine Treppe hinauf, dann durch eine Eisen-
tür und in die Werkstatt. Der Meister, wie alt der wohl war, fünfzig vielleicht, fünfundfünfzig, schwer zu schätzen. Dann wäre der so um die vierzig Jahre schon in einer Werkstatt? Vierzig Jah-
re! Er würde auch so lange, oder noch länger, fünfzig Jahre, drinnen stecken. Aber unter Dach, nicht bei jedem Wetter draußen. – Ein Mittelgang war frei zum Durchgehen, der Saal war hell, nicht finster wie die Schlosserwerkstätte daheim ums Eck, im Hinterhof. An langen Tischen saßen da Frauen, ältere und jüngere, und Mädchen, höchstens zwei, drei Jahre aus der Schule. Viele Mädchen gingen als Hilfsarbeiterinnen, weil das im Moment mehr Geld brachte als eine Lehre, und weil sie doch bald heiraten würden, wie man ihnen sagte – das fiel ihm ein, als er an einem mageren, unguten Typ vorüberging. Ihr hingen ein paar strähnige Blondhaare, nach hinten ge-
bunden, unterm Kopftuch herunter. Die Frauen nahmen die Neuen nur mit einem kurzen Auf-
blicken wahr, dann beugten sich dreißig Rücken wieder über die Tische. Er tappte mit den ande-
ren, mitten drinnen in der Reihe, auf eine Glaswand zu, durch eine Tür hinein in einen kleineren Raum, der von dem Saal abgetrennt war. In der Luft lag ein scharfer Geruch.
Die eine Seite des Raumes nahmen Tische ein, mit Stühlen dahinter, wie im Saal mit den Frauen davor. Die andere Seite hinter dem Durchgang, mit dem Fenster zum Hof hin, war nochmals mit einem Verschlag abgetrennt, und wieder geteilt in die Werkstattschreiberei, mit dem Schreibtisch des Meisters, und die Materialausgabe. »Eins, zwei und drei, hierhin, jeder an einen Platz. Eins, zwei, drei, dahin. Und eins, zwei, drei, der Rest.«
Er war in die hinterste Tischreihe eingewiesen worden. Die Wand hinter ihm war nicht aus Mauer-
werk, sondern aus Holz, weiß gestrichen. Ein zirpendes, kratzendes Surren, das ihn an den Zahn-
arzt erinnerte, drang hindurch.
»So, jetzt hat jeder seinen Platz. Der ist zu merken, verstanden?« – Warum sagte der nicht: »Merkt euch euren Platz?« – »Auf jedem Tisch liegt eine Blechmarke. Aufnehmen – und wieder herkom-
men!« Er trottete mit seinen künftigen Kollegen hinter dem Meister her zum Schalterfenster der Materialausgabe, dort wurden sie wieder ungeniert gemustert, diesmal von einem älteren Mann, der Magaziner genannt wurde und dem an der rechten Hand zwei Finger fehlten. Kriegsinvalide? Er muss besser aufpassen, was der Meister anwies! »Auf jeder Marke ist eine Nummer, die ihr euch merkt, klar. Hat jeder seine Nummer?«
Er, ausgerechnet er, hatte seine Blechmarke mit der Nummer auf seinem Tisch liegen lassen. Jetzt fiel er auf, er wetzte zurück, schadenfroh grinsten ein paar hinterdrein, einer kicherte.
