Materialien 1985

Wir müssen einen Schmerz erzeugen

Im Gespräch: Josef Bierbichler
von Doris Heselberger

Herr Bierbichler, Sie haben mit politischen Aktionen auf der Bühne Schlagzeilen gemacht. Sind Sie Schauspieler oder Politiker?

Ich verstehe die Schauspielerei durchaus als politische Arbeit. Das ist sie natürlich nicht nur, aber ich glaube, die Schauspielerei und die politische Arbeit ergänzen sich immer wieder. Viele reden ja bei der Schauspielerei von einem Handwerk und wenn der Begriff gültig sein sollte, dann handelt es sich um ein Handwerk, das sich insofern von anderen unterscheidet, als es sich in der Öffentlichkeit abspielt. Und dadurch zu einer direkten gesellschaftlichen Angelegenheit wird, die mich motiviert, die Schauspielerei nicht nur zum Geld verdienen auszuüben. Daraus entstand irgendwann mal der Glaube daran, dass man als Schauspieler Mißstände in der Gesellschaft aufzeigen, möglicherweise sogar abschaffen kann.

Wie fingen Sie an, Politik auf die Bühne zu bringen?

1973 fühlte ich erstmals durch den Militärputsch in Chile Betroffenheit. Dieser politische Vorfall geschah damals zu einem Zeitpunkt, als ich mich in einem persönlichen Bewusstwerdungsprozess über politische Zusammenhänge befand. Das war so ein erster Markstein, von dem ausgehend ich dann ganz intensiv meine Theaterarbeit auf das Aufzeigen von Mißständen ausrichtete. In der Zeit als ich noch in Kellertheatern arbeitete, habe ich mich an politischen Programmen der Friedensbewegung oder irgendwelcher Parteien beteiligt.

Damals haben wir alte Lieder ausgegraben, die eindeutig mit Widerstand und Aufbegehren gegen die Obrigkeit zu tun hatten, Lieder von unterdrückten Leuten, Bauern meistens. Wichtig war immer, dass die Vergangenheit, die Geschichte, genau und nicht oberflächlich erkannt wurde.

Dazu kommt, dass ich auf dem Land in einer bäuerlichen Tradition aufgewachsen bin. Ich glaube, dass sich das immer wieder niederschlägt sowohl in der Art, wie ich Theater spiele, als auch in einem politischen Bewusstsein.

Spielt dieses politische Bewusstsein bei Ihrer Stückwahl eine große Rolle?

Ja, das schon. Das ist natürlich beim Theater noch relativ einfach, weil da sehr viel klassische Stücke gespielt werden, die sich im Lauf der Zeiten bewährt haben. Da fällt die Wahl nicht so schwer wie bei zeitgenössischen Stücken. Franz Xaver Kroetz zum Beispiel deckt sich mit meinem Verständnis von der Arbeit.

Wie kann denn in alten Bühnenstücken eine politische aktuelle Aussage zum Tragen kommen?

Von Brecht gibt es einen Ausspruch, der lautet: „Es kann revolutionär sein, eine Blume zu malen. Es kann aber auch Zeiten geben, in denen es Wichtigeres zu tun gibt als eine Blume zu malen.“ Ich glaube, dass wir Schauspieler nicht dafür da sind, lebenswerte Situationen zu bestätigen. Dann nämlich würde sich der Anspruch, Kunst zu machen, aufheben. Also wenn Gesellschaft so funktioniert, dass sie nicht mehr Anstoß an irgendwelchen Erscheinungsformen nimmt, dann brauche ich auch keine Kunst mehr machen. Dann gibt es keinen Anlass mehr dafür. Wir müssen einen Schmerz erzeugen, nicht einen Schmerz heilen. Beispielsweise der Brandner Kasper im Residenztheater, bei dem ich anfangs mitarbeitete, versucht eine heile Welt zu suggerieren, die es erstmal so gar nicht gibt. Insofern betreiben die natürlich auch Politik, bloß eine ganz andere Richtung, weil sie vielleicht sogar daran glauben, dass Bayern so schön ist, wie sie es darstellen. Aber, wenn ein bestehender Zustand durch ein Bühnenwerk sanktioniert wird, dann handelt es sich nicht um Kunst. Das ist völlig undenkbar.

An welche „bestehende Zustände“ denken Sie da?

