Materialien 1993

»Planvoll auf der Erkenntnis fußend«

Name: Schlickenrieder, Manfred
Wohnort: München
Alter: 54
Beruf: BND-Agent
Deckname: »Camus«
Einsatzort: Europa
Einsatzzeitraum: 1976 – 2.000
Einsatzziel: westeuropäische Linke

Bis Ende November 2000 konnte man in München unter der Telefonnummer 089-6116216 die »gruppe 2, Video- und Filmproduktion« und ihren Chef Manfred Schlickenrieder erreichen. Danach meldete sich nur noch ein Anrufbeantworter – man möge seine Rufnummer hinterlassen. Ab Dezember warnten linke Gruppen davor, dies zu tun. Denn sie hatten herausgefunden, dass der Dokumentarfilmer Manfred Schlickenrieder unter dem Decknamen »Camus« als Spitzel eines transnational agierenden Geheimdienstnetzwerkes arbeitete, dessen Ziel laut junger welt »die Ausspähung des tatsächlichen oder vermeintlichen politischen >Umfelds< der bewaffnet kämpfenden Linken in Westeuropa war«. Zudem betätigte sich Schlickenrieder als von Ölkonzernen bezahlter Agent des Neoliberalismus.

Die politische Lebensgeschichte Schlickenrieders beginnt in München, 1975/76 war er bei der maoistischen KPD/ML. Im Tagesspiegel schrieben Otto Diederichs und Holger Stark: »Ende 1975 war Schlickenrieder jedenfalls nach einem mühseligen Prozedere in die Rote Hilfe sowie den Kommunistischen Studentenbund eingetreten, eine jener linken K-Gruppen, die es in den 70ern im Dutzend gab. >Anfang März kam dann der Verfassungsschutz<, erinnerte sich Schlickenrieder an das Frühjahr 1976. >Ich habe den Typen ausgehorcht<, und als der sich erneut meldete, >sagte ich ihm, er solle zum Teufel gehen<. Oder auch nicht. Die Genossen wurden jedenfalls misstrauisch und Schlickenrieder musste aus allen Organisationen austreten. Er zog sich zurück und näherte sich statt dessen dem RAF-Umfeld an, wo er Kontakte zu Sympathisanten aufbauen konnte. Der Verdacht schien im Sande zu verlaufen.«

Anfang der 80er Jahre gründet er in München das »Dokumentationsarchiv >gruppe 2«<. Bemerkenswert war, dass diese Firma mit Filmaufnahmen und Videoverleih Geld verdienen wollte und sich dadurch von den damals aus dem Boden sprießenden autonomen Medienwerkstätten unterschied. Das Projekt sollte sich, so Diederichs und Stark, als »perfekte Legende [erweisen]: Unter dem Deckmantel, linke >Gegenöffentlichkeit< gegen die Staatspropaganda herzustellen, kam Manfred Schlickenrieder überall dort mit Kamera und Mikrofon herein, wo für Polizei und normale V-Männer Schluss war: Bei illegalen Besetzungen, internen Veranstaltungen oder italienischen Sympathisanten der >Roten Brigaden<. Über die Jahre entstand so ein Bildarchiv linksradikaler Aktivisten, eine Art internationale Steckbriefsammlung.«

Auch die Gruppe »Kein Friede« bezeichnet in ihrer Einschätzung des Falls Schlickenrieder die Dokumentaristenverkleidung als eine »für den Zweck und Auftrag geniale Konstruktion. Zum einen verbot sich von vornherein die Frage nach einer eigenständigen politischen Praxis und Organisierung. Sie war beantwortet: der Archivar und Dokumentarist begleitet den Kampfprozess, aber er initiiert und bestimmt ihn nicht – höchstens die Rezeption. In diesem Fall bei den Stellen, die ihn beauftragten und seine Einschätzungen und Bewertungen in Lageberichte oder vielleicht auch operative Pläne einfließen ließen.«

