Materialien 2011
Auslandsbericht
Sprecher (aufgeregter Vortrag mit gehetzter Telefonstimme, im Stil sattsam bekannter Kriegsbe-
richterstattung):
„Und nun: Der Aufstandsbericht. London. Vier Nächte in Folge haben Jugendliche massenhaft gegen die Regierung und ihre undemokratische Sparpolitik demonstriert. Die Upperclass der Reichen und Mächtigen soll von geplanten Kürzungen und Steuererhöhungen konsequent ausge-
nommen bleiben. Das brachte die Bevölkerung in Rage und auf die Straße. Die Wut einer ganzen Generation auf die Herrschenden, die seit Jahrhunderten das Gefälle zwischen Arm und Reich auf die Spitze getrieben haben, entlud sich in machtvollen Demonstrationen, die schließlich zu regel-
rechten Straßenschlachten führten. Dabei gelang es Rebellen in mehreren Stadtvierteln Feuer zu legen und sich gegen die heranstürmende Polizei zu behaupten. In Tottenham wurde ein ganzer Häuserblock in Brand gesteckt. Das Regime schlug mit aller Härte zurück. Mit Tränengas und Schlagstöcken versuchte eine inzwischen auf 16.000 Mann verstärkte Polizei die Aufständischen auseinanderzutreiben. Doch wo immer diese zerstreut wurden, sammelten sie sich an anderen Orten aufs neu. Die junge Bewegung aus den Vorstädten nutzte für die Koordination ihres Auf-
stands Blackberrys und Handys, um sich zu militanten Aktionen zu verabreden. Wie schon in Ägypten und Tunesien, in Syrien, in Bahrein, im Jemen, in Spanien, in Griechenland, neuerdings in Chile und sogar in Israel sieht die Welt weitgehend tatenlos zu. Inzwischen erwägt London den Einsatz von Wasserwerfern und sogar von Militär. Wie lange sich die Oppositionellen in den nächtlichen Straßen britischer Städte gegen das Regime in der Downing Street werden halten können, hängt davon ab, ob sich die Weltgemeinschaft wie im Falle von Libyen zu einem gemein-
samen, entschlossenen Handeln wird durchringen können. – Danach sieht es im Moment jedoch nicht aus. (Nicht einmal der Vatikan wäre bereit, seine Schweizer Garde gegen die alles beherr-
schende romfeindliche Anglikaner-Clique in Marsch zu setzen.) Weit und breit scheint niemand den in die Enge getriebenen Aufständischen zu Hilfe zu kommen und einen Regimewechsel mit militärischen Mitteln zu erzwingen, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Ob die Weltgemeinschaft soweit zu gehen bereit ist, die Lufthoheit von Premierminister Cameron durch die Errichtung einer Flugverbotszone bis hinauf nach Schottland einzuschränken, ist mehr als fraglich. Immerhin wur-
de humanitäre Hilfe zugesagt in Form von Fischkuttern, die im Ärmelkanal nach havarierten Flüchtlingen Ausschau halten sollen. Auf Waffenlieferungen warten die Rebellen bislang verge-
bens. Ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes sagte unserem Berlin-Korrespondenten hinter vor-
gehaltener Hand: „Zwar wäre die jetzige Destabilisierung der Verhältnisse auf der Insel eine gün-
stige Ausgangslage, London doch noch in den Euro zu zwingen, aber eine militärische Invasion halten wir für eine Schnapsidee, an der wir uns nicht die Finger verbrennen sollten. Der Einsatz von Bodentruppen in den engen Straßen ist ohne schwere Artillerie viel zu brisant und daher völlig ausgeschlossen“. Außerdem sei die Bundeswehr in Afghanistan gebunden, um die dortigen Auf-
ständischen niederzuschlagen. Umso dringlicher wäre es, dass die NATO schnellstmöglich ein ge-
eignetes und tragbares Eingreifkonzept erarbeitet. Der UN-Sicherheitsrat immerhin stünde mo-
mentan unter deutschem Vorsitz. Die Initiative läge also durchaus bei der Berliner Regierung. Soweit unser Korrespondentenbericht, telefonisch aus London.“
Zweite/r Sprecher/in (peinlich berührt): „Es tut uns leid, aber unser Korrespondent war offenbar zu lange in die Libyen-Berichterstattung involviert und hat scheinbar noch nicht umgeschaltet. Wir bitten diese Panne zu entschuldigen.“
Aus dem Sketch fürs „Fest der Solidarität“ von Christiane und Wob am 17. September 2011 auf dem Rotkreuzplatz.