»Ihr seid da nicht mehr in der Schule, ich sag’s euch gleich! Und ich sag alles nur einmal. Auch klar, oder!«
Jetzt hatte er seine Marke und presste sie fest in der Faust. Er musste sich jetzt ans Ende der Reihe stellen und blickte zerknirscht auf den Meister. Aber der erwartete Anpfiff kam nicht, denn einer mit einem weißen Mantel schob sich herein, der Meister im Graumantel grüßte ihn freundlich und wurde wieder gegrüßt. Eine Tür schlug hinter dem weißen Mantel zu, und der Meister erläuterte: »Das ist Herr Segn, unser Kalkulator. Hat angefangen wie ihr heute, aber er hat nicht geschlafen.«
Hatte er mit schlafen ihn gemeint? Seine Blechmarke in der Hand fühlte sich feucht an, er presste sie immer noch, er hielt sich fest an ihr. Einer nach dem anderen reichte die Marke dem Mann hinter dem Tresen, bekam einen Mantel dafür, einen schon verwaschenen grauen, ein Staubtuch und einen Schlüssel. Nun war er dran, reichte sie hin, ein Daumen und ein Zeigefinger neben einer Narbe griffen sie weg. Ein Mantel, ein Schlüssel, die Marke landete auf einem Haken an einem Brett, an dem schon eine Menge solcher Plättchen hing. – Die Nummer, er hatte vergessen auf die Nummer zu schauen. Blöd! Fragen? Nein, dann wäre er noch einmal aufgefallen.
»Mantel anziehen und jeder auf seinen Platz. Los, nicht so langsam, nicht einschlafen dabei.« – Warum der Meister immer meinte, sie würden schlafen? Erdachte gar nicht ans Schlafen, im Ge-
genteil. Hinlangen wollte er, kräftig, damit man einen guten Eindruck von ihm bekommen würde.
Beim Meister tauchte nun ein zweiter Graumantel auf, ein jüngerer, und grinste freundlich in die Runde.
»Da stelle ich euch Herrn Huber vor, euren Lehrgesellen. Der zeigt euch jetzt, was ihr zu machen habt. Wenn es was zu fragen gibt, fragt ihn.« »Wiedersehn«, fuhr es ihm heraus, ihm als einzigem. Er hätte sich in den Arsch treten mögen. Der Meister blieb eine Sekunde lang halb abgewandt stehen, dann drehte er sich noch einmal um.
»Wiedersehn? Ihr seht mich den ganzen Tag, vielmehr ich euch. Und ich merke sofort, wenn einer von euch Löcher in die Luft stiert. Der kann mich dann kennen lernen.«
Der Lehrgeselle holte sich ein rundes Stück Glas aus einem Korb. Hob es hoch, drehte es nach allen Seiten. »Was ist das?«
»Ein Brillenglas«, antwortete einer.
»Ein was?«, tat der Geselle schwerhörig.
»Ein Brillenglas«, tönte es acht- oder neunfach.
»Brillenglas?«, der Geselle schüttelte wie bedauernd den Kopf.
»Ein Meniskus«, kam es von einem. Der Schelle, der zuhause einen Optikerladen hatte, der wusste natürlich Bescheid.
»Solche Menisken werdet ihr also jetzt polieren. Polieren und in Tüten eintüten, zu was anderem seid ihr noch nicht geeignet. Dafür hat jeder ein Tuch bekommen. Und ich schau es mir dann an und möchte kein Milligramm Schleifpaste mehr auf einem Glas finden und auch keinen Finger-
abdruck. Auf los geht’s los!«
Er polierte wie wild, einen ganzen Vormittag lang. Die Gläser waren ihm alle ohnehin sauber er-
schienen, auf kaum einem war eine Spur von der roten Schleifpaste zu sehen gewesen. Und das Tuch, weißlich-gelb zuerst, bekam einen roten Schimmer, immer mehr. Nebenan, hinter seinem Rücken, surrte es. Sein Sitz war unbequem, er verlagerte seinen Körper mal in die eine, mal in die andere Richtung, aber die Abstände, in denen er das tat, wurden immer kürzer. Ein Korb voll war fast eingetütet, hundertsieben, hundertacht … er zählte mit, zählte, bis sich seine Lippen dazu stumm bewegten.
Schritte kamen von hinten, einer blieb hinter ihm stehen. Er wollte sich umdrehen, sehen wer es war.
