Materialien 1971

Bevor alles anfing ...

Die Geschichte unserer ersten Druckmaschine

Es war drei Uhr morgens. Einige Male schon war der Streifenwagen mit abgeblendeten Lichtern um das Karree der Buden am Schwabinger Elisabethmarkt gefahren. Jetzt bog er in die große Passage zwischen den Ständen ein und bewegte sich langsam auf das Hauptportal der Gisela Oberrealschule zu. Direkt davor blieb er stehen und blendete auf. Das Scheinwerferlicht flutete durch den verglasten oberen Teil des Portals und tauchte die Treppe, die zur Aula hinaufführte, in taghelles Licht. „Scheiße, was ist das?!“, rief Manú irritiert. „Keine Ahnung, vielleicht sind’s Bul-
len!“ Tyl, der auf dem letzten Treppenabsatz, direkt gegenüber des Eingangs, stand, hechtete blitz-
schnell in den Schatten der steinernen Brüstung, und presste sich so flach wie möglich auf den Boden. „Komm her“, flüsterte er Manú zu.

Augenblicklich tauchte das Mädchen in den Schattenstreifen hinter seinem Rücken. Manú war die Freundin seines besten Kumpels Flakey. Sie war schön. Tyl spürte ihren warmen Atem, fühlte ihren weichen Körper, und er musste unwillkürlich an die Fotos denken, die Flakey von ihr ge-
macht hatte. Geile Aufnahmen, auf denen Manú nackt in allen möglichen und unmöglichen Stel-
lungen zu sehen war. Von oben, unten, vorne, hinten – nicht die verborgenste Falte hatte Flakey ausgelassen. „I like the way she spread her wings“ – grinsend hatte er einen Blues von B.B. King vor sich hin gesummt, während er Tyl die Fotos zeigte – und jetzt lag Manu da, ihre Brüste an seinem Rücken, und …

Scheiße, hier lief gerade ein anderer Film. Einer der Bullen war ausgestiegen und spähte durch das Glas des Eingangsportals. Drohend stand sein Schatten an der Wand des Aufgangs. Tyl und Manú hielten den Atem an.

Wo war Flakey? Warum hatte er sie nicht gewarnt? Das Walky war die ganze Zeit auf Empfang ein-
gestellt gewesen! Tyl schaltete es ab. Jetzt nützte es eh nichts mehr.

Der Bulle starrte noch immer durch die Glasscheiben. Tyl und Manú drückten sich tiefer in den Schatten. Aus den Augenwinkeln riskierte Tyl einen Blick. Nichts zu erkennen, nur Licht und Schatten. Hoffentlich sah man von draußen die Beute nicht, derentwegen sie in die Schule einge-
drungen waren, und die Tyl hatte stehen lassen, als die Scheinwerfer aufblendeten. Regungslos lagen sie eine halbe Ewigkeit. Dann hörte man eine Wagentür schlagen, die Lichter drehten ab und es wurde wieder dunkel. „Is ja nochmal gutgegangen!“, schnaufte Tyl und grinste. Manú sagte nichts.

Eine Weile warteten sie noch. Aber alles blieb ruhig. „Komm, wir verschwinden jetzt!“

Vorsichtig näherten sie sich wieder dem letzten Treppenabsatz, wo die Beute lag: das Tischmodell einer DIN A4-Druckmaschine der Marke Rotaprint.

„Hoffentlich geht sie noch!“, murmelte Tyl, während er sie aufstellte und den von Manú bereitge-
haltenen Leinensack darüber zog. Dann verschwanden die beiden durch den Seiteneingang an der Agnesstraße, wo Tyl sein Fahrrad mit dem Anhänger der Süddeutschen Zeitung abgestellt hatte. Es war mittlerweile 5 Uhr morgens, und Zeitungsausträger mit Anhängern für die dicke Samstagsaus-
gabe der SZ fielen nicht besonders auf. Im Lehrervorbereitungszimmer der Gisela Oberrealschule blieb dort, wo die Druckmaschine gestanden hatte, ein heller Fleck und ein Bekennerschreiben zurück, das dem entsetzten Lehrerkollegium in kruden Sätzen mitteilte, dass diese Druckmaschine enteignet worden war, um von nun an nicht mehr der autoritären Verblödung, sondern der freien Meinungsäußerung zu dienen. Das Pamphlet endete mit der Parole „Friede den Hütten – Krieg den Palästen!“.

Vier Jahre lang, von 1971 – 1974, wurde auf dieser Druckmaschine im Keller eines Hauses in der Münchner Friedrichstraße eine unabhängige, überregionale Schülerzeitung sowie unzählige Flug-
blätter und Pamphlete gedruckt. Papier und Farbe bekamen die Schüler von Druckern aus der Tiefdruck- und Rotationsdruckerei des Süddeutschen Verlages, die ihnen heimlich mit den Wor-
ten: „Da habts a Babier und a Farb, und jetzt druckts was Gscheids", eimer- und stapelweise diese notwendigen Materialien zuschanzten.

Mit dem Ende der Schulzeit löste sich auch die Schülergruppe auf, und die Rotaprint RTL wurde, gereinigt und gut verpackt, in einem alten Hühnerstall der Mooskommune im Erdinger Moos versteckt. Dort blieb sie bis 1978. Dann kam sie nach München in die Breisacherstraße 12.


33 Jahre Ulenspiegel 1978 – 2011, Andechs 2011, unpag.

Überraschung

Jahr: 1971
Bereich: SchülerInnen