Materialien 2004

Siemens: Erfahrungen eines Arbeitskampfes

Mitte August 2002 begann im Siemens-Betrieb München Hofmannstraße die Auseinandersetzung um die geplanten Massenentlassungen. Die Pläne des Konzerns konnten zu einem großen Teil durchkreuzt werden. Mit einer Vereinbarung im Februar 2004 ist die Auseinandersetzung als „betrieblicher Konflikt“ beendet worden. Der Widerstand gegen die Kündigungen hält allerdings bis heute an. Die Gekündigten klagen sich mit Unterstützung durch Betriebsrat, IG Metall und Mitarbeiternetzwerk auf ihre Arbeitsplätze bei Siemens zurück.

Neue Strategien sind notwendig

Aus heutiger Sicht war der Widerstand einerseits völlig unzureichend, denn das Vorgehen des Siemenskonzerns markierte einen Einschnitt, der mit dem Ergänzungstarifvertrag für die Handy-Fertigung bei Siemens (40 Stundenwoche ohne Lohnausgleich und eine zusätzliche Lohnabsenkung um ca. 15 Prozent), der Erpressung bei DaimlerChrysler, bei Karstadt, bei Opel und VW fortgesetzt wurde. Dieser Prozess ist gekennzeichnet durch massive Arbeitsplatzvernichtung und -verlagerung in Niedriglohnländer, Verlängerung der Arbeitszeit, Senkung der Löhne, und er ist verbunden mit einer dramatischen Schwächung der Gewerkschaften.

Notwendig wäre bereits damals eine betriebsübergreifende Gegenwehr gewesen, zu der die Gewerkschaften aber bis heute nicht bereit sind. Der Aktionstag der Siemens-Belegschaft im Juni 2004, der Daimler-Beschäftigten im August, der General Motors Aktionstag – das geht in die richtige Richtung, reicht aber bei weitem nicht aus, um den Angriff zu stoppen. Wenn Niederlagen weiterhin als Erfolge dargestellt werden, oder der von der IG Metall jetzt propagierte „Häuserkampf“ zur Abwehrstrategie werden sollte, dann ist die große Niederlage vorprogrammiert.

Dies ist aber nur die eine Seite. Die andere ist: Es ist einer Belegschaft gelungen, die Pläne eines der weltweit größten Multis weitgehend zu vereiteln. Dies gilt sowohl für die geplanten Massenentlassungen direkt, wie auch für die politische Zielstellung. Siemens war der Rammbock gegen die 35-Stundenwoche und hat diese in der Handy-Fertigung in Kamp-Lintfort und Bocholt erfolgreich ausgehebelt. In der Hofmannstraße wollte der Konzern wohl ein Exempel schaffen, dass in einem Großbetrieb unter Missachtung der sozialen Auswahl betriebsbedingte Kündigungen möglich seien. Dies gab auch der Rechtsvertreter der Siemens AG in einem Kündigungsschutzprozess zu, als er sagte, dass es sich um einen Feldversuch zur Ausreizung des Kündigungsschutzes gehandelt habe. Dieser Versuch ist gescheitert. Mit Stand 16. Dezember 2004 hat das Arbeitsgericht München in allen bisher verhandelten 159 Fällen die betriebsbedingten Kündigungen als rechtswidrig zurückgewiesen. Da Siemens in allen Fällen Widerspruch gegen das Urteil des Arbeitsgerichtes eingelegt hat, gehen die Kündigungsschutzklagen nun an das Landesarbeitsgericht. Dieses hat bisher in 52 Fällen die Kündigungen ebenfalls zurückgewiesen; lediglich in einem Fall ist die Kündigung bestätigt worden. Jetzt geht es darum, dass die zu Unrecht Gekündigten wieder entsprechend ihrer Qualifikation und früheren Tätigkeit eingesetzt werden. Der vorher genannte Rechtsvertreter der Siemens AG äußerte deshalb die Vermutung, dass es betriebsbedingte Kündigungen in diesem Umfang bei Großfirmen nicht mehr geben werde; das werde man künftig anders machen.

Betriebsrat, Belegschaft und IG Metall haben mit ihrem Widerstand die für diesen Betrieb, mit dieser Belegschaft und in dieser Situation richtige Antwort in einem Kapitalismus gefunden, der von der Kooperation zur lang anhaltenden Konfrontation übergegangen ist. Gewerkschaftliche Politik ist ganz zentral betriebliche Politik, d.h. gewerkschaftliche Politik muss beginnen, sich auch und vor allem im Betrieb auf neue Strategien umzustellen. Unter diesem Gesichtspunkt gilt es zu untersuchen, welche Erfahrungen aus dem Konflikt Hofmannstraße verallgemeinerbar sind.

Möglicherweise war die Auseinandersetzung in der Hofmannstraße eine der letzten oder zumindest rarer werdenden, in der noch ein relativer Erfolg erreicht werden konnte. Denn es spricht sehr viel dafür, dass die Zeit vorbei ist, wo gewerkschaftliche Kämpfe nahezu gesetzmäßig mit akzeptablen Kompromissen beendet werden konnten und die Verhandlungsposition der Gewerkschaft verbessert haben. Soziale Rechte mussten immer gegen die Unternehmer erkämpft werden. Aber wenn sie erkämpft waren, dann konnten sie eingebaut werden in das Regulierungsmodell bzw. in die Logik des Nachkriegskapitalismus. Und sie waren damit Ausgangspunkt in den weiteren Auseinandersetzungen für weitere Verbesserungen. Der heutige, globale Kapitalismus ist inkompatibel mit sozialen Zugeständnissen. Jeder Cent, jede Minute Arbeitszeitverkürzung muss nicht nur gegen die Unternehmer, sondern auch gegen die Logik des globalen Kapitalismus durchgesetzt werden. Daher sind erkämpfte Errungenschaften nicht mehr Ausgangsbasis für weitere Kämpfe, sondern ständigen Angriffen ausgesetzt.