Zunächst war die Verbreitung linksradikaler Texte aus Italien ein Schwerpunkt der »gruppe 2«, beziehen konnte man auch Filme und Bücher. Im Laufe der 80er Jahre gab die »gruppe 2« eine texte genannte Zeitschrift heraus, in der Dokumente nordamerikanischer politischer Gefangener oder Diskussionen der Brigate Rosse übersetzt veröffentlicht wurden. Diese Broschürenreihe existierte bis Mitte der 90er. Es steht zu vermuten, dass die italienischen Textsammlungen mit Hilfe eines – staatlichen – Übersetzungsdienstes ins Deutsche übertragen wurden. Mit eigenen Stellungnahmen hielt sich Schlickenrieder in diesen Broschüren zurück. Wenn er sich mal zu Wort meldete, versenkte er die Leserinnen in einem altbackenen Kauderwelsch, das er vermutlich noch bei der KPD/ML gelernt hatte: »Die sozialistische Umwälzung unterscheidet sich prinzipiell von allen anderen Revolutionen dadurch, dass sie nicht nur spontan oder reagierend erfolgt, sondern mit Vernunft – also planvoll – in Angriff genommen und betrieben wird. Das setzt aber auch die >vernünftige< – also planvoll auf der Erkenntnis fußende – Bestimmung des Willens dazu bei ihren Subjekten voraus.«

Das erste Filmprojekt der »gruppe 2« thematisierte die Brigate Rosse, mehrmals reiste »Camus« nach Rom. Der Film wurde nie fertig, aber das war auch nicht wichtig. Im Gegenteil: Ende der 90er Jahre schlug Schlickenrieder seinen Hintermännern in einem internen Papier eine Wiederaufnahme des Projekts vor: »Über die Ergänzung durch Interviews und Gespräche könnten beliebig und unmittelbar direkte Kontakte in nahezu alle Bereiche aufgenommen werden.« Auf Empfehlung einer ehemaligen politischen Gefangenen wurde er wegen »seiner internationalen Kontakte« 1994/95 eine Zeitlang Mitglied der Kampagne »Libertad!« Mit der Schweizer Gruppe »Revolutionärer Aufbau« gab die »gruppe 2« eine deutsche Fassung der italienischen Zeitschrift Rapporti Sociale heraus. Ebenfalls für die SchweizerInnen produzierte die »gruppe 2« einen Film über die britischen Dockerstreiks, zu deren Unterstützung der »Aufbau« eine Solidaritätskampagne ins Leben gerufen hatte.

Nachfragen zu dem eigentümlichen Namen »gruppe 2« beantwortete Schlickenrieder dahingehend, dass es sich ursprünglich um eine klandestine Struktur gehandelt habe, die nach dem »Deutschen Herbst« 1977 gegründet worden sei. Wegen befürchteter polizeilicher Repression solle sie nicht offen auftreten, er sei der einzige, der das tue. Die Legende einer Dokumentationsstelle öffnete Manfred Schlickenrieder viele Türen. Ohne erkennbare eigene politische Aktivitäten konnte er sich im antiimperialistischen Spektrum Westeuropas relativ frei bewegen. Als »geschickt und geheimdienstlich wertvoll« bewertete »Kein Friede« auch das von Schlickenrieder an lokale Münchener Gruppen unterbreitete Angebot, bei der »gruppe 2« Postadressen einzurichten. Das sparte Mühe – »Camus« bekam so z.B. die Post einer Antifagruppe direkt auf den Tisch. Das rief zwar den polizeilichen Staatschutz ins Haus, nachdem besagte Antifa Fahndungsplakaten nachempfundene Steckbriefe von Zivilbullen veröffentlichte, diente aber zugleich als Beweis für die Bedrohung durch polizeiliche Repression.

