Materialien 1988

„Gehste mit, biste hin“

Neuordnung im Siemens-Konzern

„Bei voller Fahrt“ Richtung EG-Binnenmarkt will Vorstands-Kapitän Karlheinz Kaske das Siemens-Schiff umrüsten. Details und Folgen werden noch weitgehend hinter einer Nebelwand von Schlagworten versteckt. Schon jetzt allerdings gehen Arbeitsplätze und soziale Leistungen in großer Zahl über Bord.

Mal hier ein Scheibchen, mal da eins: Im letzten Geschäftsjahr hat Siemens im Inland ein Prozent der Arbeitsplätze abgebaut, 2.000 an der Zahl. Dabei wird es nicht bleiben: Im Unternehmensbereich Kommunikationstechnik wurden heuer schon drei Prozent (zirka 900 Arbeitsplätze) abgebaut, 1.500 weitere sind auf der Kippe.

Damit nicht genug: Durch Verlagerung von Teilen der Halbleiterproduktion ins österreichische Villach soll der bisherige Bauelementestandort München-Freimann (900 Beschäftigte) überflüssig gemacht werden.

Den prozentual dicksten Schnitt setzt der Marktführer in Sachen Zukunftstechnologie ausgerechnet bei der Ausbildung an. In diesem Herbst treten sieben Prozent weniger Azubis bei Siemens an als im Vorjahr. Mit deutlicher Nord-Süd-Differenz: Oberhalb der Mainlinie wurden Ausbildungsplätze in zweistelliger Prozentzahl zurückgefahren.

Dies alles, wie gesagt, noch vor Beginn des Konzernumbaus, der nach Einschätzung der IG Metall-Betriebsräte einen weiteren Rationalisierungsschub zur Folge haben wird.

Vom 1. Oktober 1988 an sollen die bislang sieben „Unternehmensbereiche“ binnen Jahresfrist in kleinere „Geschäftsführende Einheiten“ umgewandelt werden. Gleichfalls nach Profit-center-Manier sollen dazu regionale Einheiten gebildet werden. Beide Bereiche überwacht und an die zentrale Konzernpolitik gebunden durch fünf „Zentrale Stäbe“, die schon am 1. Oktober die bisherigen Zentralbereiche ablösen sollen.

Chefs gesichert

Dass dabei „Hierarchien abgeflacht“ werden, hat unmittelbare Folgen für die bislang 32 Vorstandsmitglieder. Doch für diesen Kreis gilt ein stattlicher „Sozialplan“ als gesichert: In der letzten Bilanz wurden 74,4 Millionen Mark für Vorstandspensionen zurückgestellt – bei knapp 13 Millionen derzeit laufender Pensionsverpflichtungen für Vorstandsrentner.

Auf mehr Risiko laufen die Konzernpläne für die „normale“ Belegschaft hinaus: Eine Reihe von Untersuchungen haben die Senkung von Gemeinkosten zum Ziel. Die Beschäftigten im neuen Siemens-Werk Poing (bei München) bekamen eine Kostprobe: Die Kantine wird in fremder Regie betrieben.

Gerüchte über eine firmenrechtliche Ausgliederung gehen auch bei den 45.000 Beschäftigten in den zwölf inländischen Zweigniederlassungen um. Der „kundennahe und flexible“ Vertrieb und Service könnte an GmbHs übertragen werden. Und die könnten, falls die Renditen nicht stimmen, geräuschlos und für die „Mutter“ risikoarm liquidiert werden.

„Gehste mit, biste hin“, so übersetzen betroffene Siemensianer das GmbH-Konzept. Jüngstes Beispiel: die Ausgliederung des weltweiten Siemens-Kommunikationsnetzes in die Vascom-GmbH, die als Netzbetreiber durch Anwerbung von Großkunden als Sprengsatz für die Bundespost bereitsteht. Und außerdem Zusatzdienste feilbietet (zum Beispiel Gehaltsabrechnungen über Auskunftssysteme, Materialflußsteuerung, Anbindung von Zulieferern), die man später auch mal für Siemens erledigen will. Als GmbH versteht sich.

Bildung gekürzt

Dass die Konzernzukunft sich wenig an der Zukunft der Beschäftigten orientiert, zeigen die drastischen Sparpläne für den Bereich Weiterbildung: Um mindestens 20 Prozent sollen die angeblich „explosionsartig gestiegenen“ Fortbildungskosten alljährlich an den High-Tech-Bereichen Kommunikations- und Nachrichtentechnik gestrichen werden.

Da die Beschäftigten in Zukunft noch stärker als bisher an ihrer Weiterbildung gemessen werden, bleibt nur eine Lösung: Wer für Siemens fit bleiben will, muss in seiner Freizeit büffeln. Sofern er die Zeit hat.

Überstunden satt

Denn der wachsenden Zahl der „Außertariflichen“ diktiert Siemens noch immer die 40-Stunden-Woche – und mehr. Überstundenprämien gibt’s erst oberhalb zehn Prozent. Folgerichtig lauten denn die Kernforderungen der IG Metall-Betriebsräte:

♦ Arbeitszeitverkürzung auch für Techniker, Ingenieure und andere „Außertarifliche“.
♦ Absicherung der Qualifikationsansprüche während der Arbeitszeit.
♦ Verstärkte Weiterbildung, speziell für die vom Rationalisierungsschub Bedrohten.

Vor allem aber: Die Neuordnungspläne müssen auf den Tisch, die Drosselung der Ausbildungsplätze ist unverantwortlich.

Hannelore Messow


Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 17 vom 19. August 1988, 18 f.