Das führt auch dazu, dass mit der traditionellen Stellvertreterpolitik keine Erfolge mehr zu erreichen sind. Die Stellvertreterpolitik ist zu Ende. Betriebsratspolitik, Gewerkschaftspolitik muss neu begründet werden, gestützt auf aktive Belegschaften. Das heißt aber auch, dass die Gewerkschaften mit Funktionären, die die neoliberalen Litaneien nachbeten, keinen Boden gewinnen werden.

Die Krise erreicht die Siemens-Belegschaft

Im Jahr 2000/2001 stürzte die Telekom-Branche nach jahrelangem Super-Boom direkt in die Krise. Erstmals wurde diese Branche von einer Krise dieser Intensität und in globalem Maßstab erfasst. Innerhalb weniger Monate vernichteten Netzbetreiber und Telekommunikationsausrüster Hunderttausende von Arbeitsplätzen.

Siemens reduzierte im Bereich Telekommunikation/Festnetze (Information and Communication Networks ICN) die weltweit verteilte Belegschaft von 54.000 (Stand Frühjahr 2002) auf 34.000 zum 30. September 2003. Gleichzeitig mit Krise und Personalabbau wurden weitergehende Ziele verfolgt:

► Übergang zu einer neuen Generation von Kommunikationstechnologie und von einer technologiegetriebenen zu einer marktgetriebenen Entwicklung neuer Technologien und Konzepte;

► beschleunigter Aufbau eines weltweit verteilten Entwicklungsnetzwerks mit starken Stützpunkten in Niedriglohnländern;

► Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse in Richtung einer kleinen, hochflexiblen Kernbelegschaft, die projektbezogen mit Leiharbeitnehmern und über Werkverträge aufgestockt wird.

Der Betrieb München Hofmannstraße gehörte mit über 10.000 Beschäftigten zu den größten des Siemens-Konzerns. In der Hofmannstraße befindet sich die Zentrale der Telekom-Bereiche für Mobile Netze mit damals knapp 3.000 Beschäftigten und für Festnetze mit 7.200 Beschäftigten in Vertrieb, Marketing, Logistik und v.a. Entwicklung. Knapp 70 Prozent der Beschäftigten haben Hochschul- oder Fachhochschulausbildung. Im Bereich Festnetze (ICN) ist nahezu jeder Zweite in einem übertariflichen Arbeitsverhältnis. Ideologisch war die Belegschaft eingebunden in die Konsenskultur der „Siemens-Familie“. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad war, wie in der gesamten Branche üblich, außerordentlich niedrig. Allerdings ist die IGM mit einem ausgeprägten linken Profil von BR-Wahl zu BR-Wahl stärker geworden und stellte mit 40 Prozent der Wählerstimmen (BR-Wahl 2002) unter sechs Gruppierungen die stärkste Fraktion im BR, den BR-Vorsitzenden und den Stellvertretenden BR-Vorsitzenden. Die zweitstärkste Fraktion wurde von der arbeitgebernahen „Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebsangehöriger (AUB)“ gebildet (27 Prozent der Wählerstimmen).

Mitte August 2002 gab die ICN-Bereichsleitung bekannt, dass in der Hofmannstraße von den 7.200 Arbeitsplätzen im Festnetze-Bereich 2.300 Stellen abgebaut werden. Und zwar innerhalb von 6 Wochen zum 30. September 2002. Angeboten wurde eine Abfindungszahlung oder alternativ der Übertritt in eine externe Beschäftigungsgesellschaft. Das Arbeitsverhältnis mit Siemens würde mit dem Wechsel in die auf 12 Monate befristete Beschäftigungsgesellschaft enden. Wer sich beidem verweigern würde, dem sollte betriebsbedingt gekündigt werden.

Der leitende Personalmanager erklärte ausdrücklich, dass die Auswahl für die Entlassungen nicht nach sozialen Kriterien („sozialverträglich“ sei allein schon die Einrichtung der Beschäftigungsgesellschaft), sondern ausschließlich „marktverträglich“ nach betrieblichen Kriterien erfolgen werde.

Zum Kernstück des Konzepts gehörte eine von Siemens als GmbH gegründete Leiharbeitnehmerfirma, die sich ihre Arbeitskräfte – einzeln oder in ganzen Teams – aus der Beschäftigungsgesellschaft holt, um sie sowohl siemensintern wie auch auf dem externen Leiharbeitermarkt zu verleihen. Die Absicht ist, auf dem Leiharbeitermarkt einen Sektor für hochqualifizierte Arbeitskräfte v.a. für die Softwareentwicklung zu schaffen. Siemens will mit einer eigenen Leiharbeitnehmerfirma an diesem dynamisch wachsenden Markt teilhaben und wollte die eigenen, entlassenen Mitarbeiter einbringen.

