Materialien 2011
Liebe ist für alle da!
Wenn wir auch in vielem nicht übereinstimmen, so scheint es in der öffentlichen Meinung doch einen Konsens zu geben. Diese Stadt braucht keine rechten Demagogen, keine, die das Dilemma der Finanzkrise an ausländischen Werktätigen festmachen, die „in Scharen unsere schöne Stadt überschwemmen“ oder auf Griechen einprügeln, „die einfach nicht wissen, was es heißt zu arbei-
ten“.
Wenn Rechtsextreme eine Kundgebung anmelden, stehen sie nebeneinander, der Handwerker, die Rentnerin, der Punker, die Fachverkäuferin; sie bilden einen bunten Querschnitt der Stadtgesell-
schaft und demonstrieren gegen Rechts.
Das ist Kultur, vor allem auch Kultur.
Eine eigenartige Gitterkonstruktion mit vier weit geöffneten Eingängen erstaunt am Vormittag des 15. Oktober 2011 den verwunderten Münchner, der zum Zwecke des Protestes gegen Rechts auf den Sendlingertor-Platz geeilt ist. Hier sollen die Republikaner (Rep) ihre Kundgebung abhalten? Weit und breit keiner zu sehen! Einige Polizisten stehen gelangweilt herum. Seltsam, vier weit geöffnete Eingänge. Vorne bei der Sendlinger Straße steht ein Zug des düster gekleideten Unter-
stützungskommandos (USK).
Die Gegendemonstranten unterhalten sich, wärmen sich in der Sonne. Bis jemand ruft, „los, mia gengma“ und dann zieht die Spontandemo zum Marienplatz. Etwa hundert sind wir, flankiert vom USK gehen wir Parolen rufend durch die Sendlinger Straße. Tatsächlich, auf dem Marienplatz be-
findet sich ein abgesperrtes Karree der Reps. Die Antifas besetzen die Plätze an der Ostseite der Absperrung. Sofort plaziert sich direkt daneben das USK.
Die überwiegende Mehrzahl der Zuhörer lehnt die Reps ab. Der erste, eher uneloquente Rep-Red-
ner wird ausgebuht, mit Pfiffen bedacht; es ertönen Sprechchöre, naturgemäß auch von Seiten der Antifa, darunter viele Punks. Das USK rückt näher. Bei der Polizeiführung ist hektische Betrieb-
samkeit zu erkennen.
Nachdem der Rep-Redner seine hilflosen Ausführungen kläglich beendet, tritt ein forscher Agita-
tor hinter das Mikrophon und erwähnt lautstark als erstes, dass die hier auftretenden Störer doch noch nie gearbeitet hätten und eine Schande wären usw. Naturgemäß nehmen daraufhin die Rufe „Haut ab!“ und „Nazis raus!“ ebenfalls an Lautstärke zu. Trillerpfeifen lärmen. Das USK rückt näher. Leitende Polizeibeamte deuten auf verschiedene Gegendemonstranten. Offenbar werden diese damit „markiert“.
Ein Lautsprecherwagen der Polizei fährt auf. Eine Beamtin spricht: Hier sei eine nicht angemeldete Kundgebung im Gange. Die Polizei werde diese Kundgebung selbstverständlich schützen. Sie for-
dere aber den Verantwortlichen der Kundgebung auf, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen.
Diese Durchsage erzeugt allgemeine Verwirrung. Einige meinen, damit seien die Reps gemeint. Aus den Reihen der Gegendemonstranten ertönt „Ein Hoch der Polizei“. Andere Gegendemon-
stranten vermuten, dass mit der Durchsage der etwas unübersichtliche, sich auf der Ostseite der Absperrung massiert befindliche Antifa-Haufen angesprochen werde. Die Verwirrung ist so groß, dass zunächst sich niemand äußert. Auf dem Marienplatz herrscht beinahe betretenes Schweigen.
Die Polizistin wiederholt ihre absurde Durchsage. Eigentlich ist doch klar, dass die Gegendemon-
stranten keine eigene Kundgebung veranstalten und dass da schon gar kein Verantwortlicher sein kann. Und die Reps meint sie ganz sicher nicht. Stumme Ratlosigkeit lastet schwer auf dem Mari-
enplatz. Das USK rückt näher.