Im eigenen Land stört natürlich erst einmal ganz enorm, dass zwar eine verfasste Demokratie besteht, das heißt, dass die Menschen immer wieder durch Wahlen über ihre Führungskräfte befinden können, was jedoch nicht wahrgenommen wird. Obwohl die Leute innerhalb der Gesellschaft oft massiven Unmut gegen die Entscheidungen der Oberen äußern, verhalten sie sich am Wahltag wieder genauso, als wäre ihnen nie Unmut aufgekommen. Es wäre eigentlich ganz einfach, eine Regierung abzuwählen, aber das funktioniert nicht. Das ist ein gesellschaftlicher Zustand, der mich schon auch bedrückt. Also, die Leute leben in einem Gefüge, in dem sie sich offenbar umfassend betrügen lassen, diesen Betrug zwischendurch instinktartig erkennen, aber die Möglichkeiten, die ihnen gegeben sind, den Betrug zu bekämpfen, nicht wahrnehmen.

Woran liegt das?

Die Unterdrückungsmethoden, oder nennen wir es moderner, die „Steuerungsmethoden“, die die Oberen entwickelt haben, um die Massen in ihrem Interesse zu steuern, haben sich immer mehr verfeinert. In der Monarchie gab es halt einen Einzelherrscher, dessen Befehle mit Gewalt ausgeführt wurden. Als das dann irgendwann nicht mehr funktionierte, gab es eine Demokratie, in der die Steuerungsmethoden nicht mehr so leicht erkennbar sind. Das ist etwas, worauf die Kunst ganz deutliche Hinweise geben kann.

Glauben Sie denn, dass diese Hinweise in der Öffentlichkeit auch verstanden werden?

Also man kann schon ein paar Kuckuckseier ins Nest legen, aber ich glaube nicht, dass das Theater oder die Schauspieler eine umfassende Veränderung oder ein Aufbegehren herbeiführen können. Das geht immer nur sporadisch. Der Anti-Apartheids-Protest im Residenztheater 1985 beispielsweise ist halt zu einer Art Skandal geworden, der sich für ganz kurze Zeit enorm aufblähte und dann genauso schnell wieder in sich zusammenbrach. Danach herrschte zwar fast so etwas wie eine Befriedigung. Einzelne Leute hatten wieder das Gefühl, dass sich etwas bewegt hatte und sie dafür in der Zukunft wieder nichts zu tun brauchten. Aber es gab auch viele Leute, die ich sehr schätze und für wichtig befinde, die das Aufbegehren des Theaterensembles gegen die Apartheid und die solidarische Stellung der CSU zum Beispiel ablehnten. Die den Protest also nicht aus den Gründen ablehnten, weil sie sagen, so etwas darf überhaupt nicht gemacht werden, sondern weil sie sagen, es wäre eigentlich nicht sehr effektiv gewesen. Weil der Skandal nichts anderes ist als die Katharsis der unruhig Gewordenen für die unruhig gewordene Bevölkerung.

Hatten Sie den Bühnenskandal geplant?

Nein. Das war eine spontane und emotionale Regung damals, weil es wirklich ein unerträgliches Moment war, dass in München während einer Tagung in der Hanns-Seidel-Stiftung Regierungsvertreter aus Südafrika eingeladen waren, obwohl in der UNO bereits Sanktionen gegen Südafrika debattiert wurden. Das war also eine unheimliche Provokation. Pier Paolo Pasolini hat einmal gesagt, es läuft zwar scheinbar alles daneben, aber gleichzeitig muss alles, was der Gesellschaftsapparat aufsaugt und verdauen kann, irgendwann auch wieder spürbar werden, weil es arbeitet und gärt. Insofern ist natürlich auch der Skandal etwas, was möglicherweise auf lange Zeit zur Sensibilisierung führen kann. Das ist die Dialektik des Skandals. Zuerst war die Flick-Geschichte, dann die Barschel-Pfeiffer-Geschichte. In einem halben Jahr wird wieder was Neues passieren und irgendwann kann es geschehen, dass die Leute reagieren und sagen, so aufrichtig sind die Politiker nicht, die uns mit Anzug und Krawatte etwas vorgaukeln.


Münchner Freisinn. Kostenlose Monatszeitung für Politik und Kultur 5 vom Mai 1988, 3 ff.

Überraschung

Jahr: 1985
Bereich: Kunst/Kultur