Die Ziele der IGM waren:

► die Konzernpläne zum Arbeitsplatzabbau möglichst weitgehend zu durchkreuzen, d.h. möglichst viele Arbeitsplätze zu retten;

► möglichst wenig betriebsbedingte Kündigungen zuzulassen;

► Bewusstsein und Organisiertheit der Belegschaft zu entwickeln;

► das Eigenengagement der Belegschaft zu fördern.

Das Management ging davon aus, dass es seine Ziele relativ ungehindert realisieren kann, weil sich die Belegschaft aufgrund fehlender Erfahrungen und des niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrades nicht wehren werde. Zudem baute es auf die Erfahrung aus anderen Betrieben, dass mit einer Beschäftigungs- bzw. Transfergesellschaft ein effektives Mittel zum schnellen und reibungslosen Personalabbau vorliegt.

Aber es entwickelte sich ein für Siemens beispielloser Widerstand, vor allem im Betrieb, aber auch außerhalb: Solidarität kam von den Kirchen – diese bildeten mit dem Betriebsrat, der Katholischen Betriebsseelsorge, der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der Evangelischen Kirche und der IGM ein „Forum der Solidarität“ – bis hin zur Münchener CSU, die im Münchner Stadtrat den Antrag einbrachte, den Vorschlag des BR zur Einführung der 4-Tage-Woche zu unterstützten. Der Oberbürgermeister wurde beauftragt, dies bei der Konzernleitung einzufordern. Der geplante Personalabbau wurde zum kommunalpolitischen Thema. Die regionale Presse, Rundfunk und Fernsehsender griffen das Thema auf.

„Beschäftigungsgesellschaft – eine Rutschbahn in die Arbeitslosigkeit“

Die Gründe für die erfolgreiche Mobilisierung der Belegschaft waren:

1.) Die Krise hat den Großteil der Belegschaft direkt betroffen. Ein Wegducken erschien fast nicht mehr möglich. Dies wurde auf einer Betriebsversammlung plastisch sichtbar gemacht, als auf jedem dritten Platz ein Zettel lag mit der Aufschrift „Dieser Platz wird gestrichen“, und die Kollegen mit dem „roten Zettel“ gebeten wurden, sich von ihren Plätzen zu erheben.

2.) Der Betriebsrat charakterisierte die angebotene „Beschäftigungsgesellschaft“ als Etikettenschwindel und als „Rutschbahn in die Arbeitslosigkeit“. Mit den Beschäftigungs- bzw. Transfergesellschaften würden unter Umgehung der bei Kündigungen vorgeschriebenen Sozialauswahl und ohne großes Aufsehen Tausende Arbeitsplätze vernichtet und die Betroffenen in die Arbeitslosigkeit geschickt. Angesichts des zusammengebrochenen Arbeitsmarktes war den meisten klar, dass die Chancen auf einen neuen Arbeitsplatz für einen 45- oder 50-jährigen Softwareentwickler gegen Null gehen.

3.) IGM und BR entwickelten ein Gegenkonzept, mit dem es vor allem darum ging, die „Sachzwang-Logik“ zu widerlegen. Mit dem Gegenkonzept wurde der ständig wiederholten Argumentation der Bereichsleitung entgegengetreten, dass es keine Alternative zu den Entlassungen gebe, weil die Krise weltweit sei, weil alle Firmen der Telekommunikationsbranche entlassen, und weil der Siemens-Telekommunikationsbereich in den roten Zahlen sei. Mit den Vorschlägen ging es nicht um die besseren betriebswirtschaftlichen Konzepte im Sinne eines Co-Managements, sondern sie machten klar: Es gibt Alternativen zu den Entlassungen! Dem Management ging es aber nicht um Alternativen, sondern um den Profit. Denn nahezu zeitgleich mit den Entlassungsplänen gab Siemens bekannt, dass mit einer Steigerung des Gewinns um 24 Prozent auf 2,5 Mrd. Euro das zweitbeste Ergebnis der Firmengeschichte erreicht werde. Trotzdem sei die Unterstützung des defizitären Telekommunikationsbereiches nicht möglich, weil die Investoren keine Quersubventionierung innerhalb des Konzerns tolerieren würden.

Im Zentrum des BR/IGM-Konzeptes stand: „Arbeitszeitverkürzung für Alle statt Entlassung für Viele“. Die Forderung nach der 4-Tage-Woche ohne Lohnausgleich (entsprechend dem Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung) verband die komplizierten Marktbedingungen mit der Arbeitsplatz-Sicherheit und dem Erhalt des know-how für die Entwicklung neuer Technologien. Sie überzeugte die hochqualifizierten Fachkräfte. So gewannen BR und IGM in dieser Frage den Kampf um die Köpfe. Die Dynamik dieses Prozesses und die Gefahr der totalen Isolation gegenüber der Belegschaft hatte auch die Betriebsratsmitglieder der arbeitgebernahen AUB auf die Politik der IGM- und der anderen gewerkschaftsnahen Betriebsräte einschwenken lassen.

Das Management lehnte die Arbeitszeitverkürzung kategorisch ab. Wohl auch vor dem Hintergrund, dass bereits der Schwenk von der Arbeitszeitverkürzung mit Lohnverlust zur Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich vorbereitet wurde.