Schlickenrieder wertete seine Aktivitäten akribisch aus. Die mit »Camus« unterschriebenen Dossiers und Protokolle konzentrieren sich, so »Kein Friede«, »stark auf die politischen Positionen der bespitzelten Genoss/innen. Es werden Äußerungen zum bewaffneten Kampf und andere Fragen zitiert oder darüber Vermutungen angestellt. Aufgelistet werden alle in Erfahrung gebrachten Verbindungen und Kontakte in jeweils andere Länder; teilweise mit recherchierten Adressen und Telephonnummern.« AktivistInnen des »Revolutionären Aufbau« entdeckten nicht nur Namenslisten, in denen Hunderte Linke mit Anmerkungen zu ihren Verbindungen und Aktivitäten festgehalten waren, sondern auch ihre eigenen Frontal- und Profilansichten in einem fast vollständigen elektronischen Fotoarchiv, das aus zuvor angefertigten Filmaufnahmen zusammengestellt worden war. Archivierungskennzeichen lassen darauf schließen, dass es sich nur um einen Bruchteil des Gesamtarchivs handelte. »Kein Friede« weist darauf hin, dass Schlickenrieder bei Veranstaltungsreihen zu dem von ihm gemeinsam mit ehemaligen RAF-Gefangenen produzierten Film »… was aber wären wir für Menschen« »unzählige Veranstaltungen in verschiedenen Städten und Aktivitäten von Solidaritätsgruppen und der Angehörigen« aufgenommen habe, was »einige hundert Leute [betreffe], die – im Vertrauen auf die Integrität der Veranstalter – diese Mitschnitte tolerierten«. Darüber hinaus habe »die Schiene beabsichtigter Filme zahlreiche Kontakte« eröffnet, u.a. zur »Roten Hilfe über einen gemeinsam zu produzierenden Film«.

Bei Schlickenrieder gefundene Papiere, beispielsweise Lageberichte des italienischen Geheimdienstes SISDE, aus der BRD Listen der Post- und Besuchsüberwachung bei den RAF-Gefangenen Birgit Hogefeld und Eva Haule oder eine Zusammenfassung des Bundesamtes für Verfassungsschutz über Telefon- und Kontaktobservation vermeintlicher Mitglieder der französischen »Action Directe«, waren geheim und behördeninternen Ursprungs. Das begründet die Vermutung, dass Schlickenrieder ein sehr hoch angesiedelten Spitzel gewesen ist. Dafür spricht auch, dass er monatliche Fixkosten von etwa 10.000 DM ersetzt bekommen haben muss.

Dass die Bespitzelten lange keinen Verdacht schöpften, lässt sich so erklären, dass Schlickenrieder »äußerst behutsam und zurückhaltend zu Werke ging. Er war als Eigenbrötler bekannt und galt als intelligenter Gesprächspartner. Er horchte nie jemanden direkt aus, sondern setzte seine Informationen immer aus verschiedenen ihm zu Ohren gekommenen Bruchstücken zusammen.« Aus der Sicht von »Kein Friede« war es auch nicht Aufgabe von Schlickenrieder »den unmittelbaren polizeilichen Zugriff auf politische und militante Strukturen der radikalen Linken zu organisieren … Die Aktivität auf der Strasse und der Stein in der Hand waren nie seine Sache. Die direkte Nähe zu solcher Art Aktiven der revolutionären Linken wurde nicht gesucht; vielmehr wurde sie gemieden und Verbindungen abgebrochen, sobald sich daraus eine Gefährdung der Position des Agenten hätte ergeben können.« Immerhin berichtet Schlickenrieder in einem Dossier aber davon, dass er, darauf angesprochen, ob er Waffen besorgen können, dies nicht gleich verneint hätte, sondern den Interessenten darauf hingewiesen habe, er würde Waffen nur an zuverlässige Genossen vermitteln, und müsse daher wissen, für wen die Waffen bestimmt sein. Zu dem Handel kam es dann aber nicht.

Neue neoliberale Spitzelterrains: Der, so Diederichs und Stark, zunächst »für den bayerischen Verfassungsschutz« und danach »für den Bundesnachrichtendienst« arbeitende Schlickenrieder, mutierte »zum Allround-Mann, der [nicht nur] für mehrere Dienste arbeitete, [sondern] auch internationale Wirtschaftdetekteien« belieferte. 1995 war der nigerianische Bürgerrechtler Ken Saro Wiwa von der Regierung hingerichtet worden. Umweltschützer und Menschenrechtler klagten deswegen auch den Shell-Konzern an, der in Nigeria Öl förderte. Ein Boykottaufruf führte bei Shell zu Umsatzeinbrüchen. 1996 drehte Schlickenrieder einen Dokumentarfilm über die Proteste gegen die Ölförderung und Menschenrechtsverletzungen in Nigeria. Er rechnete diesen Job bei der von ehemaligen Mitgliedern des britischen Geheimdienstes gegründeten Londoner Auskunftei Hakluyt ab: 20.000 DM für eine »Greenpeace-Recherche« wurden ihm 1997 überwiesen. Hakluyt hat in ihrem Stiftungsrat hochrangige Angestellte von Shell und BP. Laut Sunday Times dauerte das Arbeitsverhältnis zwischen Hakluyt und dem Spitzel Schlickenrieder bis 1999.

