Materialien 1990
„Wer über Armut redet, muss auch über Reichtum sprechen“
In der Bundesrepublik leben sechs Millionen am Rand der Existenz
… So viele Menschen krebsen bei uns nämlich am Existenzminimum herum, mit oder ohne Sozialhilfe. Sogar der Bundesregierung kann eigentlich nicht entgangen sein, dass die absolute Wachstumsbranche der Republik die Sozialhilfe ist, von der 1988 jeder 20. Bürger ganz oder zeitweise lebte, für die in einem Jahr 27 Milliarden Mark ausgegeben werden mussten.
Obwohl ja sehr viele Arme diese Hilfe gar nicht beantragen, weil sie sich schämen, und weil sie wissen, dass sie in einen Bürokratendschungel geraten, kontrolliert und durchleuchtet werden, ihre Würde und jegliche Entscheidungsfreiheit verlieren.
Helga P., Mutter einer dreijährigen Tochter, sagt: „Soll ich wegen jedem Paar Schuhe zum Sozialamt betteln gehen und mich durch die Mühle drehen lassen? Und wissen die Menschen wohl, wie es ist, wenn ich der Kleinen manchmal nicht mal ein Eis kaufen kann?“ Helga P. wird wenigstens nicht wie andere Sozialhilfeempfänger in ihrer Wohnung kontrolliert. Helga P. (Name geändert) aus München hat nämlich gar keine Wohnung seit der Trennung von ihrem Partner. Und keine Arbeit.
„Normale“ Armut
Aber selbst wenn eine Mutter Arbeit und Wohnung hat, ist sie oft noch arm, liegt weit unter der Sozialhilfegrenze. Zum Beispiel in München. München ist exemplarisch für die Situation im Lande: Es ist eine prosperierende Stadt, die Stadt des High-Tech, des Wachstums, der hohen Verdienste auch für jüngste Yuppies. Und wurde durch die Was-kostet-die-Welt-Gesellschaft zur Stadt mit den teuersten Mieten.
Mieterbund-Präsident Gerhard Jahn fordert von Bonn mehr Handeln in Sachen Wohnungsbau und Mietrechtskorrekturen, die bisherige Passivität sei „unerträglich“.
Die Zustände treffen die Mutter mit Kind hart. Wenn sie etwa im öffentlichen Dienst einen Job als Laborgehilfin bekommt, verdient sie inklusive Ortszuschlag in Vergütungsgruppe 10 knapp über 2.000 Mark brutto. Und wenn sie freitags die „Süddeutsche Zeitung“ aufschlägt und eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung sucht, wird sie erkennen müssen, dass eine 50-Quadratmeter-Wohnung mittlerweile 1.200 Mark warm kostet, und nur über 3.000 Mark Maklergebühr und 2.000 Mark Kaution zu bekommen ist. Aber auf eine Sozialwohnung hat sie auch keine Chance, auf eine solche warten in München rund 20.000 Menschen.
In den achtziger Jahren sah die Rechnung so aus: In Städten mit sprunghaft anwachsender Arbeitslosigkeit – etwa Duisburg oder Leer – waren besonders viele Menschen arm dran, und in anderen Städten ging es den Bürgern besser. Heute kämpfen in Duisburg und Leer die Menschen nach wie vor mit ihrer Dauerarbeitslosigkeit und schämen sich ihrer Armut. Sie leiden unter der Neuen Armut, von der Heiner Geißler vor ein paar Jahren sagte, sie sei „der größte aufgelegte sozialdemokratische Schwindel der Nachkriegszeit“.
„Normale“ Löhne
Zu dieser Neuen Armut aus den achtziger Jahren kommt nun die neue Neue Armut der Neunziger hinzu – die Armut der Kleinverdiener, deren minimale Finanzen in den wirtschaftlich swingenden, teuren Ballungszentren kollabieren. Das ist dann die total versteckte Armut: Menschen hausen, etwa im geldigen München, der Stadt mit den weltweit meisten Cabriolets, mit ein paar hundert Mark im Monat unter unwürdigen Umständen. Und tauchen in keiner Statistik auf, sie haben ja schließlich Arbeit, alles ist „normal“.