4.) BR und IGM verstanden die Betroffenen nicht als „Opfer“ des Personalabbaus, die sie „schützen“ müssen, sondern als aktiv für das eigene Schicksal handelnde Menschen, denen die dafür notwendigen Hilfsmittel zu geben sind. Davon ausgehend wurde ein partizipatives Politikkonzept entwickelt und der Kampf um die Köpfe geführt. Der BR handelte nicht stellvertretend für die Belegschaft, sondern jeder Schritt wurde mit der Belegschaft diskutiert: Ursachen der Krise; Alternativen zu den Plänen des Managements; Fortschritte, Probleme und Stand der Verhandlungen; mögliche Kompromisslinien – all dies wurde mit der Belegschaft diskutiert. Von Mitte August bis Dezember fanden dazu neun Betriebsversammlungen mit jeweils zwischen drei- und viereinhalbtausend Teilnehmern statt. Dazu kamen öffentliche Versammlungen der IG Metall und des Mitarbeiternetzwerkes.

Eine große Rolle im Kampf um die Köpfe und die Meinungsführerschaft spielte die Intranetseite des BR und das Internet-Diskussionsforum der IGM. Die ständige Aktualität der Informationen auf der BR-Seite machten diese zum zentralen Medium. Im Durchschnitt wurde täglich 5.000 mal auf die Informationen des BR zugegriffen; insgesamt erfolgten im September und Oktober über 150.000 Zugriffe auf die Homepage des BR. Um dem „Informationsmonopol“ des BR zu begegnen, richtete die Personalabteilung im Intranet ein eigenes Diskussionsforum für die Belegschaft ein und versuchte die Diskussion gezielt zu lenken. Die Information über das Intranet/Internet und die Debatte über das Diskussionsforum wurden zu einem entscheidenden Feld des Kampfes um die Meinungsführerschaft. Allein vom 19. September 2002 bis zum 29. Oktober 2002 erfolgten 68.000 Zugriffe auf das Diskussionsforum der Personalabteilung, in der Hochphase halbstündlich 1.500 Zugriffe.

5.) Dieser partizipative Ansatz wurde auch beim Interessenausgleich/Sozialplan beibehalten. Mit der Vereinbarung entschied der Betriebsrat nicht stellvertretend für die Betroffenen bzw. über deren Köpfe hinweg, sondern die Vereinbarung stellte einen Rahmen dar, der Raum für persönliche Handlungsalternativen gibt. Allerdings werden diese Alternativen nicht freiwillig gewählt, sondern die Wahl, die der einzelne trifft, erfolgte unter dem Druck der Unternehmensentscheidung. Damit die Betroffenen unter diesen Umständen dem enormen Entscheidungsdruck standhalten können, muss der Raum für die Diskussion der persönlichen Situation geschaffen werden. Es muss der Raum geschaffen werden, in dem individuelle Entscheidungen mit anderen Betroffenen gemeinsam diskutiert werden können. Nur so kann das eigene Handeln als Teil einer gemeinsamen Widerstandsstrategie erarbeitet und begriffen werden. Da es bei den späteren Kündigungsschutzprozessen darum geht, den Arbeitsplatz zu verteidigen und in den Betrieb zurückzukehren, muss der Zusammenhalt und die „Zugehörigkeit zum Betrieb“ auch nach der Kündigung organisiert werden. Vor diesem Hintergrund und zur Lösung dieser Aufgaben entstand das Mitarbeiternetzwerk NCI als eine Selbsthilfeorganisation der Betroffenen.

6.) Die Aktionen außerhalb des Betriebes steigerten sich von einem Infostand im Stadtzentrum mit ca. 200 Teilnehmern über eine Kundgebung im Stadtzentrum mit mehreren hundert Beteiligten zu einer großen Kundgebung und Demonstration vor der Konzernzentrale mit über 3.000 Teilnehmern. Anlässlich der Aktionärshauptversammlung wurde vor dem Eingang eine Kundgebung durchgeführt. Auf der Aktionärshauptversammlung kritisierten Vertreter der Belegschaftsaktionäre die Entlassungen und brachten Anträge ein, den Vorstand nicht zu entlasten.

Als die ICN-Bereichsleitung merkte, dass sie auf den Widerstand von BR und Belegschaft stieß, drohte sie, 2.300 Kündigungen auszusprechen. Im Gegenzug erklärte der Betriebsrat, sich streng am Kündigungsschutzgesetz zu orientieren und den Kündigungen zu widersprechen. Siemens müsse in diesem Fall mit 2.300 Kündigungsschutzklagen rechnen. Damit diese „Drohung“ glaubwürdig wurde, musste die Belegschaft auch „klagefähig“ werden. Deshalb erklärte die IGM die Bereitschaft, jedem, der vor dem 30. September 2002 Mitglied wird, sofortigen Rechtsschutz zu gewähren. Den „Siemens-Angestellten“ wurde klar, dass sie in der Auseinandersetzung mit dem Unternehmen einen starken Verbündeten brauchen. Innerhalb von drei Wochen organisierten sich über 900 Kolleginnen und Kollegen in der IG Metall. Viele andere schlossen private Rechtsschutzversicherungen ab, um sich gegen die Willkür des Unternehmens juristisch wehren zu können. Der Grundstein war gelegt, dass das individuelle Handeln – die Klage gegen die Kündigung – zum Teil einer erfolgreichen kollektiven politischen Widerstandsstrategie gegen Massenentlassungen wurde.