»Mach nur weiter, ist schon gut so.«
Der Lehrgeselle, er ging weiter. Die Dürre aus dem Saal nebenan kam, stellte ihm einen neuen Korb und einen Karton voll Tüten hin. Jetzt war sie ihm eine erfreuliche Abwechslung, vorhin hat-
te er sie daraufhin angesehen, ob er mit ihr spazieren gehen wollte oder ins Kino. Nein, hatte er gedacht, die lieber nicht, so wie die aussieht. »Lieber drei Jahre nichts zu Weihnachten«, sagten er und seine Spezl einander vor, wenn so eine vorbeikam an der Ecke, ihrem Treffpunkt am Samstag. Am Samstag würde er seine ersten paar selbstverdienten Markstücke im Hosensack klimpern las-
sen. Die achtzehn Mark seien eigentlich kein Verdienst, hatte er gesteckt bekommen bei der Ein-
stellung im Personalbüro. Eigentlich koste die Lehrlingsausbildung dem Werk nur zusätzliches Geld, aber das mit der Erziehungsbeihilfe sei nun mal Gesetz.
Zweihundertdrei, zweihundertvier … abwischen, erst die Facette, dann mit Daumen und Zeigefin-
ger am Rand fassen, innen, außen, Tüte nehmen, reinstecken, weglegen, ein neues, zweihundert-
fünf. Einige Male noch kam der Geselle vorbei, blieb hinter ihm stehen, wortlos, ging weiter. Bei einem anderen beanstandete er etwas zwei-, dreimal. Er freute sich, dass er bei ihm nichts zu be-
mängeln hatte. Endlich war Mittag. Zuvor hatten sie keine Pause eingelegt, denn sie hatten schon in der Frühe zuviel Zeit verloren, war ihnen gesagt worden, aber morgen, da hätten sie eine. Von zehn bis um Viertel nach.
Gerade noch die grünen Baumwipfel an der Isar konnte man vom Treppenhausfenster aus sehen, grün waren sie noch, bald aber würden sie gelb und dann unbelaubt, schwarze Striche an einem grauen Himmel. Dann wieder grün im Frühjahr, da war er schon über die Probezeit hinaus. Und das dreimal, dann war die Lehrzeit vorüber, noch weitere sieben, oder auch ein paar mehr Jahre, dann wäre er vielleicht Meister geworden oder auch Kalkulator, wie der im weißen Mantel heute früh. »Bummelt nicht, sonst bist du in einer halben Stunde nicht mit dem Essen fertig.« Das war ein gutgemeinter Ratschlag von dem Lehrgesellen, denn in der Kantine stand schon eine lange Schlange vor dem Küchenschalter. Er aß schnell, so schnell es ging, dicke Soße, ein Stück Fleisch, zerkocht, und grünen Salat, der nicht mehr nach Salat schmeckte. Bekam gesagt, dass er Besteck und Geschirr an der Theke wieder abgeben müsse, dort seitlich, wo schon der große Berg stand. Raus und noch etwas Sonne mitnehmen.
Über dem Eingang vor der Kantine gab es eine Uhr, ein Nasenschild, rechts und links ein Ziffer-
blatt, die nach beiden Richtungen über den betonierten Hof das Ende der Mittagspause anmahn-
ten. Um halb eins läutete auch noch die Glocke, da sollten alle auf ihrem Platz sein. Ihn erreichte das Gebimmel auf dem Treppenabsatz beim Fenster. Drei Jahre, dann noch siebenundvierzig, dann Rente. Einmal im Jahr Urlaub, Isar und Baden im Fluss. Später, als Geselle, auch einmal in Italien oder wo.
»Natürlich, unser Traumtänzer. Wünsche wohl gespeist zu haben, der Herr! Und künftig bist du pünktlich wieder auf deinem Platz, verstanden! Sonst …«Was sonst wäre, brauchte ihm der Mei-
ster nicht zu erzählen. »Wenn du dich nicht gut anlässt, schmeißen sie dich nach der Probezeit schon wieder hinaus«, hatte ihm seine Mutter eingeschärft, schon eine Woche lang, bevor er zum ersten Mal so dreiviertel sieben schon aus dem Haus musste. Immer wieder, bis er es ihr geglaubt hatte.
