Materialien 1990

„Zuviel Fassade bei uns“

Dr. Christian Schmierer, 46, ist in der Caritas München Abteilungsleiter für ambulante soziale Dienste.

METALL: Bleiben Arme auch deshalb arm, weil Sozialpolitik das Mauerblümchen der Politik ist?

Schmierer: Das Problem ist tatsächlich, dass Sozialpolitik keine Lobby hat, weil sie kein Geld bringt. In der Wirtschafts- oder Verkehrsplanung ist das anders. Es ist Zeit, dass Sozialpolitik in das Denken des wirtschaftlichen Kreislaufes einbezogen wird. Man darf Sozialpolitik künftig nicht nur unter konsumptiven Aspekten sehen. Vielmehr müssen wir daran denken, dass ganze Strukturen in Ballungsräumen zusammenbrechen werden, wenn da nur noch hochbezahlte Spezialisten der Wirtschaft leben, der wenig verdienende Dienstleistungsbereich dagegen ganz aus den Städten vertrieben wird.

METALL: Sie meinen, weil selbst diese in Arbeit stehenden Menschen sonst im Ballungsgebiet verarmen?

Schmierer: Ja, in München reicht bei vielen das Arbeitseinkommen heute schon nicht mehr aus, angesichts der horrenden Mieten. Die Löhne in niedrigen Vergütungsgruppen bringen die Leute da unter die Sozialhilfegrenze, da müsste auch mal die ÖTV härter auftreten. Ich meine, dass man eine Mindesteinkommens-Garantie für besonders betroffene Gruppen wie alleinerziehende Mütter zumindest endlich mal andenken sollte.

METALL: Ehrlichkeit ist hier nicht angesagt, viele tun so, als gebe es keine Armut in der BRD.

Schmierer: Wir haben in unserer Gesellschaft immer mehr Fassade. Egal welche Partei, man verkauft lieber die guten, glänzenden Seiten einer Stadt. Dabei ist im furchtbar reichen München jeder zweite verschuldet. Aber ich hoffe nach wie vor auf ein Umdenken in der Sozialpolitik.


Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 19 vom 21. September 1990, 13.

Überraschung

Jahr: 1990
Bereich: Armut