Nach dem geltenden Kündigungsschutzgesetz sind die Individualrechte bei einer betriebsbedingten Kündigung stärker als die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates. Deshalb weigerte sich dieser, die individuellen Rechte der Mitarbeiter durch die Vereinbarung von Auswahlkriterien, eines Punktesystems, von Namenslisten oder dergleichen einzuschränken. Im Falle von betriebsbedingten Kündigungen ist das Unternehmen verpflichtet, nach sozialen Kriterien, die bei einer Kündigungsschutzklage vom Arbeitsgericht überprüft werden, zu kündigen. Wenn Siemens, wie auf den Betriebsversammlungen offen angedroht, bei den Kündigungen keine soziale Auswahl treffen würde, dann hätten alle Gekündigten die besten Chancen, ihren Arbeitsplatz auf dem Rechtsweg zu verteidigen. Diese Strategie ist auf Betriebsversammlungen, offenen IGM-Veranstaltungen und im Diskussionsforum ausführlich diskutiert worden. Denn auch die älteren bzw. langjährigen Kollegen, die durch die Vereinbarung von Auswahlkriterien im Sozialplan besser geschützt wären – immerhin waren in den vorhergehenden 2 – 3 Jahren ca. 3.000 Neue eingestellt worden –, mussten für dieses Vorgehen gewonnen werden. Die Belegschaft wurde gründlich über den Inhalt des Kündigungsschutzgesetzes, das Prinzip der „Sozialauswahl“ und das Procedere bei betriebsbedingten Kündigungen informiert.

Der Sozialplan

Der heftige Widerstand der Belegschaft und der negative öffentliche Widerhall brachten das Unternehmen zum Einlenken und führten am 23. Oktober 2002 zum Abschluss eines Interessenausgleichs/Sozialplans. Vorangegangen war am 11. Oktober 2002 eine große Demonstration mit über 3.000 Teilnehmern vor der Konzernzentrale, die den Weg für vernünftige Verhandlungen freigemacht hatte.

„Siemens nimmt voraussichtlich einen Teil seines geplanten Stellenabbaus am Münchner Hauptstandort zurück … Damit wäre ein zuletzt öffentlich und in scharfen Tönen ausgetragener Streit beigelegt. Der Konflikt hatte den Kulturwandel des Traditionskonzerns enthüllt“, schrieb die Financial Times Deutschland (FTD, 23. Oktober 2002) Einen Tag nach dieser Meldung berichtete das Handelsblatt von der Einigung zwischen Betriebsleitung und Betriebsrat: „Doch von dem ungewohnten Konfrontationskurs ist Siemens nun wieder abgekommen. Erstens waren die Widerstände der Mitarbeiter heftiger als erwartet. Darüber hinaus bekam aber auch das Bild von Siemens als vorbildlichem Arbeitgeber tiefe Risse. Offenbar war dem Konzern die Sache jetzt zu heiß, und er hat sich auf die Arbeitsplätze erhaltenden Vorschläge der IG Metall eingelassen.“ (HB, 23. Oktober 2002)

Die Betriebsvereinbarung legt fest, dass statt des Abbaus von 2.300 Beschäftigten bei ICN nur „1.100 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – so weit wie möglich – einvernehmlich aus der Siemens AG ausscheiden (sollen)“. Die Entlassung von 350 Arbeitnehmern wird durch die Verkürzung der Arbeitszeit um 2,5 Stunden/Woche vermieden. 250 weitere Arbeitsplätze werden durch „Insourcing“, d.h. die Rücknahme von Dienst- und Werksverträgen, im Betrieb erhalten. 340 Arbeitnehmern, deren Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt als besonders schwierig eingeschätzt werden (z.B. ältere Arbeitnehmer oder Schwerbehinderte), werden zur vom Unternehmen angestrebten Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses einzelfallbezogene Lösungen angeboten. Es erfolgt jedoch keine betriebsbedingte Kündigung in diesem Personenkreis.

Den 1.100 Auszuscheidenden soll ein Aufhebungsvertrag und alternativ der Wechsel in eine betriebsorganisatorisch eigenständige Einheit (beE) vorgeschlagen werden, eine betriebsinterne Transferabteilung, deren Aufgabe darin bestehen sollte, ihren Mitgliedern beim Suchen nach neuen Arbeitsplätzen zu helfen. Diese interne Transferabteilung läuft über einen Zeitraum von mindestens 14, maximal 24 Monaten. Das unbefristete Arbeitsverhältnis mit Siemens bleibt bestehen, wird allerdings nach Ablauf der beE betriebsbedingt gekündigt.

Sofern „die vorstehend bezeichneten freiwilligen Maßnahmen nicht den Umfang der erforderlichen Arbeitnehmeranpassung erreichen, sind betriebsbedingte Kündigungen in diesem Personenkreis unvermeidbar. Es werden insgesamt höchstens 1.100 betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen“ (Text der Betriebsvereinbarung). Die Auswahl der Betroffenen erfolgt allein durch die Firma, denn es gibt keine Vereinbarung mit dem BR über Auswahlkriterien, Punktekatalog, Namenslisten, etc..