Immer noch ist es ziemlich ruhig. Zum dritten Male spricht die Polizistin aus dem Lautsprecher-
wagen. Sie will endlich einen Verantwortlichen sprechen. Aber da schreit wieder der Rep-Führer und die Trillerpfeifen ertönen und Parolen werden gerufen „Hau ab“.
Eine kleine Gruppe des USK sticht in die Gruppe der Antifas und führt einen Mann ab. Es wird wieder ziemlich laut auf dem Platz. Vom Rathaus her kommt eine junge Dame. Sie verteilt Flyer. Auch ich nehme einen. Im gleichen Moment eilt ein geschäftiger Polizist herbei: „Gems ma a oan!“ Die junge Dame – es ist Julia Killet, die Regionalmitarbeiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung Bayern – gibt ihm freundlich das geforderte Papier.
Das ist die Vorderseite und dies hier unten die Rückseite des Flyer:
Der Mann liest hektisch, dreht und wendet das Blatt, um dann erregt herauszuplatzen: „Jo, do is ja gar koa presserechtlich Verantwortlicher net drauf. Des is fei net in Ordnung!“ Ein zweiter Polizist eilt herbei. Es kommt zu einem längeren Disput. Julia Killet erklärt lang und breit, dass der Flyer in Berlin gedruckt wurde, dass doch völlig klar sei, von wem er stamme, dass die Stiftung und alle Veranstalter darauf zu lesen seien …
Der Polizist barsch: „Vom boarischen Pressegesetz her geht des ja übahaupts gar net, wenn da koa presserechtlich Verantwortlicher net drauf is.“ Ein Vorgesetzter wird zu Rate gezogen. Während-
dessen brüllt nebenan der Rep-Führer seine Parolen, protestieren Gegendemonstranten, werden Gegendemonstranten abgeführt.
Schließlich erfolgt die Aufforderung an Frau Killet: „Sie kemman jetzt mit zur Personalienfeststel-
lung.“ Ganz offenbar handelt es sich hierbei um die sogenannte „Ingewahrsamnahme“, um einmal die Identität der Täterin festzustellen und um dann natürlich die inkriminierten Gegenstände „si-
cherzustellen“. Ich gehe mit Frau Killet mit, was die Beamten einigermaßen stört, und so trotten wir, martialisch flankiert und neugierig vom samstäglichen Konsumpöbel bestaunt, zum Rinder-
markt.
Hier stehen mehrere Polizeifahrzeuge, zwei mit orangen Fähnchen mit der Aufschrift „GeSa“ ver-
sehen auf dem Dach, offenbar ein weiblicher Vorname, eine lustige Bezeichnung für eine Polizei-
abteilung, finde ich. Auf Nachfrage erfahren wir, das sei die Abkürzung für „Gefangenensammel-
stelle“. Ein Blick auf den Alten Peter: Inzwischen ist es Viertel nach 12 Uhr.
Wir werden an eine der Wannen geführt, Frau Killet wird darauf hingewiesen, dass sie ihre Hände nicht in ihrer Jackentasche aufwärmen dürfe. „Zoagns Ihre Händ und jetzt stelln Sie sich dahin“, sie wird leibesvisitiert – da könnten sich ja mordsgefährliche Waffen an der Dame befinden – und Polizistenfinger durchwühlen ihre Handtasche. Dann geht es darum, Auskünfte zu erteilen. Wer sie sei, wo sie wohne, wo ihr Ausweis sei, wer ihr die Flyer gegeben habe, ach so, sie habe die selber in Auftrag gegeben, „des is ja komisch, Sie verteiln die seiba, die Flyer?“
Währenddessen werden links und rechts von uns weitere Ingewahrsamgenommene ausgefragt, belehrt, fotografiert. Und das in einer nachgerade aufreizenden Langsamkeit. Frau Killet fragt mich, „Sag mal, täusche ich mich da, sind hier nicht vor allem junge Punkerinnen, die da ‚behan-
delt’ werden?“ Es ist auch mein Eindruck, den ich nicht zum ersten Male habe – es sind vor allem junge und vor allem weibliche Gegendemonstranten, die hierher gebracht werden. Warum, kann vermutlich nur der Psychologe beantworten.
