Materialien 1967

Endlösung gesucht

Scene: Auf der einen Bühnenseite hocken »Gammler« in stoischer Ruhe beieinander. Von der anderen Seite kommt ein »Teutscher Bürger« auf die Bretter. Wendet sich forsch an das Publikum:

Habt acht! Rühren! Man darf wieder …! Neulich habe ich doch ganz laut in der vollen Straßenbahn darüber geschimpft. Freie Meinungsäußerung! Ein deutscher Mensch kann sich das nicht länger gefallen lassen. Der Schaffner wollte mir einreden, man müsse da tolerant sein. Dem habe ich aber meine Meinung getrommelt und gepfiffen. »Sie als Amtsperson und teutscher Uniformträger!« rief ich ihm zu, »Ihnen müsste man ja sofort das Ehrenkleid der städtischen Verkehrsbetriebe ausziehen, wenn Sie weiter derartig zersetzende Meinungen vertreten. Toleranz ist absolut undeutsch, von Völkerschaften mit unzureichend germanisch-reiner Erbmasse bei uns eingeschleppt. Faule Kompromisse – fauler Zauber! Sitzen Sie gefälligst stramm!« –

Ich meine, als deutscher Träger eines bunten Rockes hat man doch eine ethische Verpflichtung. Also, dann ich weiter in die Menge: Man sollte dieses stinkende, arbeitsscheue Pack zuerst einmal einfangen und in geschlossene Wohngebiete einweisen, konzentrieren, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und dann sogleich die undeutschen Schädel kahl scheren. Sie meinen, man kennt sie dann nicht mehr von echtvolkigen Straffälligen weg? Gibt es denn solche? Gestatten Sie, dass ich daran gewisse Zweifel hege! – Dann muss man sie eben kennzeichnen, dass keine Verwechslungen vorkommen – die Kriminellen vielleicht mit »K«.

– Jedenfalls kann man von unserer Nation nicht länger erwarten, dass sie sich die Unterwanderung durch derartige Elemente länger gefallen lässt. Manche von diesen verkommenen Subjekten sollen sogar denken, stellen Sie sich vor, denken! Aber was noch weit schlimmer ist, sogar zu Papier bringen sie ihre pinschigen Gedanken. Nicht auszudenken, wenn die blitzblanken Blauaugen meiner durch und durch blonden Jung-Edda von solchen Produkten der literarischen Notdurft eines dieser Volksschädlinge beleidigt würden. Soweit sind wir also schon gesunken mit dieser weichlichen Toleranz. Ich hätte meine Tochter wirklich nur das Lesen unserer alterhabenen Runen erlernen lassen dürfen. Am besten, man verbannt diese übelriechenden Untermenschen ganz von unserer hehren, von den stolzen Ahnen ererbten, blut- und schweißgetränkten deutschen Scholle. Sie meinen, man könne nicht? Alles eine Zeitfrage, ich verrate Ihnen da mein Rezept: Man kann wieder wählen! Na also.

– Was ich Sie noch fragen wollte. Wissen Sie nicht eine Endlösung dieser uns alle entehrenden Gammlerfrage? – … ich habe mal gedacht, Madagaskar …

(Die »Gammler« treten nun ins Rampenlicht, während der »Rechte« – ich nenne ihn ADOLF ADLER – stramm und aufrecht abgeht.)

– Melodie aus Mary Poppins –

Chim-Chimeny, Chim-Chimeny, rauchst Du schon bald?
Chim-Chimeny, Chim-Chimeny, ist der Ofen noch kalt?
Wir Gammler, wir Gammler, wir gehen voran,
Und wer ist als Nächster, als Nächster dann dran?

Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, zu Rauch,
Trifft’s die Gewerkschaft, wie damals schon, auch?
Du, roter Pfarrer, bekennender Christ,
Wie lange hast Du dann zum Sterben noch Frist?

Dichter und Denker, habt kritisiert ihr den Staat?
Auch ihr büßt dann bald eure pinschige Tat.
Und Dich, Genossen der SPD auch,
Treibt man hinein in Flammen und Rauch.

(Nach der ersten Strophe nehmen die »Gammler«-Darsteller die Perücken ab. – ADOLF ADLER tritt wieder auf, ruft:)

»Man kann wieder wählen!«

Die anderen Darsteller:

»Danke, so nicht!«


August Kühn, Manuskript. Für: Sati(e)r-Schutz-Verein, 1967 und: August Kühns Münchner Geschichten, Frankfurt am Main 1977, 102 f.

Überraschung

Jahr: 1967
Bereich: Ressentiments