So wie es für ein rundes Dutzend Jahre für Eberhard Langenbeck, 43, normal war, in München zu jobben, dann arbeitslos auf der Straße zu sitzen, aus Verzweiflung zu trinken, weil das minimale Geld seiner Jobs für ihn, seine Frau und die fünf Kinder nicht reichte. Bis er als Penner auf dem U-Bahn-Schacht schlief. Selbst schuld? Vielleicht ja, sagt er selbst. Aber man rutscht eben leicht ganz ab, wenn es vorne und hinten nicht reicht, obwohl man immer wieder schuftet.
Langenbeck konnte sich in den vergangenen zwei Jahren nur hochrappeln, weil ihm die Caritas in ihrem Münchner Langzeitarbeitslosenprojekt „Weißer Rabe“ eine Chance gab. Dort werden alle möglichen Geräte zwecks Recycling fachgerecht zerlegt, und Langenbeck ist dafür nun der Werkstattchef. „Ich hatte Glück“, sagt Langenbeck.
Die Schere zwischen arm und reich klafft immer weiter auseinander. „Man muss wirklich sagen, die Gewerkschaften haben diese Entwicklung zur Zwei-Drittel-/Ein-Drittel-Gesellschaft als erste erkannt“, sagt in Nürnberg Günther Dehn, Pressesprecher des Diakonischen Werkes Bayern.
Dabei waren die Zeichen in den achtziger Jahren kaum übersehbar. Armutsprobleme wurden einfach wegdefiniert. Es fing mit dem Abbau sozialstaatlicher Leistungen an. Die Anspruchsvoraussetzungen auf Arbeitslosengeld wurden verschärft, Arbeitslosengeld und -hilfe wurden beschnitten, die Rentenanpassung verschoben, Ausbildungsförderungen gekürzt, die Rezeptgebühr erhöht.
In letzter Zeit kam die Gesundheitsreform dazu, die chronisch Kranke und Behinderte böse belastet, und die Sparbeschlüsse der neunten Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes. Eine großzügige Verteilung von Tickets für die Fahrt in die Armut.
„Normale“ Rente
Anke Fuchs, Bundesgeschäftsführerin der SPD, erhielt dieser Tage den verzweifelten Brief eines Rentners. Er schrieb: „Ich lebe mit meiner Frau und erhalte an Rente netto 1.466 Mark. Ausgaben: 825 Mark für Miete, 70 für Strom und Wasser, 50 für Telefon, 26 für Zeitung, 19 für Fernsehen, bleiben zum Leben ganze 476 Mark. Jetzt aber kommt der große Knall. Ich muss nach dem Pfändungsgesetz von dieser Summe nun noch 244 Mark abtreten. Mir verbleiben zum Leben ganze 232 Mark. So geht das Leben nicht mehr weiter. Das ist für die BRD eine Schweinerei sondergleichen.“
Dr. Ulrich Schneider, Referent für Sozialpolitik beim Gesamtverband des Paritätischen Wohlfahrtsverbands in Frankfurt, sagt: „Es geht um Verteilungsprobleme. Wenn es zu viele Arme gibt, muss denen jemand was weggenommen haben. Wir dürfen nicht soviel über Armut reden, wir müssen auch über Reichtum reden.“
Irgendwie scheinen die im Bonner Bermuda-Dreieck solche Forderungen ganz auf ihre eigene Weise zu verstehen. Sie reden tatsächlich nie von Armut, verleugnen sie, reden nur vom Reichtum. Vielleicht lesen die einfach nur die falschen Unterlagen. Zum Beispiel die „Bunte“. Die hatte am 13. September eine fette Schlagzeile auf dem Titel: „Vom Würstchenverkäufer bis zum Bordellbesitzer – Deutschland, Land der Millionäre“.
Stefan Esser
Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 19 vom 21. September 1990, 12 f.