Materialien 1996

Auf ein Wort, deutsche Restlinke

Zu den Einwänden der Linken gegen die nationale Einheitsfeier in München

Neulich habt Ihr Euch in München gegen die zentrale Einheitsfeier der herrschenden Nationalisten aufgestellt und kein gutes Haar an ihr gelassen. Alternative Vorschläge zur Verbesserung des An-
schlusswerks kamen Euch erst gar nicht in den Sinn, weil Ihr dieses Projekt rundum ablehnt. Da-
mit seid Ihr in dieser gleichgeschalteten Republik ziemlich einzigartig.

So weit, so gut. Bloß, ob Euer radikales Nein zur deutschen Einheit und ihren Folgen auch eine prinzipielle Absage an Nationalismus und Marktwirtschaft ist, muss man bezweifeln, wenn es in Eurem Aufruf heißt:

„Die Herrschenden in diesem seit 1989 wieder größer gewordenen Land haben hemmungslos alle Nachkriegs‚fesseln’ fallen gelassen. Sie stellen mittlerweile gänzlich unverblümt offen deutsche Großmachtansprüche.“ (Demo-Aufruf zum 3. Oktober).

Mal im Ernst, trauert Ihr wirklich den verflossenen Zeiten der Bundesrepublik und ihrer NA-
TO-„Fessel“ nach? Diesen Zweck, Deutschland zu beaufsichtigen, hatte doch das transatlantische Bündnis nie. War nicht seit 1949 die Wiedervereinigung „ganz offen“ oberstes Staatsziel? Wer hat sich denn unter dem Schutz des Ami-Atomschilds zum Exportweltmeister gemausert? Mit und in Konkurrenz zu ihren NATO-Partnern ist die BRD lange vor der deutschen Einheit groß geworden. Dort, wo heute die vereinte Republik als Weltmacht steht, wäre sie nie hingekommen, wenn sie nicht vor der Einheit soviel Machtmittel und -ansprüche angesammelt hätte.

Doch dass die Bundesrepublik von gestern erst auf dem Weg zur Großmacht war, wird ihr von Euch als „kleineres Übel“ fast positiv angerechnet. Halb so schlimm angesichts ihres aktuellen Erfolgs, lautet da Euer Urteil. Entsprechend war das Motto Eurer Demo, wobei Ihr so tut, als ob Euch irgendwer fragen würde und Ihr dann dankend ablehnen könntet: „Weltmacht, nein danke!“ Ihr müsst Euch aber im klaren sein, dass das heißt: Darunter aber immer! Und das ist schon ein komischer Antinationalismus: Mehr als die Sehnsucht nach einer etwas kleineren, niedlicheren und damit harmloseren Nation kommt dabei nicht raus.

Als ob die „alte BRD“ so gemütlich gewesen wäre. Offensichtlich verklärt sich da bei Euch die Ver-
gangenheit ein wenig. Man muss sich das Deutschland vor der Einheit schon entsprechend ideal vorstellen, damit man ihm den heutigen Stand des deutschen Imperialismus vorhalten kann. Kon-
sequent verkehrt weitergedacht ist es, wenn Ihr den aktuellen Zustand der Nation darüber beson-
ders kritikabel findet, weil er der „dritte Anlauf des großdeutschen Traumes zur Weltmacht“ ist (als ob das nicht vor 1989 der Fall gewesen wäre), also das ,Jetzt“ sich zu was noch „Schlimmeren“ entwickeln könnte. Jedenfalls ist schon abzusehen, wie Ihr morgen zum Verfechter des heute Kri-
tisierten werdet.

Das ist allerdings auch kein Wunder, wenn man sich Eure „antikapitalistischen Einwände“ mal genauer ansieht: Nicht die realen Zwecke von Staat und Kapital interessieren Euch, sondern das Auffindigmachen von lauter Unrecht und Schuldigen:

„Das deutsche Kapital feiert seinen Siegeszug in der größten Enteignungs- und Demontage-Kam-
pagne seit dem 2. Weltkrieg. Dazu hat es den zehnt größten Industriestaat der Erde plattgewalzt, 80 Prozent der Industrie-Beschäftigten arbeitslos gemacht, Millionen Biographien schlichtweg abgewickelt und dabei die 600 Milliarden errechneten Volksvermögens der einverleibten DDR zu 270 Milliarden Schulden veruntreut .. Die Regierung bürdet die Rechnung für diesen Raubzug auch noch den Armen und kleinen Leuten auf und denen, die noch arbeiten ‚dürfen’ … Die Reichen erklären Arbeitslose und Kranke, Sozialhilfe-Empfänger und Behinderte zu ‚Schmarotzern’ … Die Banken und Konzerne fahren angesichts der größten Massenarbeitslosigkeit … die höchsten Ge-
winne ihrer Firmengeschichte ein …“ (ebenda).

Hier tut Ihr ja fast so, als ob diejenigen, die Ihr eh schon immer auf dem Kieker hattet, seit der Wiedervereinigung ihre wirkliche Fratze erst zeigen würden: Hemmungs- und rücksichtslos lassen die Herrschenden, das deutsche Kapital, die Reichen, die Banken und Konzerne, die Regierung, der Staat, der Kanzler, die Nazis, Polizei und Justiz die Sau „auch noch“ gegen die Ärmsten der Armen raus. Fragt sich bloß: Gegen wen denn sonst? Dass westdeutsche Politiker und Kapitalisten sich wie „Raubritter“ (Eva Bulling-Schröter, MdB PDS) aufführen, halten wir für eine gigantische Verharmlosung. Für was soll denn dieses mittelalterliche Bild stehen? Etwa dafür, dass die Herren Unternehmer übers Ziel hinausgeschossen sind? Wollt Ihr vielleicht ein Plädoyer für einen zivile-
ren und sanfteren Umgang der Herrschenden mit ihren Opfern halten? Wer sollte eigentlich deren Rücksichtslosigkeit bremsen? Doch nicht etwa die Politik? Oder meint Ihr einfach, dass das deut-
sche Kapital, weil deutsch, die Inkarnation des Bösen schlechthin ist? So als ob deutsche Unter-
nehmer die Profitgier bereits in den Genen hätten?