Sinn und Zweck der ganzen Inszenierung: Leute festhalten, abführen, ihnen die Grenzen aufzeigen, sie zurecht weisen, ihnen zeigen, wo der Bartel den Most holt, sie zermürben, sie vereinzelt inquisi-
torisch befragen, sie demütigen, einschüchtern, natürlich ihre Identität feststellen und sie in der GEHEIMEN GROSSEN DATENBANK für alle Ewigkeit und Eventualitäten aufbewahren. Später, Jahre später hörst du dann: „Mir wissma genau, wer Sie san, Sie san bei uns koa Unbekannter net, Sie kenn ma scho, gei!“
Inzwischen ist eine Stunde vergangen. Frau Killet hat alles gesagt. Sie würde jetzt gerne wieder gehen. Aber es reicht noch lange nicht. Sie muss ins Röhrchen pusten, aber der Stunden zuvor genossene, naturtrübe Apfelsaft gibt wenig Promille her. Schließlich wird sie fotografiert. Ich bin ziemlich erstaunt, dass sie immer noch ausgesprochen freundlich mit den Polizisten spricht.
Ich spreche einen Beamten an, rede von Verhältnismäßigkeit der Mittel, von Ermessensspielraum, sage ihm, dass das hier nur noch lächerlich ist. Er erwidert grob, dass sie dies täten gemäß dem neuen Polizeiaufgabengesetz (PAG): „Mia macha des, weis Gsetz des so wui.“ Einspruch mächtig abgeschmettert! Aber eins denk ich mir dann schon über meine Intervention: Nützts nix, so schods aa net.
Die beschlagnahmten Flyer werden gezählt. Im Protokoll kann Frau Killet auch entscheiden, ob sie mit der „Sicherstellung“ der Flyer einverstanden ist oder nicht. Das ist echt demokratische Wahl-
freiheit. Sie ist nicht damit einverstanden. Die Prozedur zieht sich hin. Über uns dreht sich das orange Fähnchen mit der Aufschrift „GeSa“.
Durch die Fenster der Wanne neben uns sehen wir ein zwölf- bis vierzehnjähriges junges Mädchen mit bunt gefärbten Haaren, das ziemlich verloren aussieht. Auf seinem T-Shirt steht „Liebe ist für alle da“. Wir zwinkern ihm zu und winken, das Mädchen winkt vorsichtig zurück.
Gedanken, die einem da kommen: Wegen einer Lappalie tritt diese Uniform dir entgegen, baut sich vor dir auf, macht dir klar, dass du immer noch in der „Ordnungszelle Bayern“ haust, dass du wie-
der mal eine dieser Tausende von Vorschriften nicht beachtet hast, dass du nachlässig warst, dem fürsorglichen Ordnungswillen und –wollen des „Frei“staates, der ja nur dein Bestes will, wieder nicht genüge getan hast, und du hörst, „I muss Sie belehrn, so gehts net, kommens mit, bleibens da stehn, machens jetzt Angaben zur Person, gengans weida …“.
Dieser Tonfall ist so unerträglich, so arrogant, selbstgerecht und übergriffig, dass ich immer mehr verstehe, wenn Freundinnen und Freunde von mir ganz ernsthaft planen, auszuwandern. Nur weg aus diesem Land, weit weg! Weg von einem Land, in dem alles, was nicht ausdrücklich erlaubt wurde, ganz offensichtlich VERBOTEN ist.
Und am End seids nur noch unter Euch, gell, denk ich mir. Und ich frage mich: Bin ich eigentlich dazu auf der Welt, um mich die ganze Zeit mit Geboten und Verboten auseinandersetzen zu müs-
sen? Klare Antwort: Nein! MIA GLANGTS! Mia woin von Eich gar nix, lassts uns doch einfach nur in Ruh, Ihr Polizisten, Staatsanwälte, Richter, Innenminister …
Der Zeiger auf der Turmuhr vom Alten Peter geht auf zwei Uhr. Frau Killet unterschreibt das Pro-
tokoll, bekommt den vorschriftsmäßigen Durchschlag und ist gnädig entlassen.
Julia Killet ist erst seit kurzer Zeit im schönen München. Sie hat gestaunt. Und vermutlich bleibt sie auch noch ein paar Monate, weil sie von München und Bayern noch nicht alles kennt.
Günther Gerstenberg
Münchner Lokalberichte 22 vom 27. Oktober 2011, 8 f.