Materialien 1988
Zurück zur 40-Stunden-Woche
Merkwürdiger „Fortschritt“ für Münchener Ingenieure
High-Tech gleich Fortschritt? Eine Formel, die für die rund 400 „außertariflichen“ Ingenieure, Informatiker und Techniker der Münchener Rüstungsfirma ESG/FEG nicht aufgeht. „Zurück, marsch marsch“ heißt die Losung fürs neue Jahr. Seit dem 1. Januar gilt für sie wieder die 40-Stunden-Woche, bisher waren 38,5 genug.
Der Arbeitszeitrückschritt diene der „Erhaltung unserer Produktivität“, erfuhr die außertarifliche Belegschaftshälfte Ende November per Rundschreiben der Geschäftsleitung. „Bei gleichbleibend hoher Auftragslage und unverändert enger Arbeitsmarktsituation“ sei die Firma zu Neuein-
stellungen nur „bedingt in der Lage“.
Einziges Zuckerl: Mit einer Bruchrechnung nach Milchmädchen-Art soll die Differenz zur tariflichen Arbeitszeit finanziell abgegolten werden.
Die ESG/FEG stellt keine Werkstücke her, sie verkauft Know-how. Man entwickelt Systeme,
meist für den Rüstungsbereich. „Unsere Produktion besteht aus Ingenieurleistung“, wie der fürs Personelle verantwortliche Direktor Christoph Mallmann gegenüber METALL formuliert. Das Hirnschmalz der derzeit 860köpfigen Belegschaft ist der wesentliche Produktionsfaktor.
Durch die Wiedereinführung des Acht-Stunden-Tags für die 400 Außertariflichen kann die Firma bereits jetzt über 600 zusätzliche Ingenieurstunden, ab 1. April mit Inkrafttreten der 37,5-Stunden-
Woche wöchentlich gar über 1.000 Arbeitsstunden mehr verfügen. „Rationalisierung, ohne einen Pfennig zu investieren“, wie der Betriebsrat feststellt.
Infarkt mit 40
„Unsere Arbeit wird immer komplexer, immer dichter“, beschreibt einer der Techniker seine Situation, einer von denen, die ihre Zustimmung zur einzelvertraglichen Arbeitszeitverlängerung bislang verweigerten. „Es kann doch nicht unser Interesse sein, mit unserer Arbeit andere überflüssig zu machen und selbst mit 40 einen Herzinfarkt zu kriegen.“ Er ist inzwischen Gewerkschaftsmitglied geworden. Die meisten jedoch haben ihre Unterschrift abgegeben. Zähneknirschend und murrend, denn die 38,5-Stunden-Woche war auch den Willigsten als Fortschritt ins Bewusstsein gedrungen: Fahrgemeinschaften hatten sich danach ausgerichtet,
das Familienleben war bereichert worden.
Nachdem der Betriebsrat keine rechtlichen Möglichkeiten sah, den Rückschritt für die Außertariflichen abzuwenden, und andere Mittel der Gegenwehr am noch allzu bescheidenen gewerkschaftlichen Organisationsgrad scheiterten, schmolz auch die Zahl der Widerständler.
Doch das Thema Arbeitszeit ist in dem Hochhaus an der Ausfallstraße zum Münchener Flughafen Riem dadurch erstmals richtig auf die Tagesordnung gekommen. Der Betriebsrat will sich in Zukunft nicht mehr per Einzelvertrag „aushebeln“ lassen, sondern sein Mitbestimmungsrecht in Sachen Überstunden wahrnehmen.
Vor sechs Jahren erst war die Belegschaft mit dem Argument „Auftragsrückgang“ von 1.200 auf weniger als 800 Beschäftigte abgebaut worden. Der Auftragsbestand hat das Ausgangsniveau längst überholt, doch neue Stellen werden nur in bescheidenem Umfang geschaffen. „Trotz aller Bemühungen“, so Direktor Mallmann, sei die „Personalakquisition im Ballungsraum München sehr schwierig.“ Dass man den (zu je einem Drittel beteiligten) Muttergesellschaften Siemens, Rohde und Schwarz, SEL, keine Leute abwirbt, sei „ja wohl selbstverständlich“.
Hannelore Messow
Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 2 vom 22. Januar 1988, 18 f.