Üblicherweise ist mit dem Abschluss eines Sozialplanes der betriebliche Konflikt beendet. In diesem Falle legte die Umsetzung dieser Vereinbarung aber den Konflikt nicht bei, vielmehr führte sie zu weiterer Eskalation. Siemens hatte offensichtlich fest damit gerechnet, mit dem Abschluss der Vereinbarungen habe man das Mandat, bis zu 1.100 Menschen nach Gutdünken auszusuchen und diese entweder in die beE oder nach Hause zu schicken.

Die Möglichkeit, 340 Mitarbeitern einzelfallbezogene Lösungen anzubieten, um wie vom Unternehmen angestrebt, das Arbeitsverhältnis zu beenden, wurde vom Management als Genehmigung zum „strategischen Mobbing“ interpretiert. Den Beschäftigten wurde lapidar mitgeteilt, dass ihr Arbeitsplatz entfallen sei (was nachweislich und offensichtlich in vielen Fällen nicht zutraf) und das Arbeitsverhältnis mittels eines Aufhebungsvertrages im beiderseitigen Einverständnis beendet werden solle. Da bei den meisten der Betroffenen dieses Einverständnis nicht vorhanden war, wurden sie in einem Gebäude außerhalb des zentralen Betriebsbereiches separiert. Monat für Monat mussten sie dort den Arbeitstag verbringen, allerdings ohne Arbeit. Als Einschüchterungsmaßnahme wurden einige zwangsweise und entgegen dem Beschluss des Betriebsrates nach Greifswald, dem von München am weitest entfernt liegenden Siemens-Betrieb in Deutschland, versetzt. (Das Arbeitsgericht hat inzwischen diese Versetzungen als rechtswidrig aufgehoben.) Im Mitarbeiternetzwerk bildete dieser Kreis von Arbeitnehmern eigene Arbeitsgruppen, um die durch dieses Vorgehen des Unternehmens hervorgerufenen psychischen Belastungen gemeinsam zu verarbeiten und um politische und juristische Gegenwehr zu organisieren.

„Amoklauf gegen den Kündigungsschutz“

Am 11. Oktober 2002 wurden an 876 Beschäftigte die „blauen Briefe“ verschickt. „Die Treibjagd ist eröffnet“, bezeichnete der Betriebsrat die damit beginnende Phase der Auseinandersetzung. Um der Vereinzelung gleich von Beginn an entgegenzuwirken, führte der Betriebsrat Gruppenberatungen mit den Betroffenen durch und organisierte gruppenweise Rechtsberatung durch Rechtsanwälte. Erst nach der Teilnahme an Gruppenberatungen wurden Termine für Einzelgespräche und -beratungen vereinbart. So wurde dem entgegengewirkt, dass bei Kündigungen die meisten Betroffenen die Schuld bei sich suchen und nicht in der Politik des Unternehmens. In dieser Phase bildete sich das Mitarbeiternetzwerk NCI.

Der „blaue Brief“ mit dem die Empfänger aufgefordert wurden, in die beE einzutreten oder einen Aufhebungsvertrag zu unterzeichnen, andernfalls sie mit einer betriebsbedingten Kündigung zu rechnen hätten, erreichte besonders viele Ältere und auch Behinderte und alleinerziehende Mütter, die wegen ihrer familiären Zusatzaufgaben für „entgrenzte“ Arbeit weniger tauglich sind. Knapp die Hälfte der Angeschriebenen entschied sich für die beE. Als schließlich im Januar 2003, nachdem über 400 Beschäftigte auf das Angebot der Firma nicht eingegangen waren, 366 Kündigungsbegehren beim Betriebsrat eintrafen, ergab sich nach deren Auswertung:

► Zwei Drittel der mit Kündigung bedrohten Personen sind älter als 45 Jahre; in der Gesamtbelegschaft ist dies nur ein Drittel. Fazit des Betriebsrats: Ausmusterung der älteren Kolleginnen und Kollegen.

► Zwei Drittel arbeiten bei Siemens seit 20 und mehr Jahren; in der Gesamtbelegschaft sind es erheblich weniger als die Hälfte. Personen mit besonders intensiver Bindung an die alte Unternehmenskultur werden ausgesondert.

► Frauen stellen ein Viertel der Gesamtbelegschaft, aber ein Drittel bei den Kündigungsbegehren.

► Der gesetzlich geforderte Vergleich von gleichartigen Beschäftigten nach sozialen Merkmalen wie Alter, Dauer der Betriebszugehörigkeit und Familienstatus hat entweder gar nicht oder nur innerhalb einer Dienststelle anstatt des gesamten Betriebes stattgefunden.

► Rund die Hälfte aller Betroffenen hat Kündigungsschutz – sei es nach Tarifvertrag (z.B. 50jährige mit 15jähriger Betriebszugehörigkeit), nach Betriebsvereinbarung (länger als 25 Jahre im Betrieb), als Schwerbehinderte bzw. AntragstellerIn auf Schwerbehinderung oder als Ersatzbetriebsratsmitglieder.