Enttarnung: Als sich Schlickenrieder in der Zusammenarbeit mit dem »Revolutionären Aufbau« nach Jahren der stillen Beobachtung als Organisator bewähren sollte, muss ihn das in einige Schwierigkeiten gestürzt haben. Seine Zuverlässigkeit wurde in Frage gestellt, seine Vergangenheit recherchiert, und schließlich wurde er mit Vorwürfen konfrontiert. Auf konkrete Fragen gab er vage Antworten und suchte Ausreden. Die – in der Diktion des Staatsschutzes verfassten – Berichte seien für seine klandestinen Genossen bestimmt gewesen. Manches habe seine Gründe, über die er aber am Telefon nicht reden wolle. Irgendwann wurde bei Schlickenrieder noch ein Dienstausweis des bayrischen Landesamtes für Denkmalschutz aus dem Jahre 1976 gefunden, der diesen als »Dr.« und »Landeskonservator« auswies. Es ist geheimdiensttypisch, bei anderen staatlichen Behörden Legenden einzurichten. Von Schlickenrieder war diese Tätigkeit nie erwähnt worden, wenn er auf seine Biografie angesprochen wurde. Kurz danach war Schlickenrieder nicht mehr erreichbar.

»Näheres auf Wunsch«: Die gefundenen »Notizen und Karteikästen« sowie die »prozentual aufgeschlüsselten Tankquittungen und Bürorechnungen« zeigen Schlickenrieder nach Auffassung der Gruppe »Kein Friede« als »Blockwart«. Sein serviles Wesen erweise sich in seinen Lageberichten über Treffen mit GenossInnen durch abschließende Formulierungen wie »Näheres auf Wunsch«. Durch seine Enttarnung sei man auf die »Existenz eines Bürokraten [gestoßen], der fotografierte, notierte, abheftete und bewertete, was andere versuchten schöpferisch aus dem Elend dieser Verhältnisse zu gestalten.« Schlickenrieder sei ein »Operateur der Unterdrückung«, der »beflissen, penibel, berechnend und ausdauernd über Jahre als ein Buchhalter der Lüge« agiert habe. Diese verabscheuungswürdige »Bürokratie des niederen Verrats« lasse »an Antworten denken …, die wir nicht geben können.«

Einige der von Manfred Schlickenrieder erstellten Materialien sowie ihn betreffende Analysen und Stellungnahmen sind unter: www.geocities.com/aufbaulist/Gruppe2/Gruppe2.htm nachzulesen. »Camus« kann als der derzeit bestdokumentierte Spitzel im deutschsprachigen Internet gelten.

Johannes Wartenweiler: Die Legende vom Filmemacher, in: Woz, 7. Dezember 2000.
Stepan Bandera: Deckname Camus, in: junge welt, 6. und 7. Dezember 2000.
Otto Diederichs und Holger Stark: Der Top-Informant – Im falschen Film, in: Tagesspiegel, 29. Januar 2001.
Gruppe Kein Friede: no justice – no peace. Zur Enttarnung der »gruppe 2« und Manfred Schlickenrieder, dokumentiert in: INTERIM Nr. 516, 14. Dezember 2000.
Reimar Paul: Shell – Mit Spitzeln gegen Menschenrechte. Der Filmemacher Schlickenrieder spionierte für britischen Ölkonzern, in: Neues Deutschland, 6. Juli 2001.


Markus Mohr/Klaus Viehmann (Hg.), Spitzel. Eine kleine Sozialgeschichte, Berlin 2004, 212 ff.

Überraschung

Jahr: 1993
Bereich: Militanz