Materialien 1989
Nach 39 Jahren Räumungsklage: „Das überleben wir nicht“
„Alles im Leben haben mein Mann und ich zusammen überstanden in 46 Jahren Ehe, aber das ist der härteste Schlag.“ Rosa Zirngibel, 78 Jahre alt, bricht in Tränen aus. Sie und ihr 75jähriger Mann Anton haben eine Räumungsklage am Hals. Sie sollen aus der Wohnung raus, in der sie seit dem 1. September 1950 wohnen. Der neue Wohnungsbesitzer klagte auf Eigenbedarf – seit kurzem das große Schreckgespenst für bundesdeutsche Mieter (siehe auch metall-service Seite 15).
Nur 46 Quadratmeter groß ist die Wohnung der Zirngibels in der Schellenbergstraße im Münche-
ner Arbeiterviertel Giesing. 32,40 Mark Miete kostete sie, als das Ehepaar einzog – damals ein Erdgeschoss-Loch ohne Bad, ohne Küche, ohne Heizung. Heute ist es eine frischrenovierte, schmucke Wohnung mit Gasöfen, schönem Bad mit Boiler, neuer Küche, neuen Teppichböden, abgehängten Decken. Anton Zirngibel: „Über 30.000 Mark haben wir da selbst reingesteckt.“
1980 geriet der ehemalige Genossenschaftsbau Kolb-Siedlung – erbaut – in die Spekulations-Spirale: Verkauf an die Württembergische Landeszentralbank für 1.400 Mark pro Quadratmeter, Weiterverkauf der 714 kleinen, für die Mieter noch enorm preisgünstigen Wohnungen für rund 3.000 Mark pro Quadratmeter an „Verwertungsgesellschaften“ , Weiterverkauf an einzelne Anle-
ger, Mieterhöhungen von 80 Prozent und teilweise Kündigungen. Denn nur durch Mieterwechsel kann man ja noch mehr Miete ansetzen als die „normal“ zulässigen 30 Prozent Mieterhöhung in drei Jahren.
Natürlich, gekündigt wird immer wegen „Eigenbedarf“. Wie bei Zirngibels, die momentan 328 Mark Kaltmiete zahlen. Der 23jährige Sohn des Eigentümers soll rein. Der Eigentümer ersteigerte die Wohnung vor sechs Monaten für 110.000 Mark. Zirngibels konnten da nicht mithalten, obwohl sie verzweifelt mitsteigerten. Alle Verwandten hatten zugesagt, dem ehemaligen Archivangestellten und seiner Frau Geld zu leihen.
Klar, nach der Eigenbedarfs-Schamfrist könnten dann neue Mieter rein. Zu hohen Mietpreisen. Zwei Stock drüber sind jetzt Studenten drin, zahlen für 52 Quadratmeter Uraltbau 900 Mark kalt.
Zirngibels kann nur noch die Härteklausel helfen. Frau Zirngibel hat schwere Herzstörungen, Herr Zirngibel – vier Jahre KZ Dachau, weil er Nazigegner war und 90 Prozent schwerbehindert nach dem Krieg – kann gerade noch 300 Meter weit gehen, dann machen Herz und Beine nicht mehr mit. Sie hoffen jetzt beim Räumungsprozess auf die Härteklausel.
Rosa Zirngibel kann seit Wochen nicht mehr schlafen, hat tiefe Ringe um die Augen. „Wenn wir rausmüssen“, sagt sie leise, „glaub’ ich nicht, dass ich das überlebe.“
In der Räumungsklage steht, man zweifle gesundheitliche Probleme bei dem Rentnerpaar an. Danach gefragt oder gar besucht hat die Zirngibels allerdings niemand. Solche Kleinigkeiten schei-
nen Vermieter 1989 nicht mehr nötig zu haben.
Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 5 vom 10. März 1989, 11.