Zusammenfassend bezeichnete der Betriebsrat das Vorgehen der Firma als „Amoklauf gegen den Kündigungsschutz“. Da der Betriebsrat in der Betriebsvereinbarung sich an keiner Art von Auswahl beteiligt hatte, blieb ihm das Recht, den Kündigungsbegehren zu widersprechen, was er in 362 der 366 Fälle auch tat. Die qualifizierten Widersprüche belegten in jedem Einzelfall ganz konkret anhand von Namenslisten, dass keine oder eine unzureichende Sozialauswahl vorgenommen worden ist, dass es freie Stellen für Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten gibt, dass die Kündigung gegen tarifvertragliche oder betriebliche Regelungen verstößt, usw.. Daraufhin wurden von der Betriebsleitung „nur“ noch rund 200 Kündigungen ausgesprochen. Nahezu alle Betroffenen strengten mit Unterstützung des Betriebsrates und der IG Metall Kündigungsschutzklagen an. Mit einem „Marsch der Gekündigten“ (Süddeutsche Zeitung) demonstrierten ca. 600 Kolleginnen und Kollegen mit großer Resonanz in den Medien zum Münchner Arbeitsgericht. Dort reichen die Anwälte gemeinsam fast 200 Kündigungsschutzklagen ein.

Die Widersprüche des Betriebsrates hatten zur Folge, dass das Unternehmen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzprozesses die Gekündigten weiter beschäftigen und weiter bezahlen muss.

Die Widersprüche und die anschließende rechtliche Beratung waren derart kompetent, dass in bislang allen 159 beim Arbeitsgericht München abgeschlossenen Verfahren die Kläger obsiegt haben. Vor dem Landesarbeitsgericht – Siemens hat bisher alle Urteile der 1. Instanz angefochten – wurde bisher lediglich eine Kündigung akzeptiert. In 52 Fällen hat das Landesarbeitsgericht die Kündigungen als rechtswidrig zurückgewiesen (Stand: 5. Januar 2005) und die Weiterbeschäftigung verfügt.

Januar 2004

Im Januar 2004 kam es zu erneuten Verhandlungen, um den Konflikt als betrieblichen Großkonflikt zu beenden. Zu diesem Zeitpunkt war offensichtlich geworden, dass Siemens den Personalabbau nicht wie geplant realisieren kann. Die Gekündigten hatten bereits 60 Kündigungsschutzklagen gewonnen. Von den 340 „Einzelfällen“ waren immer noch 250 auf der Gehaltsliste. Aber nicht mehr zu übersehen waren auch die Ermüdungserscheinungen und Spaltungslinien in der Belegschaft:

► Der Teil der Belegschaft, der nicht direkt vom Abbau betroffen war, wollte wieder „in Ruhe“ arbeiten. Dies auch in der Sorge, dass der Bestand des Betriebes insgesamt gefährdet sei. Die Betriebsleitung verstärkte diesbezügliche Gerüchte, die auch dadurch genährt wurden, dass viele Gebäude im Zuge einer geplanten Erneuerung der Gebäudesubstanz abgerissen wurden und werden.

► 1.600 Mitarbeiter waren in einen anderen Betrieb versetzt worden. Der bestehende Betrieb sollte in zwei Betriebe aufgespalten werden. Auch dies erhöhte die Sorge um die Zukunft des Betriebes.

► Bei den „Einzelfällen“ standen Zwangsversetzungen in einen neugebildeten Betrieb weit außerhalb der Stadtgrenzen an, der nur aus diesen Kollegen bestehen würde. Die Personalleitung hatte klar gemacht, dass sie diese Maßnahme vollziehen werde und jeder Einzelne dagegen gerichtlich klagen müsse. Dies sorgte für eine große Unruhe bei den betroffenen Mitarbeitern, weil sie befürchteten, dass alle betrieblichen und tariflichen Schutzregelungen durch eine anschließende Betriebsschließung unterlaufen werden könnten.

► Die Betriebsleitung hatte schon seit geraumer Zeit den BR in allen Fragen ins Leere laufen lassen. Versetzungen, Umorganisationen, Betriebsaufspaltung, … alles wurde ohne Beteiligung oder trotz Widerspruch des BR durchgeführt. Der Belegschaft sollte vorgeführt werden, dass sie mit diesem BR keinerlei Zukunft hat.

IGM und BR fanden keine politische Strategie, um angemessen auf diese neue Herausforderung zu reagieren. Der BR verzettelte sich in unzähligen Prozessen vor dem Arbeitsgericht, die für die Belegschaft jedoch meist nicht mehr nachvollziehbar waren. Vor dem Hintergrund dieser Spaltungslinien, der Ermüdung der Belegschaft und der fehlenden Strategie der IGM inszenierten Betriebsleitung und die Gruppe der „Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebsangehöriger – AUB“ eine Schlammschlacht gegen die IGM, den Betriebsratsvorsitzenden und dessen Stellvertreter.

Obwohl diese Kampagne von der Belegschaft abgelehnt und zurückgewiesen wurde und sie ihre Solidarität mit der Betriebsratsmehrheit deutlich zum Ausdruck brachte, bestand die Gefahr, dass der große politische Erfolg der IGM einfach zerrinnt. Die Belegschaft brauchte eine Atempause. Dazu kam, dass auch die IGM ihre Kräfte neu gruppieren musste, weil Siemens begann, die Pläne zur Verlagerung der Arbeitsplätze in Niedriglohnländer zu realisieren.

Aber auch Siemens hatte ein Interesse, den Konflikt zu beenden. Der Betrieb war wegen der anhaltenden Auseinandersetzung unproduktiv; das Management hatte nachhaltige Legitimationsprobleme; das Beispiel Hofmannstraße wurde von anderen Betriebsräten im Konzern positiv und als beispielhaft aufgenommen. Ganz deutlich war dies der Konzernleitung auf der bundesweiten Betriebsrätekonferenz der Siemens AG im November 2003 in Leipzig vor Augen geführt worden.