Weiterzählen? Oder für den Nachmittag noch einmal anfangen. Wie viel waren es denn gewesen? Dreihundertvierzig? Vierhundertdreißig? Egal, eine Frau hatte die eingetüteten Menisken wegge-
holt, ohne dass jemand nachgezählt hätte, wie viele er geschafft hatte. Oder gab es da doch irgend-
wo eine Kontrolle? Er zählte nicht mehr, polierte weiter und rutschte auf seinem Sitz. Er bildete sich ein, dass das Surren lauter geworden war. Was da wohl gemacht wurde? Gläserschleifen hörte sich wohl so an, oder? Was sonst in einer optischen Fabrik. Er würde vielleicht auch bald so schlei-
fen, bestimmt war das interessanter als das Gläserabwischen. In der Kantine waren welche gewe-
sen, junge, Lehrlinge bestimmt noch. Die waren nebenan gewesen, vor dem Essen noch zum Hän-
dewaschen gegangen. Rote Schleifpaste von den Fingern, an den Mänteln war noch etwas davon zu sehen.
Aufpassen! Bestimmt würde es ihm leichter fallen, wenn er erst den Betrieb gewohnt war. Doch er riss sich zusammen, um nicht noch einmal dem Lehrgesellen aufzufallen.
Die Fensterkreuze warfen schon lange Striche über die Tische, ein Gittermuster aus Licht und Schatten. Er schob den Gedanken ans Eingesperrtsein weg, so was durfte er sich nicht denken, nur das nicht, wo doch die nächsten fünfzig Jahre so sein sollten. Es ging auf den Feierabend zu, bald wäre Schluss für heute, vielleicht noch eine halbe Stunde bis zum Glockenbimmeln.
»Herhören! Jeden Tag kehrt einer von euch nach Feierabend den Boden. Besen ist draußen auf dem Gang, wo auch die Garderobenschränke stehen. Jeder von euch hat seinen Schlüssel dafür bekommen. Aber erst wenn es läutet, wird gegangen, verstanden! Und zuvor räumt noch jeder seinen Tisch auf, klar? Poliertücher zurück an die Ausgabe, dafür bekommt jeder seine Nummer zurück. Wäre an sich nicht so wichtig, aber später wird das Werkzeug so ausgegeben. Damit ihr es gleich richtig lernt, also!«
Die Nummer, er hatte sich seine Nummer nicht gemerkt. Aber zum Kehren war er nicht eingeteilt, wenigstens einmal Glück an diesem Tag.
Als die Bimmel alle Geschäftigkeit beendete, ballten sich die neuen Lehrlinge vor dem Magaziner mit der Dreifingerhand, doch der Blick des Meisters scheuchte sie in die Reihe. Er war diesmal vorletzter, der nebenan vom Arbeitsplatz drängte sich vor ihn. Dessen Tuch verschwand in einem Karton, er nannte eine Nummer. »Hundertzwölf«.
Hundertelf oder hundertdreizehn? Oder ganz anders? Welche Zahl stand denn auf seinem ver-
fluchten Blech?
»Hundert … hundertelf.«
Drei Einser, damit kann man beim Würfeln gewinnen. Aber es ging auch hier gut, hundertelf war seine Zahl.
Stumpf und leer war er den Weg heimgelaufen, nicht, wie auf dem Hinweg, voller Erwartungen und in der Freude darüber, zeigen zu können, dass er einer war, mit dem man rechnen musste, ein künftiger Facharbeiter. Optikfacharbeiter, so viele gibt es davon nicht.
»Was machst denn für ein Gesicht? Jeder hat mal so anfangen müssen, jeder.« Das mit dem Fach-
arbeiter, das war schon richtig, aber so was Besonderes auch wieder nicht, wenn jeder so hat an-
fangen müssen wie er. Sogar der Schelle, obwohl dem sein Alter einen eigenen Laden hatte. – Aber, fiel ihm plötzlich ein, fingen wirklich alle so an? Bei ganz wenigen war es bestimmt nicht so, und die würden einmal behaupten, ihnen gehöre das Werk, ihnen.
August Kühn
Literaturwerkstatt, hg. von Frank Brunner, Heft 1, Stuttgart 1977 und: August Kühns Münchner Geschichten, Frankfurt am Main 1977, 71 ff.