Offensichtlich wollt Ihr nicht zur Kenntnis nehmen: die Übernahme der DDR mitsamt Einführung der kapitalistischen Produktionsweise, ist von der Sache her eine rücksichtslose, notwendig zer-
störerische Angelegenheit, ist ohne das Plattmachen der „Erfolge des realen Sozialismus“ nicht möglich. „600 Milliarden errechnetes Volksvermögen“ sind im Kapitalismus einen Dreck wert, wenn es sich nicht verwerten lässt, weshalb der ehemalige realsozialistische Reichtum konsequent mitsamt „Millionen Biographien abgewickelt“ wird, ob man das gut findet oder nicht. Und dazu brauchts den rigorosen Einsatz staatlicher Gewalt. Die hat mit Einigungsvertrag und Einführung der DM dafür gesorgt, dass nur noch die Arbeit angewendet wird, die sich rentiert und zwar im Weltmaßstab. Dafür war die Treuhandanstalt und sind ihre Nachfolgeorganisationen gut! Von wegen „Veruntreuung“! An dieser Stelle könntet Ihr mal wieder zur Kenntnis nehmen, dass Kapi-
talismus und demokratische Staatsgewalt Arbeitslosigkeit und Verarmung der Massen notwendig zur Folge haben. Diesen Zusammenhang leugnet Ihr nämlich, wenn Ihr Euch den Kapitalismus als riesige Anhäufung von Exzessen ausmalt: Die Ärmsten der Armen, die Wehrlosesten und die Un-
schuldigsten trifft es bei Euch immer. Diese Sauereien sind so unwidersprechlich schlecht, dass sie nicht einmal der wüsteste Antikommunist gutheißen könnte. So wollt Ihr wieder einmal größt-
mögliche Betroffenheit schaffen
, damit sich auch jeder bei Euch einreihen kann. Wenn das kein Opportunismus ist!

Aber die nationalistischen Untertanen zu kritisieren, die das alles bereitwillig mitmachen, ist halt nicht Eure Sache, eher schon läuft es bei Euch auf die Verniedlichung kapitalistischer Verhältnisse hinaus: Die Normalität des demokratischen Kapitalismus, die ja den Grund für die „Exzesse“ ab-
gibt, also das tagtägliche Lohnarbeiten, taucht gar nicht mehr als kritikabel auf. Kapitalismus ist bei Euch eben nur noch eine einzige Ansammlung von Abweichungen, die ihre Gründe in der abso-
lut bösen Gesinnung von Konzernherren und Bänkern haben sollen. Die bestimmen laut Eurer Analyse recht eigentlich, was im Lande abläuft:

„Das Primat liegt nicht in der Politik, sondern bei den Banken und Konzernen“ (Sahra Wagen-
knecht bei der Veranstaltung „Einheitsopfer und Einheitsprofiteure“ im DGB-Haus München).

Seid Ihr eigentlich noch bei Trost? Kohl, Schröder etc. und die Ämter, die sie bekleiden – Opfer des großen Kapitals? Einen Mangel an souveräner staatlicher Gewalt beklagt Ihr? Mal ehrlich, glaubt Ihr denn wirklich, dass ein Kohl zur Politik genötigt werden muss, die er tagtäglich gegen die Leute durchsetzt? Der Dienst an der Nation ist nun mal Kohls Beruf. Und den Job bewältigt er prächtig. Für was anderes taugen auch die Institutionen dieser Republik nicht. Für Hinz und Kunz sind sie jedenfalls nicht gedacht. Nichtsdestotrotz haltet Ihr an der selber erfundenen eigentlichen Zweck-
setzung der demokratischen Instanzen ausgerechnet da fest, wo diese ihre Gewalt unbeirrt einset-
zen, indem sie Land und Leute (in Ost und West) für den unbedingten Erfolg der Nation auf dem Weltmarkt zurichten. Aber Kohls „blühende Landschaften“ stehen nun mal unmissverständlich für nichts anderes als den Anspruch der Machthaber in Bonn, ihr Interesse an der Vergrößerung ihres Herrschaftsgebietes als Dienst am Volk auszugeben; und sie verbitten sich damit im Namen dieses höheren Auftrags jeden Einspruch gegen ihr Projekt.

Kurzum, dass dabei notwendig die Interessen der Arbeiter auf der Strecke bleiben, „also denen genommen wird, die eh nichts haben, … kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten“ (Sahra Wagen-
knecht)
entspringt, sollte man schon mal festhalten. Bloß dann müsste man sich ja das System richtig erklären, die Suche nach Schuldigen abblasen, den Stamokap verwerfen und sich somit vom Ideal einer kleineren und sozialeren Republik, die in den richtigen Händen liegt, verabschie-
den. Sonst bleibt Ihr die ewig dem aktuellen Stand deutscher imperialistischer Politik hinterher-
hinkende Mannschaft, die nichts weiter als die jammernde Begleitmusik dazu abgibt. Aber viel-
leicht wollt Ihr ja nichts anderes!

Eure Landplage


Landplage 15 vom Oktober 1996, 11.

Überraschung

Jahr: 1996
Bereich: Alternative Szene