Materialien 1989

Schlichtweg arm

Wie viele Menschen in München krebsen am Existenzminimum herum? Ein Prozent, oder fünf, oder zehn? Richtig, mehr als zehn Prozent sind’s inzwischen, die gerade mal so viel Geld haben, dass sie noch halbwegs über die Runden kommen.

Mehr als 100.000 Münchner sind schlichtweg arm. Und keiner wills zur Kenntnis nehmen. Niemand in München weiß, wie viele Arbeitslose innerhalb der Stadtgrenzen leben (wer keine Unterstützung erhält, erscheint auch nicht in der Statistik), niemand weiß, wer alles Sozialhilfe bekommen müsste, weil etwa die Hälfte der Berechtigten aus den verschiedensten Gründen nicht zum Sozialamt geht, und die Beamten dort ihren gesetzlichen Auftrag, von sich aus und ohne Aufforderung Not zu lindern, nicht erfüllen können und manchmal auch gar nicht wollen.

„Neue Armut in München“ heißt eine Studie, die das Sozialreferat 1985 in Auftrag gegeben hat, um herauszufinden, wie viele Arme es in München tatsächlich gibt.

Die vorsichtige Schätzung kam schon 1986 zu einem Ergebnis von mehr als 83.000 Armen, und alle Fachleute sind sich einig, dass diese Zahl noch viel zu niedrig angesetzt war und heute, bei Steigerungsraten von teilweise bis zu zehn Prozent im Jahr, längst auf 100.000 angestiegen ist. Das Erstaunliche an diesen Zahlen ist nicht nur, dass sie so hoch sind, sondern dass sie Schätzungen sind: Im Zeitalter der Statistiken, in dem jeder Mist in Tabellen und Zahlenform gepresst wird, gibt es keine genauen .Zahlen darüber, wer arm ist und wer nicht.

Das macht es gewissen Leuten eben einfach, die Probleme wegzureden. Und das geht so: 50.000 Sozialhilfeempfänger? „Die sind nicht arm, die kriegen ja Geld“ (und zwar den Höchstsatz von 450 Mark im Monat). Alleinerziehende Mütter? „Die sollen doch heiraten“. Arbeitslose? „Wer arbeiten will, kriegt auch einen Job. Überhaupt: Haben Sie schon mal einen Armen gesehen?“

Das klingt alles verblüffend primitiv, nicht wahr? Und doch ist diese Diskussion (so ähnlich) im Sozialhilfeausschuss des Münchner Stadtrats gelaufen. Wobei man zur Ehrenrettung vieler Stadtratsmitglieder sagen muss: Das Monopol auf derartig feinsinnige Äußerungen gebührt einigen ganz Schlauen in der CSU-Fraktion.

Franz Kotteder


Münchner Freisinn. Kostenlose Monatszeitung für Politik und Kultur 4 vom April 1989, 8.

Überraschung

Jahr: 1989
Bereich: Armut