Vor diesem Hintergrund kam es zu direkten Verhandlungen zwischen Betriebsrat und Vertretern der Konzernzentrale. Die Vereinbarung beinhaltet:

► Die verbliebenen 250 sog. „Einzelfälle“ erhalten ein Schreiben, mit dem Siemens die Entlassungsabsicht zurücknimmt. Die betroffenen Arbeitnehmer werden in eine spezielle Abteilung versetzt, von der aus sie auf Arbeitsplätze in der Siemens AG vermittelt werden. Mitarbeiter, die älter als 55 Jahre sind, erhalten das Angebot eines Altersteilzeitvertrags für das 58. – 63. Lebensjahr. In diesem Fall werden sie auf keinen festen Arbeitsplatz mehr versetzt, sondern müssen sich nur noch für Projekteinsätze zur Verfügung halten. 47 schwerbehinderte Mitarbeiter kommen wieder direkt auf ihre alten Arbeitsplätze zurück. Fakt für alle ist: die Entlassungsabsicht ist vom Tisch; die Kolleginnen und Kollegen haben wieder eine gewisse Planungssicherheit für ihr Leben.

► Zweitens wird die Betriebsaufspaltung zurückgenommen.

► Drittens wird noch einmal festgehalten, dass bis zum 30. September 2005 keine betriebsbedingten Kündigungen erfolgen, auch wenn die geplanten und laut Interessenausgleich/Sozialplan zulässigen Abbauzahlen nicht erreicht worden sind.

Bestandteil des Paketes ist, dass der BR-Vorsitzende Heribert Fieber und sein Stellvertreter Leo Mayer aus dem Betriebsrat ausscheiden und einen Altersteilzeitvertrag unterzeichnen. In einem persönlichen Flugblatt an die Belegschaft schreiben sie: „Wir gehen zum 1. Juni mit 55 bzw. 60 Lebensjahren in Altersteilzeit. Zwar etwas überraschend, aber bei Siemens und altersbedingt nicht ungewöhnlich. Unsere Altersteilzeit ist Bestandteil eines Paketes, mit dem u.a. über 200 Mitarbeiter wieder integriert, die Restrukturierung vom Oktober 2003 beendet und betriebsbedingte Kündigungen bis zum 30. September 2005 grundsätzlich ausgeschlossen werden.“

Nach dem der BR-Vorsitzende und der stellvertretende BR-Vorsitzende erklärt hatten, dass sie zum 1. Juni 2004 aus den Betriebsrat ausscheiden, beschloss der Betriebsrat mehrheitlich seinen Rücktritt und leitete die Neuwahl ein. Sechs Listen, mit Ausnahme der AUB, die anderen gewerkschaftlich orientiert, standen zur Wahl. Bei einer um nahezu 25 Prozent gestiegenen Wahlbeteiligung verbesserte die Liste der IGM ihr Wahlergebnis sehr deutlich und verfehlte die absolute Mehrheit nur um ein Mandat. Die arbeitgebernahe AUB verlor fast die Hälfte ihrer Stimmen. In der Wahlanalyse der IGM heißt es: „Das Ergebnis zeigt, dass die Belegschaft aktive Betriebsräte und Gewerkschafter unterstützt, die transparente Betriebsratspolitik betreiben, ihre Kollegen ständig informieren, die lösungsorientiert arbeiten und wenn nötig auch den Konflikt nicht scheuen.“

Fazit

Also nur ein Teilerfolg? Allerdings – und jede andere Zielvorstellung wäre illusionär.

Es springt in die Augen, dass Siemens derzeit im eigenen Unternehmen einen Kulturbruch erzwingen will, wie er von den Unternehmerverbänden mit wachsendem Erfolg in der Gesamtgesellschaft verfolgt wird.

Alle Akteure müssen sich vor Augen halten, dass der globale Kapitalismus, international und in jeder der Metropolen, nach seinen Gesetzen in die Richtung von Abbau von Personal und Arbeitsschutzrechten drängt, und dass er in dieser Auseinandersetzung über gewaltige materielle, politische und mediale Ressourcen verfügt. Die Forderung z.B., man müsse Siemens zwingen, seine Superprofite zur Sicherung der Arbeitsplätze einzusetzen, ist völlig unrealistisch. Worum es beim gegenwärtigen Kräfteverhältnis von Kapital und Arbeit nur gehen kann, ist, dem Multi so viel Widerstand wie möglich entgegen zu setzen, um möglichst viele Arbeitsplätze möglichst lange zu erhalten. Um diesen Widerstand zu entwickeln, ist es notwendig, die Ideologie vom „Sachzwang der Märkte“, die nichts anderes zulasse als die Zertrümmerung der Standards eines Sozialstaates, zu widerlegen. Wenn sich Betriebsräte und Gewerkschaften damit begnügten, über Abfindungen eine Art Schadensersatz für den Verlust von Arbeitsplatz und Sozialstaat einzufordern, würden sie die rasante Fahrt in einen skrupellosen Neoliberalismus noch beschleunigen.

Für die direkt Betroffenen würde das angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt den Beginn der Dauerarbeitslosigkeit und den Marsch ins soziale Aus bedeuten.

Leo Mayer


Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, http://www.linksnet.de/de/artikel/19088 (24. März 2005).