Materialien 1968

habt nicht soviel respekt oder: eine aufforderung zum ungehorsam

Bei uns in Deutschland werden Untertanen aufgezogen, nicht etwa Menschen. Von klein auf wird da Respekt verlangt, Respekt vor den Eltern, vor dem Papst, vor dem schwarzen Mann, vor dem lieben Gott, vor der Polizei, vor dem Lehrer, vor dem Meister, vor dem Titel, vor der Uniform, vor dem Geld. Das ideale Endresultat dieser Erziehung ist dann ein blinder Kadavergehorsam. Der Staat befiehlt, und Du marschierst, der Polizist sieht Dich an, und Du bekommst ein schlechtes Gewissen, der Papst spricht ein Machtwort, und Du wirfst die Pille weg, der Meister rügt, und Du lässt Dir die Haare schneiden. Warum eigentlich? Warum lehnst Du Dich nicht auf? Sieh Dir doch einmal sie genauer an.

Auch der Papst hat onaniert, als er jung war, und als Hitler einige Millionen Juden vergaste, schwieg er. Der Polizist an der Ecke, um den Du lieber einen Bogen machst, ist nicht zur Polizei gegangen, weil ihn die steigende Kriminalität bedrückte, sondern schlicht und einfach, weil er arbeitsscheu war. Er lebt nun von Deinen Steuern und braucht keine Schaufel in die Hand zu nehmen. Sieh ihn so und nicht anders, und steh nicht stramm, wenn er Dich anspricht. Auch Po-
lizisten haben schon gestohlen, auch Amtsgerichtsräte. Dass sie nur Menschen sind, siehst Du schon daran, dass sie den Mummenschanz nötig haben, sich in läppische Talare zu hüllen, um sich Respekt zu verschaffen.

Ein kleiner Kommunarde, der in den Gerichtssaal kackt, genügt, um in einer Minute den ganzen faulen Zauber zu entlarven. Auch Deine Eltern sind keine Halbgötter, oder glaubst Du, dass Deine Mutter noch Jungfrau war, als sie Vater kennen lernte? Dass Dein Vater lauter Einser im Zeugnis hatte, wirst Du ja oft genug gehört haben, dass er aber auch ab und zu seiner Arbeitskollegin zwi-
schen die Beine greift, verschweigt er Dir bestimmt. Sollte er doch zufällig ein reiner Tugendengel sein, so sei erst recht misstrauisch. Auch Robespierre war ein Keuschheitsapostel und Hitler trank und rauchte nicht. Solche Leute sind erst recht gefährlich. Sei also skeptisch und bitte, etwas mehr aufsässig. Ruhe ist zwar die erste Bürgerpflicht, aber Unruhe das Gebot des freien Menschen. Ge-
horsam führte in diesem Land stets zum Massengrab, versuchen wir es mal mit Ungehorsam. Viel-
leicht lässt der uns den Weg finden in eine neue, freie Gesellschaftsordnung, in der sich die Autori-
tät nicht mit Hilfe von Uniformen, Titeln, Soutanen, Gummiknüppeln und Rohrstöcken manife-
stieren muss, sondern durch menschliche Werte.

peter schult


hush, Ende September 1968, hektographiert und unpag.

Überraschung

Jahr: 1968
Bereich: Jugend